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Erzählkünstler
Erzählkünstler
Author: Volker Drüke
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© Die hier vorgestellten Werke sind sämtlich gemeinfrei. Die Autorinnen und Autoren sind seit mindestens 70 Jahren verstorben.
Description
In diesem Podcast werden regelmäßig vorgelesene Novellen und Erzählungen präsentiert. Es geht also um Literatur, aus urheberrechtlichen Gründen um jene vergangener Jahrhunderte. Die Texte wurden meist von Schauspielerinnen und Schauspielern eingelesen, und das, was zu hören ist, befindet sich auf professionellem Niveau. Zunächst jeden Dienstag, ab März 2024 jeden zweiten Dienstag gibt es Neues aus der reichhaltigen und vielfältigen Welt der Literatur. Ein Erlebnis für alle, die sich gerne etwas vorlesen lassen.
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Ach, Kafka! Was ist das denn schon wieder für ein Meisterstück!? Arbeiterliteratur der anderen Art? Ging es in jener der 1960er- und 70er-Jahre stets um die harte Realität der werktätigen Bevölkerung, machst du das alles natürlich ganz anders. Obwohl hier, in „Ein Besuch im Bergwerk“, anfangs, im ersten Satz, alles noch seine Ordnung hat. Die Hierarchie eines Bergwerk-Unternehmens vergangener Tage wird zwar unauffällig, doch klar dargestellt. Im zweiten geht es noch eine Hierarchiestufe höher, erwähnt werden eben nicht – wie zuvor – die Ingenieure der Zwischenstufe und die Stollenarbeiter auf der buchstäblich untersten Ebene, sondern die Direktoren. Doch dann wirbelt der scheinbar unscheinbare Text gewohnte Ordnungen und Kategorien durcheinander und wird so zu einer ästhetischen Sensation. Denn es ist offenbar einer der Arbeiter, der hier erzählt, der alle Bergwerksbesucher aus der Ingenieur-Ebene präzise beschreibt, deren Verbindungen und Abhängigkeitsverhältnisse scharf beleuchtet und Vermutungen darüber anstellt, wer in welcher Beziehung zu wieder anderen steht, welche Funktion dieser oder jener auf den höheren Etagen möglicherweise auszuüben pflegt – und das mit einem Selbstverständnis, das wir angesichts der hierarchischen Verhältnisse nicht vermuten würden. Der wohl jüngste Mitarbeiter schiebe, so lesen wir, „eine Art Kinderwagen, in welchem die Messapparate liegen“, vor sich her, so kostbar, dass sie „tief in zarteste Watte eingelegt“ sind. Der Wagenschieber kenne die Funktion der Geräte nicht, ein anderer aber verstehe „offenbar die Apparate von Grund aus und scheint ihr eigentlicher Verwahrer zu sein. Von Zeit zu Zeit nimmt er (...) einen Bestandteil der Apparate heraus, blickt hindurch, schraubt auf oder zu, schüttelt und beklopft, hält ans Ohr und horcht“. Und dann ist da noch der unbeschäftigte Diener, der jenen Hochmut, den die Herren Ingenieure längst abgelegt haben, „in sich aufgesammelt zu haben“ scheint. Und so weiter. Auf diesem Sprachniveau wird hier erzählt. So souverän, so gekonnt, so komisch im eigentlichen Sinne werden Miniatur-Porträts der Gäste geboten. Dies ist also keine Arbeiterliteratur, es geht nicht um das Werken unten im Stollen – es geht um die ungewohnten Gäste dort. All die Beschreibungen des erzählenden Arbeiters – oder sollten wir besser sagen: des arbeitenden Erzählers? – sind verfasst in einer sehr eigenen, einer deutlich literarischen Sprache, mit dosiert und präzise eingesetztem Humor und gewagten Querverbindungsideen bezüglich der Figuren, welche die Gäste ja nun geworden sind. Um so selbstbewusst erzählen zu können, muss ein Geschichtenerzähler schon sehr geübt sein. Er tarnt sich hier als dokumentarisch schreibender, berichterstattender Bergmann – so, als wäre er gar nicht der Schriftsteller, der er aber nun einmal eindeutig ist: ein moderner literarischer Erzähler im Gewand des Stollenarbeiters oder im Arbeitsanzug des Bergwerkers, jedenfalls einer, der im falschen Kostüm steckt.
Womit wir natürlich, liebe Leserinnen und Leser dieser Zeilen, beim wirklichen Autor und seiner Lebenssituation sind, beim dichtenden Versicherungsangestellten in Prag. Doch das ist eine ganz andere, biographische Geschichte. Die, die wir heute mit großer Überzeugung und Begeisterung präsentieren, ist ein aus den Tiefen der Erde bzw. Literaturgeschichte geborgener Erzählschatz, zuerst im Jahr 1920 erschienen und mehr als 100 Jahre später vorgelesen von Volker Drüke.
Als Leserin und Hörer sollten wir misstrauisch sein, wenn in einem literarischen Werk von einer „wahren Geschichte“ die Rede ist. Denn Dichter heißen ja so, weil sie ein Geschehen – ob wirklich stattgefunden oder frei erfunden – zu verdichten und auch zu erdichten wissen. Wertvolle künstlerische Texte sind alles andere als etwa Abbildung dessen, was allgemein Wirklichkeit, Wahrheit oder Realität genannt wird, auch wenn in unseren Tagen überall in der westlichen Welt Autofiktionen, Memoirs usw. veröffentlicht werden. In der andersartigen Literatur, also jener Kunst des Erzählens, in der auch gewöhnliche Ereignisse zu aufregenden Geschichten gestaltet werden, wird höchstens so getan, als hätte sich das Dargestellte tatsächlich ereignet.
So auch in „Der Auftrag“ von Honoré de Balzac. Mitten im Todeskampf, so hören wir, wird ein adeliger Mann „von dem Gedanken an den Schrecken gepeinigt, der seiner Geliebten eingejagt werden würde, wenn sie seinen Tod plötzlich aus der Zeitung erführe“. Ein Zeichen der Liebe, der Zuneigung, der Rücksichtnahme, vor allem, wenn wir bedenken, dass sich dies im Kopf eines Sterbenden abspielt, in der finalen Zeit, in der ein gewisser Egoismus ja durchaus verständlich wäre. Doch hier ist es anders. Und so wird der Begleiter des Sterbenden zum Kurier seiner Botschaft an die Geliebte. Der Überlebende erzählt davon, wie er sein Ziel zu erreichen, seinen Auftrag zu erfüllen versucht und welche Emotionen diesen Weg begleiten. Er wird dadurch zum Erzähler. Und er wird vor landadeliger Kulisse zu einem äußerst diplomatischen Handeln gezwungen. Denn die Frau ist verheiratet! Der Bote wird Zeuge extrem unterschiedlicher Reaktionen auf die Nachricht. Diese und die „Geheimnisse dieser Ehe“ kennenzulernen, ist auch fast 200 Jahre nach dem Erscheinungsjahr der Geschichte noch immer bewegend. Sie war Teil des großen Balzac-Erzählprojekts „La Comédie humaine“ (Die menschliche Komödie) und erschien zuerst im Jahr 1836.
Es liegt nahe, hier zu schreiben: Heute geht es um die Wurst! Das stimmt zwar, ist aber doch zu albern. Daher nochmal von vorne:
Es war einmal eine Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat (frei nach Peter Handke). Oder doch nicht? Doch nur im Märchen? Johann Peter Hebel jedenfalls war ein Pfarrer und Autor in der romantischen Märchenzeit und schrieb volkstümliche Geschichten, die er 1811 in einem Bauernkalender versammelte. Darin veröffentlichte er u.a. „Drei Wünsche“, einen Text, der zu einem Klassiker wurde und in dem es eben ums Wünschen geht. Zugleich spielt ein wirklich sehr gewöhnliches, literarisch aber ungewöhnliches Objekt eine bedeutende Rolle: die Bratwurst – ob mit Senf, ist nicht übermittelt (Ketchup gab’s im deutschsprachigen Kulturraum noch nicht). Und dann ist da noch ein Feenbesuch – der ist entscheidend.
Das Ehepaar, das die Fee trifft, hat drei Wünsche frei und acht Tage Zeit, sich was zu überlegen. Das macht die beiden nervös, sie sprechen und handeln nun erst recht unbedacht. Bald geht es nur noch um die Wurst, die Bratwurst halt, die schließlich wie ein „Husarenschnauzbart“ unter der Nase der Frau hängt. Aus dem Plan einer möglicherweise zukunftsweisenden Wunscherfüllung wird nichts. Nichts als eine Bratwurst, die mal da ist, mal dort und schließlich wieder weg.
Kalendergeschichten waren in längst vergangenen Zeiten durchaus in Mode und wichtig zur „Volkserziehung“. Literatur als Lehrmeisterin. So war das einmal. Und wer weiß? Vielleicht hat das Wünschen ja wirklich mal geholfen. In diesem kleinen Werk lässt es die Protagonisten jedenfalls ratlos zurück. Es liest Volker Drüke.
Die Literatur bietet Autorinnen und Autoren ein Feld für Ideen, Vorstellungen, Phantasien, die so wild oder verrückt und außergewöhnlich sein können, dass sie sie eben nur dort, auf diesem Feld, artikulieren können. Gerade in jungen Jahren wird gerne etwas ausprobiert, und das auch von Schriftstellerinnen, von denen die Leserschaft das überhaupt nicht erwarten würde. So hat Jane Austen in ihrem Frühwerk Texte geschrieben, die man/frau ihr nicht zugetraut hätte. So porträtiert sie in „Henry und Eliza“ eine Frau und beschreibt ihre Sozialisation in einer unerhörten Geschwindigkeit. Und immer wieder geschieht Eliza etwas Ungeheuerliches, was wohl auch mit ihr selbst zusammenhängt. Denn Eliza ist ein wundersames Wesen. Scheinbar ein Findelkind – das wird am Ende der Erzählung infrage gestellt –, kann sie bereits mit gerade mal drei Monaten sprechen. Und wird aufgenommen von englischen Adeligen – das ist ja mal ein sozialer Aufstieg! Doch sie passt nicht so ganz in die neue Umgebung, sie stiehlt – und wird vertrieben, und nun beginnt Elizas eigentlicher Aufbruch in die Welt, mit märchenhaften Zufällen und Auf- und Abstiegen, wie wir sie von Entwicklungsromanen kennen, die Jane Austen in späteren Jahren ja auch schrieb, mit denen sie berühmt wurde. Doch hier, in dieser Erzählung, geht alles extrem schnell. Szene folgt auf Szene, und manche ist deftig, derb und komisch im buchstäblichen Sinne. Etwa wenn Eliza bemerkt, dass ihre Kinder Hunger leiden, und dies „an dem Umstand, dass (sie) zwei ihrer Finger abbissen“! Das erinnert aus heutiger Sicht an Splatter-Szenen in Filmen, die erst 200 Jahre später entstanden. Jedenfalls geht das Ganze gut aus, Eliza kehrt zurück in die aristokratischen Gefilde. Und Henry, der Vater ihrer Kinder und im Titel immerhin an erster Stelle genannt? Ist da längst verstorben. Eliza aber, Eliza geht ihren Weg.
Jane Austen hatte einen großen Einfluss auf die europäische Erzählliteratur im 19. Jahrhundert, insbesondere in Großbritannien, und schrieb diese Erzählung als junge Frau im Jahr 1790. Die Übersetzung von Melanie Walz liest für uns Monika Drüke, und das auf eine Weise, welche die unwahrscheinlichsten Fügungen wie selbstverständlich wirken lassen.
Eile, große Eile. Die Zeit wird knapp bis zum Treffen. Radfahrer, die den Lauf stören, Autos, die den Weg versperren. Großstadtgetümmel. Der Beginn der Erzählung „Die Begegnung mit dem Toten“ wirkt realistisch, ist aber pseudo-realistisch, wie wir bald bemerken. Denn nichts des anfangs Beschriebenen scheint im Verlauf der Geschichte verlässliche Erzählwirklichkeit zu sein. Wir Leserinnen und Hörer werden in einen so geschickt gebildeten Sog gezogen, dass wir lange glauben, es handle sich um eine Geschichte im üblichen Sinne. Doch dann ist es plötzlich vorbei damit. Es setzt etwas Neues ein. Ein Traum, ein Tagtraum, ein subjektives Sich-Herauslösen aus der objektiven Realität. Was dann folgt, ist ein surrealistisch anmutendes Gespräch zweier Leute, die einander zu kennen scheinen, doch jahrelang nicht gesehen haben. Dieses Treffen des Erzählers mit dem Toten, der „Gestalt“, die den Tod repräsentiert und symbolisiert, war offenbar geplant, ja von Beginn an das Ziel des ganzen Gehens, Geschehens gewesen. Dann wiederum wird das Sich-Lösen des Erzählers aus der äußeren Wirklichkeit ersetzt durch die Rückbindung an dieselbe – die Erzählung setzt da wieder an, wo sie schon einmal war, doch die Umgebung hat sich verändert, der Eingang des Buchladens, vor dem der Erzähler einst stand, ist vermauert. Was ist das alles? Eine Nahtoderfahrung? Oder eine Imagination, letztlich provoziert von dem „endlosen Begräbniszug“, von dem zu Beginn zu lesen ist?
Literatur muss nicht ausgedeutet werden, sie wirkt in Szenen, die uns in Erinnerung bleiben. Und all diese Szenen erzeugen, wenn sehr gute Schriftsteller am Werk sind, ein Geflecht, ein Gewebe, das alle Szenen zusammenhält und die Gesamtwirkung überhaupt erst hervorbringt. In „Die Begegnung mit dem Toten“ wirken die Erzählteile nie wie auseinandergerissen und dann banal wieder zusammengepappt, sondern einheitlich. Und keine Szene in diesem Werk wirkt künstlich, falsch, gewollt oder gemacht. Stattdessen sehr bildhaft, so als wären wir dabei. Dies geht auf die Fähigkeiten des Autors Rudolf Borchardt zurück, seine Sprache, seinen Stil, sein Erzählvermögen, das eben eine sehr spezielle Atmosphäre entstehen lässt. Der Text entstand im Jahr 1928 und wird hier gelesen von Volker Drüke.
Ach, all diese Selbstmorde in der Literatur! Goethes Werther und Flauberts Madame Bovary sind zwei sehr berühmt gewordene Suizid-Figuren, viele weitere folgten: Baudelaire (vgl. "Der Strick" in diesem Podcast), Fontane, Hamsun, Hesse, Thomas Mann bis hin zu Bernhard, Handke und Julian Barnes in unserer Zeit schrieben über ausweglose Situationen solch unglücklicher Menschen. Und noch viele mehr. Längst nicht so bekannt wie die Werke dieser Autoren ist „Das Mädchen von Arles“, und auch sein Autor – Alphonse Daudet – gehört nicht zum Kreis der berühmt gewordenen Schriftsteller. Daudet lässt hier einen Knecht, den der Erzähler an einem wie verlassen wirkenden, aber wohl noch bewohnten Haus trifft, die Geschichte um den 20-jährigen Jan erzählen – verliebt in eine Frau, die sich mit „Samt und Spitze“ schmückt und anderen offenbar nicht geheuer ist; sie gilt als „kokett“ und als „liederliche Person“. Jemand streut Gerüchte über sie, erzählt Jans Vater von einer stattgehabten eigenen Beziehung zu ihr. Der Vater spricht mit seinem Sohn, und dann soll erst einmal Schluss sein mit der Schwärmerei!! Doch Jan liebt sie noch immer: „Es wird mein Tod sein, wenn ich sie nicht bekomme.“ Die Absolutheit der Jugend. Und seine Mutter? Sie verspricht „mit nassen Augen“: „Höre, Jan, wenn du sie trotz allem willst, werden wir sie dir geben ...“ Was für ein mütterliches Versprechen! Der Vater ist entsetzt, Jan wirkt fröhlich, spielt „den Lustigen“ für die Eltern, worauf der Vater meint, der Junge sei nun „geheilt“. Die Mutter aber weiß natürlich mehr über den Sohn. Väter gelten in der Literatur des 19. Jahrhunderts meist als rüde, grob, gefühllos, Mütter eher als die verstehenden, emotionalen, empathischen Begleiterinnen ihrer Kinder. Jans Mutter kämpft unentwegt um das Leben des Sohnes. Vergeblich. Sie hört schließlich nur noch den Aufprall seines Körpers nach dem Sprung aus dem Fenster.
Wenn Kinder vor den Eltern sterben, wirkt es auf diese unnatürlich, wie dem eigentlichen Lauf der Dinge entgegengesetzt. Wenn ein Kind freiwillig aus dem Leben scheidet, kommen die Eltern erst einmal gar nicht auf solche Gedanken. Der Schock, das Leiden, das Trauma der Überlebenden, vielleicht auch ein Schuldgefühl, das sich dazugesellt, prägen das weitere Leben. Jans Vater trägt denn auch die Kleider des Verstorbenen, die Mutter geht seitdem täglich in die Messe. Das Schlussbild dieser Erzählung zitiert die in der Kunstgeschichte seit dem 14. Jahrhundert legendäre Pietà, die Schmerzensmutter, die ihren verstorbenen Sohn auf dem Schoß oder in den Armen hält. In den berühmten Skulpturen und Bildern heißen die Figuren Maria und Jesus – hier ist es die Mutter mit ihrem Jan.
Die Erzählung erschien 1866. Es liest für uns Annette Hoppe, und das sehr einfühlsam.
Henry James gilt international als einer der erzähl- und psychologisch raffiniertesten englischsprachigen Autoren des späten 19. Jahrhunderts. Deutsche Verlage jedoch geben Novellensammlungen heraus, die Titel wie „Gespenstergeschichten“ tragen – was die Erzählungen banaler wirken lässt als sie sind. James ist kein Unterhaltungsschriftsteller! Woanders ist die Rede davon, dass James Klatschgeschichten auf hohem Niveau geschrieben hätte. Und ja, dieser Autor verwendet ab und an solche Geschichten, doch es geht ihm im Grunde um etwas ganz anderes: um die Psychologie des zwischenmenschlichen Geschehens und die des Erzählens.
In seiner Literatur kann es dann auch mal sein, dass ein Erzähler erst einmal eben nicht erzählt, was geschehen ist zwischen zwei Menschen/Figuren, sondern davon, unter welchen Umständen er sich selbst für die Vermeidung der „Enthüllung“ der Beziehung der beiden entschied. Zunächst ist in „Der Weg der Pflicht“ also gar nichts zu erfahren über die ganze Sache, um die sich eigentlich alles drehen sollte. Ob die Geschichte, für die sich zwei neugierige Damen so sehr interessieren, gut angeht und ausgeht, ob die beiden Figuren zusammenkommen, ob das überhaupt möglich war ... Das erfahren die Leser und Hörerinnen, wenn überhaupt, erst in späteren Kapiteln.
Heute veröffentlichen wir das erste Kapitel der ganzen Geschichte, einen hochgradig selbstreflexiven Text, der für sich steht. Es ist ein Werk rund ums Zögern, um die Vermeidung – und die Gründe für das Zögern und das Vermeiden des Erzählens. Ein Text, der sich selbst zu begleiten scheint, der seine Entstehung zu erklären versucht, aber eben doch nicht so ganz. Ein Spiel mit dem Leser und der Hörerin. So war das in der Blütezeit der modernen Literatur: Nicht immer, aber sehr häufig dreht sie sich auch um sich selbst und ihre Wirkung auf das Publikum. Und hier, in James’ beeindruckendem Text, finden wir ein überragendes Beispiel für jene Werke am Ende des 19. Jahrhunderts, die den Weg bahnten für die Jahrzehnte später einsetzende neue Literatur-Ästhetik, deren berühmteste Vertreter Marcel Proust, James Joyce und Franz Kafka sind. Deren Vorläufer Henry James schrieb „Der Weg der Pflicht“ im Jahr 1884. Ingrid Rein übersetzte das Werk hervorragend ins Deutsche. Es liest Markus von Hagen.
In der Medizin spricht man von einem multifaktoriellen Geschehen, wenn es um die Ursachen einer Störung geht. Immer seltener gehen die Forscher von einem einzigen Grund aus, sie sehen eher ein biopsychosoziales Ursachenbündel am Werk, insbesondere bei psychischen Erkrankungen. In der Literatur des 19. Jahrhunderts war das anders. Da werden Figuren von einem Moment auf den nächsten „wahnsinnig“, „verlieren den Verstand“ oder sind nicht mehr erreichbar. Auch in Wilhelm Raabes Erzählung „Im Siegeskranze“ aus dem Jahr 1866 gibt es diesen einen Augenblick, der das Leben einer Frau völlig ruiniert, der sie verändert und von nun an verrückt werden lässt, verrückt vom eigenen Zentrum, aus der inneren Balance geraten. Ludowike heißt sie, und sie ahnte ihr Schicksal schon. Sie schrieb einen Trostbrief an den Vater ihres Bräutigams, als sie vom Tod des Geliebten erfuhr. Gefallen im Befreiungskrieg gegen napoleonische Truppen. Ab diesem einen Moment ist sie eine andere. Sie kehrt sich völlig in sich selbst, wie verkapselt, niemand kann sich ihr nähern. Und es ist kein Zufall, dass von diesem Ereignis ziemlich genau in der Mitte des Textes erzählt wird. Raabe war ein Autor, der sehr viel Wert auf die Gestaltung seiner Werke legte. Und seine Sprache, Symbole, Augenblicks- und Szenenbeschreibungen präzise einsetzte. So auch, wenn wir erfahren, dass die Nachricht vom Tod des Geliebten für Ludowike zugleich Sprachverlust und Schreibverlust bedeutete: „Die Schwester hat schön geschrieben wie der beste Schreibmeister, und ihre Gedanken konnte sie mit der Feder so trefflich hinstellen, dass keiner es besser machen konnte.“ Doch dann, als die Todesnachricht sie erreicht, wird der Brief, den sie verfasste, „mit einem Mal irr“ – „wie die, welche ihn schrieb“.
Erzählen lässt Wilhelm Raabe dieses Familiengeheimnis und vieles drumherum von Ludowikes Schwester, die Zeugin des Geschehens gewesen war. Sie erzählt es der eigenen Tochter – und uns. Anders als Ludowike hat sie ihre Erzählstimme keineswegs verloren, im Gegenteil: Wilhelm Raabe verleiht ihr eine ganz eigene poetische Sprache. Und so traurig, mitleiderregend die Geschichte ist – an keiner Stelle spüren wir banale Sentimentalität. Es liest – ebenfalls unsentimental – Carola von Seckendorff.
Folgte man dem Prinzip der aktuell gängigen Literaturbetrachtung, dem zufolge der Erzähler gar nicht vom Autor zu trennen ist, stammt der hier heute vorgestellte Text ja wohl von einem psychisch gestörten Menschen. Das Ganze wirkt – so gesehen – wie eine Derealisation des Autors, die auf eine dissoziative Persönlichkeitsstörung hinweist, die ihrerseits möglicherweise auf einem Trauma basiert, wahrscheinlich in der Kindheit erfahren. Der Erzähler entfernt sich in einer belastenden Situation von der Realität, kann bald die Fiktion nicht mehr von Realem lösen, er gerät in eine Art Rausch, in dem ihm alles durcheinandergerät.
Doch es ist in der Literatur natürlich ganz anders: Franz Kafka war nicht persönlichkeitsgestört, sondern verfügte über das, was bereits Goethe als wesentlichen Antrieb der Schriftstellerinnen und Schriftsteller bezeichnete: Einbildungskraft. Hinzu kommen das Erzählen-Können und eine große Lust am Schreiben, die Kafka auch mal als Wollust bezeichnete. Diese ist in „Bis zur Dämmerung“ fast spürbar, so fiebrig, ja fast ekstatisch wirkt der Erzähler selbst. Er scheint vollkommen im Erzählten enthalten, es gibt scheinbar keine Distanz.
Kafka erweist sich wieder einmal als ein Autor, der wie selbstverständlich Erhabenes mit Banalem, Bodenständigem verknüpft. Die Erscheinung eines Engels löst sich auf in der Erkenntnis, dass es dann doch kein „lebendiger Engel“ war, der das ganze Chaos provozierte, sondern „eine bemalte Holzfigur von einem Schiffsschnabel, wie sie in Matrosenkneipen an der Decke hängen. Nichts weiter.“ Die katastrophische, ja mindestens beunruhigende Zerstörung der Heimstätte, der eigenen Wohnung hat nie stattgefunden. Der Text ist eines der starken unbekannten Werke dieses Autors, trägt hier zum ersten Mal einen Titel und wird präsentiert von Volker Drüke. Franz Kafka schrieb ihn am 25. Juni 1914 in sein Tagebuch.
Satzzeichen hört man nicht. Das ist schade. Denn die Novelle, die wir heute präsentieren, enthält den berühmtesten Gedankenstrich der deutschsprachigen Literatur. Und was er ersetzt, wofür er steht, ist etwas Abscheuliches: die Vergewaltigung einer Frau. Erzählt wird darüber nicht, jedoch davon, wie es dazu kam und was das alles bedeutet für die Marquise von O.... Verstoßen von den Eltern, die ihr nicht glauben, sich an nichts zu erinnern, veröffentlicht sie eine Zeitungsannonce, in der sie ihre Schwangerschaft bekanntmacht – und auch, dass sie den werdenden Vater „aus Familienrücksichten“ heiraten würde. Den Vergewaltiger! Den sie nicht kennt! Nach einigen Wirrungen taucht er auf. Was das in ihr, bei den Eltern, bei allen irgendwie Beteiligten hervorruft, ist an einigen Textstellen überraschend. Heinrich von Kleist ist ein Autor, der in seinen Prosawerken einer eigenen, sehr am Individuum und an der Emotionskultur der Empfindsamkeit orientierten Psychologie folgt – das wirkt manchmal verwirrend. Nahezu jede Szene ist dramatisch. Und Kleist schreibt radikal, exzentrisch. Die Wirkung all dessen ist immens. Selten in der Literatur begegnen wir einer solchen Erzähldichte und Gefühlsintensität, ohne dass das Ganze lächerlich oder kitschig wirkt. Das in „Die Marquise von O....“ Erzählte ist von alldem jedenfalls das Gegenteil: Es ist komplex und – entsetzlich! Zugleich ästhetisch schön.
Es gibt in diesem Text noch ein weiteres wichtiges nicht hörbares Satzzeichen, und auch dieses repräsentiert ganz Wesentliches im Leben der Marquise. Ihrem Bruder, der ihr im Auftrag des gemeinsamen Vaters die Kinder wegnehmen will, erwidert sie: „Sag deinem unmenschlichen Vater, dass er kommen und mich niederschießen: nicht aber mir meine Kinder entreißen könne!“ Der eigentümlich gesetzte Doppelpunkt markiert den Trennungsakt vom Vater. Selbst die angedrohte Gewalt – bis hin zur Tötung der scheinbar unzüchtigen Tochter! – lässt sie unerschrocken: Die Kinder bleiben bei ihr. Die Emanzipation vom bislang gesetzgebenden Vater ist längst vollzogen. Daher das Detail „Sag deinem ...“ statt „Sag unserem ...“. Sie fühlt sich nicht mehr als seine Tochter. Und doch wird noch eine lange Versöhnungsszene der beiden wiedergegeben, die Kleist merkwürdig erotisch auflädt. Dieser Autor geht halt immer aufs Ganze. Ein Grenzenüberschreiter, ein Regel- und Tabubrecher.
Sicher nicht nur: aber auch aufgrund dieser Szene sorgte die Novelle nach ihrem Erscheinen im Jahr 1808 für reichlich Protest und Unverständnis. So etwas hatte die Welt noch nicht gelesen. Wir präsentieren eine hervorragende Lesung von Margret Schmidt-John.
Etliche Kafka-Werke spielen in Grenz- oder Schwellengebieten. Die Figuren bleiben dort stecken, hängen fest im Zwischenreich. Es geht einfach nicht weiter. Wir erinnern uns an den Landarzt oder an den Mann vom Lande in „Vor dem Gesetz“, auch an den eigentlich toten, aber dann doch auch lebendigen Mann aus „Der Jäger Gracchus“, an das Zwirnspulen-Wesen Odradek, das sich in „Die Sorge des Hausvaters“ unentwegt in Häusern, aber eben nie in einer Wohnung, sondern stets in Fluren, Kellern, auf Dachböden herumtreibt. Heimatlos wirken diese Figuren, manche suchend, andere scheinen ganz zufrieden mit ihrer Existenz.
In der 1917 erschienenen Erzählung „Eine kaiserliche Botschaft“ verharrt ein Bote in einem solchen Zwischenraum – und somit auch die Botschaft selbst. Die Nachricht des sterbenden Kaisers, der sich diese noch einmal ins Ohr sagen ließ, damit auch ja nichts Falsches übermittelt wird, kann ihren Adressaten nicht erreichen. Der Bote kommt zunächst „leicht vorwärts“, doch er scheitert mitten auf dem Weg. Die Botschaft bleibt auf der Strecke. „Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt.“ So lautet der Schlusssatz.
Es bleibt unklar, wer hier mit „Du“ angesprochen wird. Auch, warum dieser sich die Botschaft erträumt. Hat sich der Typ am Fenster etwa die ganze Geschichte erträumt, ausgedacht? Und was ist das überhaupt für eine Botschaft? Wer ist der Bote? Musste er scheitern? Er hat ja offenbar den falschen Weg genommen. Oder gab es gar keinen anderen? Fragen über Fragen. Alle unbeantwortbar. Doch das ist gleichgültig für all jene Hörerinnen und Hörer, die in der Lage sind, die Atmosphäre dieses Textes zu erspüren, diese faszinierende Kunst-Stimmung, die durch Franz Kafkas einzigartige literarische Sprache entsteht. – Es liest Günther Rohkemper, und das sehr klar und eindrücklich.
Es ist sicher nicht immer ratsam, einen mütterlichen Brief zu lesen, der aus jener Zeit stammt, in der man selbst ein Säugling war. Sicher, es ist möglich, dort Schwärmerisches über sich selbst zu vernehmen, wie süß das Baby sei und wie aufgeweckt es in die Welt schaue. Doch es ist auch nicht ganz unwahrscheinlich, dass dort von einer ständigen Belastung die Rede ist, insbesondere dann, wenn es dabei auch um die Finanzen geht. William Thackeray lässt seinen Erzähler genau das erleben. Es sei seit Beginn seines Lebens „ständig bergab“ gegangen, und er fühle sich „von Missgeschicken aller Art verfolgt“. Was für ein Selbstbild! Immerhin erzählt Billy Stubbs, so heißt der Unglückliche, von all dem. Er schreibt. Vielleicht wird er ja noch als Autor bekannt und schafft es auf diese Weise, seinem Schicksal zu entfliehen und das elterliche Erbe dann doch noch gewissermaßen auszuschlagen – oder ihm auszuweichen.
Thackeray veröffentlichte diesen Text als Eingangskapitel des Buchs „Die verhängnisvollen Stiefel“ im Jahr 1850. Wir veröffentlichen das Werk unter seinem Originaltitel, der wesentlich treffender und schöner ist als in der deutschen Fassung. Es liest Volker Drüke.
Natürlich fragen sich Hörerinnen und Hörer, wie diese seltsame Geschichte um Bartleby, den Anwalt und die Kollegen wohl ausgehen wird. So viel sei verraten: Ungewöhnlich. Eine solche Erzählung muss ungewöhnlich enden.
In der Literatur tummeln sich schräge Figuren: Narren, Schelme, Pechvögel, merkwürdige, randständige Gestalten, die anders sind, weit entfernt vom Normalen und Durchschnitt. Schon das macht sie für Schriftsteller interessant und für Leser und Hörer attraktiv. Auch in diesem Podcast sind wir bereits einigen begegnet: etwa Baudelaires Possenreißer, all den extrem individuellen Tieck-, Hoffmann- und Kafka-Figuren, Büchners Lenz oder auch Jakob, dem armen Spielmann in Grillparzers gleichnamiger Novelle. Wie dieser ist Bartleby in Herman Melvilles Geschichte, die wir heute vorstellen, Schreiber von Beruf, angestellt in einer vom Erzähler geführten Anwaltskanzlei. Und dieser Erzähler widmet sich dem Mitarbeiter wie einem Studienobjekt, er wirkt fast wie ein Anthropologe, der das außergewöhnliche Verhalten seines Angestellten erforscht. Und ja, Bartleby verhält sich merkwürdig, er verweigert bald die Arbeit, ja eigentlich jegliche Tätigkeit – und das mit dem immer gleichen Kommentar „I would prefer not to“ (so im Original) bzw. „Ich möchte lieber nicht“. All die Beobachtungen und genauen, häufig auch sehr komisch wirkenden Beschreibungen des Erzählers, dargebracht in einer klaren literarischen Sprache, helfen ihm selbst nicht, eine Lösung für den Umgang mit dem sonderbaren Mitarbeiter zu finden. Bartleby bleibt rätselhaft, undurchschaubar, unnahbar auch. Für uns Leserinnen/Hörer ist es jedoch schlicht ein Genuss, dieser klaren Erzählsprache zu folgen.
Es ist erstaunlich, dass dieses ästhetisch außerordentlich schöne Werk – zuerst 1853 erschienen – ein ganzes Jahrhundert benötigte, um weltweit beachtet zu werden. Seit „Bartleby, der Schreiber“ aus dem langen Schatten des großen Melville-Romans „Moby Dick“ trat und von der literarischen Öffentlichkeit vielfach beleuchtet wurde, gilt der Text als Meisterwerk der Erzählkunst. Wir präsentieren hier einen ersten Teil (morgen folgt bereits der zweite), dies mit freundlicher Genehmigung der Westdeutschen Blindenhörbücherei in Münster. Es liest Daniel Kasztura.
Friedrich Glauser schrieb diese Erzählung im Jahr 1931. Keine gute Zeit für sensible Kinder. Strenge Autoritäten und steile Hierarchien allüberall. So wird in „Rettung“ denn auch eine rüde, feindselige Umgebung beschrieben, auch zu Hause, wo die arme Mutter durchweg „übellaunig“ und ungerecht ist. Ein Kind, das sich nirgendwo gut aufgehoben fühlt, neigt zu Phantasien, Imaginationen, Träumen. So auch Eva. Mit Menschen kommt sie nicht gut klar – oder sie nicht mit ihr –, immerhin sind da ein Hund und eine Lehrerin, die sie mag. Und die Erinnerung an ihren Vater, der mit ihr am Wochenende am Fluss weilte. Da hatte sie sich gut, frei gefühlt. Der Vater ist seit Jahren tot. Alle anderen Erwachsenen wirken auf sie falsch. Wenn sie sich für sie zu interessieren scheinen, sind sie sicher „falsch interessiert“. Dann, am Ende der Geschichte, als Eva jemandem begegnet, von dem sie sich gesehen fühlt, der Verständnis, ja Empathie zeigt, kann sie es selbst kaum fassen. Sie scheint aus dem Strudel des Sich-gegenseitig-nicht-Verstehens herauszukommen. Es ist eine nicht wertende Begegnung, die ihr guttut – vielleicht ist dies gar ihre Rettung. Der Titel dieser Geschichte legt dies nahe. – Es liest Volker Drüke.
Wir haben hier bislang Werke vieler bedeutender Autorinnen und Autoren veröffentlicht, und es werden noch einige folgen. Welcher Name fehlte – und das fällt dann ja doch auf –, ist Robert Musil. Natürlich können wir sein zentrales Werk „Der Mann ohne Eigenschaften“ nicht aufführen, jenen Roman, der mehr als 1000 Seiten umfasst, jedoch eine kleine Erzählung, die eine erstaunliche Karriere in Deutsch-Kursen an Gymnasien und Gesamtschulen hierzulande machte. Musil gestaltete einen Text, der wie aus der Werbe-Industrie stammend wirkt, und doch gibt es da unentwegt eine andere Ebene in „Das Fliegenpapier“: Die Darstellung der Fliegen-Schicksale wird hier immer wieder mit metaphorischen Vergleichen mit Lebenssituationen von Menschen verknüpft. Und so waren denn auch viele Interpreten sicher, hier einen Text vor sich zu haben, der auf literarische Weise Kriegsleiden und die Ohnmacht der Menschen und so etwas auf allegorische Art darstellt. Musil selbst nannte das, was er geschrieben hatte, jedoch einen „Vorausblick“. „Das Fliegenpapier“ war bereits im Jahr 1913 unter dem Titel „Komischer Sommer“ in einer Zeitschrift erschienen; „und auch die ,Affeninsel‘ stammt aus dieser Zeit, was ich erwähne, weil man diese beiden sonst leicht für erfundene Umschreibungen späterer Zustände halten könnte. In Wahrheit sind sie eher ein Vorausblick gewesen.“
So oder so ist dies ein erstaunlicher Text aus dem frühen 20. Jahrhundert, und wir präsentieren ihn in einer äußerst professionellen Aufnahme. Sarah Giese, Schauspielerin und Sprecherin aus Münster, liest Robert Musils Werk wunderbar klar. So schön in ästhetischem Sinne kann Grauenhaftes sein. Dazu ist nur die Kunst fähig.
Eine Frau und ein Mann. Sie, Leonor, Spanierin, 19 Jahre jung, steckt offenbar in Schwierigkeiten und erzählt von ihrer unglücklichen Vergangenheit. Er, Liéven, hat sie leicht bekleidet und derangiert auf der Straße gefunden, ist armer französischer Leutnant und verehrt sie schnell, findet sie „wunderschön“. Schwört ihr Treue. Ungefragt. Sie erzählt von ihrem Ehemann und von ihrem Liebhaber und macht zugleich deutlich, dass sie ihn, den Leutnant, nicht lieben könne. Leonors Erzählungen haben etwas von einer Beichte, sie selbst nennt sich denn auch eine „Sünderin“. Der Zuhörer wirkt nun aber keineswegs wie jemand, der Vergebung gewährt oder Buße einfordert. Wenn sie erzählt – auch von zwischenmenschlichen Dreieckssituationen, von Betrügereien und Diebstählen –, wächst Liévens Leidenschaft für die Erzählerin Leonor stattdessen mit jedem Satz. Er wird immer verwirrter vor lauter Verliebtsein – in eine Frau, die unentwegt von anderen Männern erzählt und sich selbst „toll, wahnsinnig, pervers“ nennt! Entsteht seine Lust durch den (zumindest verbalen) Kontakt mit dem Verbotenen, Tabulosen?
Was ist das für eine merkwürdige Beziehung?! Es sieht so aus, dass hier zwei extreme Persönlichkeiten aufeinandertreffen, die durchaus zueinander passen. Und ja, es gibt ja manchmal diesen einen Moment, der das Leben zweier Menschen oder literarischer Figuren radikal verändert. So auch hier. Nur nicht gemeinsam. Am Ende stehen Verzicht und Enthaltsamkeit! So war das oft im 19. Jahrhundert.
Der Schriftsteller Stendhal hieß eigentlich Henri Beyle und arbeitete in der napoleonischen Zeit – vor seiner künstlerischen Karriere – in der französischen Verwaltung des Königreichs Westphalen (so schrieb man das einst), später als Konsul in Italien. Als Autor wurde er zu Lebzeiten vor allem durch den Roman „Die Kartause von Parma“ bekannt, nach seinem Tod wurde auch „Rot und Schwarz“ sehr erfolgreich. Die Geschichte „Der Liebestrank“, in sehr klarer Sprache erzählt, erschien erstmals im Jahr 1830 und wird hier gelesen von Thomas Holtzmann.
Die Eingangsbeschreibungen ähneln jenen im modernen Film. Blick folgt auf Blick, Perspektivenwechsel unentwegt, scheinbar unverbunden. Es gibt lange keine rechte Handlung. Nur Szenen. Doch dann treffen Gracchus und der Bürgermeister von Riva aufeinander. Gracchus wirkt zunächst tot. Steht aber auf, scheint zu leben. In Gracchus’ folgenden Erzählungen ist von Treppen die Rede, von einem Boot, Fenstern, Toren, auch von Schmetterlingen, einem Totenhemd, einem Hochzeitskleid – allüberall Symbole des Übergangs und der Verwandlung. Das kennen wir von Kafka, wir denken an die berühmte „Heizer“-Geschichte und auch an „Die Sorge des Hausvaters“ oder „Vor dem Gesetz“ (alle in diesem Podcast). Und doch ist „Der Jäger Gracchus“ eine ganz besondere Erzählung. Eine Art Ultimo-Schwellenerzählung, es geht um den letzten Übergang und die letzte Schwelle. Der Schritt ins Totenreich will dem Jäger einfach nicht gelingen. – Franz Kafka schrieb „Der Jäger Gracchus“ im Jahr 1917. Es liest Volker Drüke.
Achim von Arnim schrieb seine Novelle „Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau“ im Jahr 1818. Die Schauspielerin, Sängerin und Sprecherin Christiane Hagedorn nimmt sich mehr als 200 Jahre später nicht irgendwie des Textes an, nein: Sie verwandelt ihn in ein modernes Hörspiel mit vielen Stimmen und Temperamenten, die allesamt sie selbst übernimmt. Auf der Basis eines Werks, das kaum noch jemand kennt, wird ein modernes Literatur- und Sprechkunst-Stück kreiert, und zwar eines, das seinesgleichen sucht. Ein Meisterwerk. Mehr muss man/frau gar nicht wissen, die Aufnahme spricht für sich. Oder?
Nun, vielleicht ist es als Hintergrund-Info nicht uninteressant, dass der „Wahnsinn“, der in der Geschichte eine wesentliche Rolle spielt, bei von Arnim so komisch, ja lustig wirken darf, weil der Autor weiß, dass die Störung am Ende der Geschichte auch wieder verschwinden wird. Und wirklich wirkt Francoeur wie befreit und plötzlich gutmütig statt argwöhnisch, als der Knochensplitter das Schädelinnere verlässt. Auch nicht uninteressant ist, dass eine solche Verletzung, die Francoeur erlitt und als verantwortlich für sein teils krudes Verhalten – etwa seine arg übersteigerte, krank wirkende Eifersucht – dargestellt wird, ein Individuum wirklich derart beeinflussen kann, dass sein Wesen, sein Charakter, seine Art zu sein völlig umzudrehen imstande ist. In der medizinischen Wissenschaft bekannt geworden ist der Fall eines kriegsverletzten Mannes, der ... – Doch das ist eine ganz andere Geschichte, zurück zu von Arnims.
Was für eine Eröffnungsszene! Unerhört! Zunächst harmlos wirkende Olivenäste im Feuer und Imaginationen von einem großen Feuerwerk. Dann brennt ein Holzbein! Eine Schürze noch dazu! Diese kleine, eher private und ziemlich komische Katastrophe zu Beginn der Novelle und eine drohende große, gesellschaftliche an deren Ende – die durch das Geschick und die Entschlossenheit Rosalies, Francoeurs Frau, vereitelt wird – rahmen das reiche Binnengeschehen ein. Das alles muss man erst einmal unterhaltsam gestalten und erzählen können. Achim von Arnim konnte das. Und Christiane Hagedorn verleiht den Szenen Anschaulichkeit, Bewegung und verhilft dem Text zu der Geltung, die ihm gebührt: dynamisch, dramatisch, derb-komisch, doch dabei durchweg differenziert in Darbietung und Diskurs. Was für eine Erzählkünstlerin! Und was für ein Erzählkünstler! So wird das Hören zu einem echten Erlebnis, zu einem Fest der Literatur.
Philipp Lord Chandos, der fiktive Dichter in diesem Werk, möchte lieber über ein fernes „Hirtenfeuer“ und das letzte Herbst-Zirpen einer „dem Tode nahen Grille“ als über das „majestätische Dröhnen der Orgel“ schreiben. Die kleinen Objekte und alltäglichen Vorgänge liegen ihm. Dann schwebt ihm aber auch ein opulentes Multi-Kunstwerk vor, eine Mischung aus antiker Kunst und italienischer Renaissance, mit Festen, Aufzügen und allem drum und dran. Das schreibt er in einem Brief an Francis Bacon. Und all das, was er sich so vorstellt, wirkt unausgegoren, unfertig, unverträglich für Leser und Hörer. Hofmannsthals Künstler hat die Fähigkeit verloren, sich zu fokussieren, den Faden, der einzelne Ideen zu einem konsistenten Ganzen verbindet. So entsteht ein Wust, es gerät ihm alles durcheinander, so kann kein wirkungsvoller Text, so kann überhaupt kein künstlerisches Werk entstehen. Es bleibt bei Fragmenten und Worten, die „wie modrige Pilze“ zerfallen. Es ergibt nichts Zusammenhängendes.
Vielfach wurde „Ein Brief“ als das Zeugnis einer Schreibkrise des Autors gedeutet. Das Werk belegt indes eindrucksvoll das genaue Gegenteil. Hugo von Hofmannsthal spielt die stets mögliche Krise eines Schriftstellers durch, er lässt auf sprachlichem Wege ablaufen, wie es wohl wäre, wenn er selbst in eine solche geriete. Und er offenbart – gerade mal 28 Jahre jung – seine Erzählkunst in bis dahin ungeahntem Ausmaß. Wort- und assoziationsreich und dabei doch konkret, anschaulich, eben nicht geprägt von einer „Kläglichkeit“ der Beispiele, wie der Text des fiktiven Dichters. Chandos, sein Alter Ego, scheitert als Künstler – Hofmannsthal reüssiert und bleibt stets der Souverän des Erzählten.
Solche Hinweise scheinen inzwischen notwendig – in einer Zeit, in welcher der Literatur-Markt geflutet wird mit autobiographischen und autofiktionalen Titeln und in der die sogenannte literarische Öffentlichkeit immer weniger gewillt oder imstande ist, den Autor vom Erzähler zu trennen. Die Erzählung „Ein Brief“ erschien im Jahr 1902. Viele Jahre später gestaltet Stefan Nàszay daraus ein auch akustisches Ereignis.



