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Author: BetDenkzettel

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BetDenkzettel sind kurze Bet- und Denkanstöße von Fra' Georg Lengerke - in der Regel zu einem Wort aus den Schriftlesungen der Liturgie vom Tag
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Wer bin ich? Das ist vielleicht die existentiellste Frage, die ein Mensch stellen kann. Ich kenne Menschen, die sich besser, und solche, die sich weniger gut kennen. Die sich besser kennen, wissen sowohl um ihre Schwächen als auch um ihre Stärken. Und sie wissen um die Grenzen ihres Wissens von sich selbst. Sie wissen, dass sie mehr sind, als was sie von sich wissen. Wenn es gut geht, lernen sie sich ein Leben lang kennen. Die sich nicht so gut kennen, haben Vorstellungen von sich, die nicht der Wirklichkeit entsprechen. Und an denen sie nicht selten ständig scheitern – zusammen mit ihren Nächsten, die gerne wüssten, mit wem sie es zu tun haben. Die Frage ist heute von besonderer Brisanz, weil es keinen Konsens darüber mehr gibt, was eigentlich die Kriterien meines Selbst-Seins sind. Was ist mir biologisch und biographisch vorgegeben? Was obliegt meiner Wahl und meiner Freiheit, zu entscheiden, einzuüben oder zu entwickeln? Was ist mir andererseits durch fremde Meinung, gesellschaftliche Konvention oder Zuschreibung auferlegt? Und was davon sollte ich annehmen und was zurückweisen und ablegen? Kann ich sein, was ich will? Oder soll ich wollen, was ich bin? Die Frage „Wer bin ich?“ stellt sich jeder Mensch früher oder später. Mit jedem geht sie irgendwie mit. Aber ausdrücklich wird sie nur selten gestellt. An wen sollte man sie auch stellen? Weiß ich nicht selbst am besten, wer ich bin? Nicht unbedingt: Andere kannten mich schon, bevor ich mich kannte. Und vielleicht werden andere mich noch kennen, wenn ich mich selbst nicht mehr kenne. Aber bin ich andererseits nicht oft genug auch verkannt worden? Oder haben mich Menschen nicht manipuliert, bevormundet und ausgenutzt, indem sie allzu genau zu wissen meinten, wer und wie ich bin? Die Offenbarung der Juden und Christen beschreibt den Menschen als Wesen, das sich selbst angesichts eines Anderen kennen und anzunehmen, lieben und hervorzubringen lernt. Nicht, indem er sich narzisstisch im Anderen spiegelt und vor ihm ein Gesicht macht, sondern indem er sich dem Anderen zu erkennen gibt und in der Sicht des Anderen ein Gesicht bekommt. Und das wird nicht nur von der Beziehung von Mensch und Mensch, sondern auch von der Beziehung von Mensch und Gott gesagt. Denn die versichtbart sich in der liebenden Beziehung eines Menschen zu seinem Nächsten. Wir sind, was wir sind, von Gott her, sagt die Schrift. Und wir werden, was wir sind, zu ihm hin. Und das bedeutet ursprünglich gerade nicht Gängelung, Bevormundung und Knechtschaft, sondern Befähigung, Ermächtigung und Freiheit. „Wir heißen Kinder Gottes“, sagt der Erste Johannesbrief, „und wir sind es.“ Ursprünglich war das offensichtlich. Bis zu dem Moment, in dem der Mensch meinte, sich vor Gott in Sicherheit bringen zu sollen, und sich damit auch dem Blick entzog, der ihn vollkommen kennt und liebt. Jetzt ist es verborgen, sagt Johannes. Wer Gott nicht denken kann, kann auch den Menschen nicht von Gott her denken. „Deshalb erkennt die Welt uns nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat.“ Aber einmal wird es offenbar werden. Wer liebt, erkennt den geliebten Anderen. Und wer sich lieben lässt, weiß, wie es ist, erkannt zu werden. Einer liebt und erkennt uns vollkommen. Deshalb sagt Jesus: „Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich.“ Dieses Gekanntwerden hat schon manchen durch tiefe Dunkelheiten geführt. Einer davon ist Dietrich Bonhoeffer. Im Gefängnis beginnt er ein bekanntes Gebet mit unserer Ausgangsfrage: „Wer bin ich?“ Bin ich so, fragt er sich, wie die Leute meinen, dass ich bin? Stark und sicher, mutig und entschieden, frei und vornehm? Oder bin ich so, wie ich mich selbst wahrnehme? Schwach und ängstlich, unverlässlich und unberechenbar, getrieben und richtungslos? „Bin ich dieser oder jener?“, fragt Bonhoeffer zum Schluss und endet vor dem, der ihn allein ganz kennt. „Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott! Amen.“ Fra’ Georg Lengerke
„Ich glaube nicht mehr an Geistergeschichten!“, sagt Elisabeth Turner in „Fluch der Karibik“, als im Mondschein Leben in die Gerippe einer Gruppe toter Piraten kommt. „Ihr solltet aber an Geistergeschichten glauben, Mrs Turner!“ antwortet der untote Piratenfürst Barbossa. „Ihr seid mitten in einer drin!“ So kommt es den Jüngern bei der Begegnung mit dem Auferstandenen vor. Als wären sie in eine Geistergeschichte geraten. Aber nicht in eine erzählte, sondern in eine erlebte. Anders konnten sie sich die Begegnung mit dem Auferstandenen nicht erklären. Im Film klagt der Pirat Barbossa, dass er weder zu den Lebenden noch zu den Toten gehöre, und weder an den Freuden des Lebens noch am Frieden des Todes teilnehmen könne. Und zum Beweis entkorkt er mit den Zähnen eine Weinflasche und trinkt daraus, während der Wein durch das Gerippe auf den Boden plätschert. Jesus bittet um etwas zu essen und isst vor den Augen der Apostel. Er ist kein Geist. Er ist leiblich unter ihnen da. Anders leiblich – verwandelt oder verklärt – wie ihn drei Apostel einige Monate zuvor auf dem Berg gesehen haben. Er geht durch Türen, aber der Fisch, den er isst, fällt nicht zu Boden. Er durchdringt alles, aber nichts durchdringt ihn. Es scheint fast, als sei der Auferstandene die wirklichere Wirklichkeit, verglichen mit den Dingen, die ihn nicht länger daran hindern können, bei den Jüngern zu sein. Die Leiblichkeit des Auferstandenen ist das eine, was die Evangelisten betonen. Aber es geht nicht nur um Leiblichkeit, sondern um Selbigkeit. Um Identität. Um die Identität eines Ausweisträgers mit dem im Dokument Ausgewiesenen zu beweisen, stand bis in die 80ger Jahre hinein in deutschen Reisepässen ein Angabenfeld „Besondere Kennzeichen“. „Blinddarmnarbe“ hätte da bei mir stehen können. Das Feld war aber leer. Weil die Jünger den Auferstandenen nicht erkennen, weist er sich aus. Sein Ausweis sind „besondere Kennzeichen“: die Wundmale an Händen und Füßen. Es sind Wunden, nicht Narben, die die Jünger sehen. Die Goldene Legende (Legenda Aurea, 13. Jh) berichtet, wie sich dem Hl. Martin von Tours eine herrliche Gestalt als der auferstandene Christus ausgibt. Martin entlarvt den Betrug des Versuchers: „Ich werde nicht glauben, Christus sei gekommen, außer ich sehe ihn in der Gestalt, in der gelitten hat, und mit den Wundmalen seiner Kreuzigung.“ Was sagt uns der Ausweis der Wunden? Die Wunden sagen: „Ich bin es!“ Ich bin derselbe, der euch gerufen, den ihr gehört, dem ihr geglaubt habt und dem ihr nachgefolgt seid, der gegeißelt und gekreuzigt wurde, um den ihr getrauert und den ihr aufgegeben habt. Die Wunden sagen: „So seid ihr!“ Weil auch ihr Wunden tragt und verletzt seid – offenbar oder verborgen. Und weil auch ihr Wunden schlagt an Leibern und Seelen – offenbare und verborgene. Die Wunden sagen: „So bin ich!“ Ich halte mein Wort, wie der Vater sein Wort hält. Ich lebe euer Leben mit Euch und mache eure Wunden zu meinen Wunden. Ich lasse mich nicht herauswerfen aus der Welt. Ich bleibe – auch unter den Schlägen der Menschen – und liebe euch durch den Tod hindurch. Und die Wunden sagen: „So wird es sein!“ Der Himmel und die Gemeinschaft mit Gott ist nicht die heile Alternative zur Welt, sondern ihr Ziel. Alles soll einmal vor Gott kommen und dort geheilt, versöhnt und vollendet werden. Ihr braucht euch eurer Wunden nicht zu schämen, sagen uns die Wunden des Auferstandenen. Sie sind eure Erkennungszeichen vor ihm. Vor ein paar Jahren habe ich nach Ostern im Libanon über diese Stelle gepredigt. Um mich lauter schwerstbehinderte Menschen und ihre Begleiter. Vor mir saß der zwölfjährige Toufik – den Kopf voller frischer Wunden. Und ich dachte: Die Auferstehung Jesu ist keine Geistergeschichte. Die Wunden des Auferstandenen sind so real wie die von Toufik. Und deren Heilung, Versöhnung und Vollendung beginnt bereits da, wo wir die Wunden der Menschen berühren, die Jesus zu seinen gemacht hat. Fra’ Georg Lengerke
„Was brauchst du, um jemandem glauben zu können?“, fragt mich die Freundin während ich mit einem befreundeten Ehepaar wandern bin. Wir sprechen über das Evangelium vom Zweifel des Thomas und seine Begegnung mit dem Auferstandenen. Was brauche ich, um glauben zu können? Wir kommen miteinander auf dreierlei: Erstens einen Menschen, den ich für glaubwürdig halte. Zweitens die Heilung meines Misstrauens. Und drittens eine Botschaft, die für mich so relevant ist, dass mir nicht einfach egal sein kann, ob sie wahr ist oder nicht. Dann erzählen wir uns von Menschen, denen wir geglaubt haben. Glaube ist Beziehungssache. Geglaubt habe ich immer jemandem etwas. „Weil du gesehen hast, Thomas, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“, sagt Jesus zum Apostel Thomas. Der hatte den übrigen Aposteln den Bericht über die Begegnung mit dem Auferstandenen acht Tage zuvor nicht geglaubt. Wenn ich mit Menschen über den religiösen Glauben spreche, sind wir schnell bei der Frage, ob wir das Wissen dem Glauben nicht besser vorziehen sollten, und ob das nicht genüge. Etwas wissen im engeren Sinne bedeutet, es selbst gesehen, überprüft und erkannt zu haben. Aber das gilt nur von einem Bruchteil von dem, wovon ich sage, dass ich es weiß. Das meiste, was ich weiß, habe ich anderen geglaubt: Erst den Eltern und Geschwistern, dann Freunden und Lehrern, später Wissenschaftlern und Journalisten. Mein Wissen nährt sich aus einem Beziehungssystem, dass auf der Verpflichtung zur Wahrheit, auf Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit gegründet ist. Wenn wir uns daran in unserem alltäglichen Tun erinnern, dann stellen wir fest, wie zerstörerisch, ja tödlich für den Einzelnen und jede Gemeinschaft die Lüge ist und das von ihr erzeugte Misstrauen, das wiederum Lügen gebiert. Es gibt relative Erkenntnisse der Wahrheit und Perspektiven auf sie. Wer aber die Wahrheits- und Erkenntnisfähigkeit des Menschen per se leugnet, darf sich über Fake-News und „alternative Fakten“ nicht beklagen. „Weil du gesehen hast, glaubst du“, sagt Jesus zu Thomas. Auch die Wahrheit und die Bedeutung des Gesehenen müssen wir glauben, wenn wir es wissen wollen. Dass etwas ist und nicht nur scheint, als ob. Dass Du Du bist und kein anderer. Dass Dein Lächeln Glück oder Freundlichkeit und nicht nur Maske ist. Die Notwendigkeit, uns der Wahrheit anzuvertrauen, nimmt uns keiner ab. Wie sehr wir das getan haben, merken wir oft erst, wenn wir enttäuscht werden. In der Begegnung von Jesus und Thomas geht es nun darum, Unsichtbares und einem Unsichtbaren zu glauben: „Selig, die nicht sehen und doch glauben“, sagt Jesus zu dem zweifelnden Apostel. Auch im Alltag ist übrigens oft das Entscheidende selbst unsichtbar. Geist, Liebe, Glück können wir nicht selbst, sondern nur in Anderem sehen. Und auch unsere Nächsten sind mehr als das, was wir von ihnen sehen und messen können. Wir müssen also zunächst – über das Sichtbare hinaus – unsere(!) Nächsten glauben, bevor wir unseren(!) Nächsten und an unsere Nächsten glauben können. Noch ist der Auferstandene sichtbar. Aber bald wird er an dieser einen Stelle der Welt unsichtbar sein, um nach Pfingsten an allen Orten der Welt geglaubt und erkannt, geliebt und in der Liebe versichtbart zu werden. Wir drei Freunde erzählen einander beim Gehen allerlei Altes und Neues, Ernstes und Spaßiges. Und in allem geht es irgendwie um den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. Und wieder einmal staune ich: Der Auferstandene hat sich unseren Beziehungen anvertraut. Es gibt für uns zu ihm keinen Weg an den Anderen vorbei; und es gibt für ihn zu uns keinen Weg an den Anderen vorbei, wenn der Unsichtbare unter uns erkennbar, wahrnehmbar und in seiner Liebe für uns rettend werden soll. Ich glaube den Freunden die Gegenwart des Auferstandenen unter uns und seine Liebe zu mir, mit der zusammen ich die Menschen lieben darf. Fra' Georg Lengerke
(Deutschlandfunk, Am Sonntagmorgen, Ostersonntag, 31. März 2024) In der vergangenen Nacht hat die Christenheit begonnen, das Osterfest zu feiern. Die letzten Tage waren in vielen Gemeinden davon geprägt, in Gottesdiensten die letzten Stationen im Leben Jesu nachzugehen. Sie haben seinen Einzug nach Jerusalem gefeiert und des letzten Abendmahls gedacht. Sie haben die Berichte von Gefangennahme und Prozess, Hinrichtung und Kreuzestod Jesu gelesen und gestern an seine Grabesruhe erinnert. Die Feier der Osternacht mündete heute dann in den Osterjubel über die Auferstehung Jesu: „Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaft auferstanden. Halleluja.“ In dieser Sendung zum Osterfest möchte ich aus verschiedenen Perspektiven diesen Übergang von der Grabesruhe zum Osterjubel betrachten. Denn beim näheren Hinsehen ist für die Menschen um Jesus die Grabesruhe bereits eine Grabesunruhe. Und das Grab Jesu wird zu der Stelle, an der das Siegesfest des Lebens mit einem Todesschrecken beginnt. 1. Ruhe sanft! Am Ende der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach scheint endlich alles vorbei zu sein. Nach dem Prozess und der Leidensgeschichte bis zum Tod des gekreuzigten Jesus besingt und beweint der Chor den Begrabenen: „Wir setzen uns mit Tränen nieder /Und rufen dir im Grabe zu: / Ruhe sanfte, sanfte ruh!“ Die Grabesruhe Jesu wird in den Tagen vor dem Osterfest eigens begangen. Am Karfreitag wird feierlich und mit verteilten Rollen die Leidensgeschichte Jesu gelesen. Anschließend folgt eine feierliche Kreuzverehrung. Nach dem Gottesdienst ist die Kirche leer und dunkel. Aller Schmuck und jedes Zeichen von Feierlichkeit wird entfernt. Am Karsamstag dann ist alles still. Es werden keine Gottesdienste gefeiert. Die Kirche begeht die Grabesruhe Jesu. Für mich hat die Grabesruhe des Karsamstags immer etwas Ambivalentes. Einerseits empfinde ich ein Aufatmen über das „Es ist vollbracht“, das Jesus am Ende seines Lebens spricht. Ich bin erleichtert, dass die Qual ein Ende hat und möchte einstimmen, wenn am Ende der Matthäuspassion der Chor dem Gestorbenen zuruft: „Mein Jesu, gute Nacht!“ und „Ruhe sanfte, sanfte ruh!“ Andererseits fallen Wunsch und Empfinden nicht selten auseinander, wenn Menschen um einen geliebten Menschen trauern. Die Ruhe, die sie dem Verstorbenen wünschen, stellt sich bei den Trauernden selbst oft lange nicht ein. Der Tod eines lieben Menschen kann uns aufwühlen. Die Liebe sehnt sich nach einem Wiedersehen. Schmerz und Trauer versetzen das Empfinden und Denken in Unruhe. Vor allem dann, wenn es sich um einen plötzlichen oder dramatischen oder gar um einen von anderen Menschen verschuldeten Tod handelt. Und wie sieht es angesichts des Todes eines vertrauten Menschen mit der Frage nach Schuld und Vergebung aus? Wenn er an uns oder wir an ihm schuldig geworden sind, ist mit seinem Tod für uns ja nicht einfach alles vorbei. Habe ich eine Hoffnung und einen Willen, dass auch mein Widersacher Versöhnung und Frieden oder vielleicht sogar unsterbliches Leben findet? Und wie soll Versöhnung geschehen, wenn einer unwiderruflich gegangen und die Zeit zum Gespräch verstrichen ist? (Der restliche Text erscheint in Kürze auf www.betdenkzettel.de. Bereits jetzt ist er in voller Länge hörbar.)
Während meines Theologiestudiums war ich bei Freunden zum Abendessen eingeladen. Sie hatten zwei Töchter von vielleicht 13 und 15 Jahren. Vor dem Essen sagt die Mutter in der Küche: „Die Mädchen haben Dir übrigens einen Spitznamen gegeben.“ „Ach so?“ frage ich amüsiert. „Ja, beim Frühstück sagten sie: Heute Abend kommt die Verschwendung.“ Das war ein liebevoll-spöttisches Kompliment von Teenagerinnen an einen Spätzwanziger, dass dieser nicht bloß aus Mangel an Alternativen Priester werden wollte. Ich gestehe, dass ich damals für ein solches Kompliment nicht unempfänglich war. Aber eigentlich ist „Verschwendung“ kein positiv konnotierter Begriff. Sie besteht in einer unverhältnismäßigen, vergeblichen Ausgabe oder Verausgabung. Sie ist ökologisch, wirtschaftlich oder gesundheitlich nicht zu verantworten. Und sie gehört zur Luxuria, der Wollust, einem der Hauptlaster des klassischen Lasterkataloges. Die Neckerei der Mädchen hatte mich gefreut. Aber sie erinnerte mich zugleich an eine ernste Lebensfrage. War mein Leben nicht vielleicht wirklich eine Verschwendung? Bedeutete die Entscheidung, Priester und nicht Rechtsanwalt zu werden, ein Erbe nicht anzutreten, das Mädchen, das ich lieb hatte, nicht zu heiraten, keine Kinder und keine Familie zu haben, nicht doch eine vergebliche Vergeudung meines Lebens? Hatte ich mein Leben für einen Irrtum, schlimmstenfalls für eine Ideologie und Pfaffenlüge eingesetzt? Später wurden mir solche Fragen von anderen auch weniger freundlich gestellt. Am Beginn der Heiligen Woche wird am Palmsonntag die Leidensgeschichte Jesu gelesen. Vor dessen Ankunft in Jerusalem erzählt Markus von einer Begegnung in Betanien bei der eine Frau (bei Johannes ist es Maria, die Schwester der Freunde Jesu Marta und Lazarus) mit einem Alabastergefäß von „echtem, kostbarem Nardenöl“ an Jesus herantritt und ihm das Haupt salbt. „Wozu diese Verschwendung?“, murren die Jünger Jesu. „Man hätte das Öl um mehr als dreihundert Denáre verkaufen und das Geld den Armen geben können.“ Warum Öl im Wert des Jahresgehalts eines Arbeiters für eine scheinbar sinn- und folgenlose Geste? Warum erlesenste Körperpflege für einen, der Einfachheit gepredigt hat und sowieso bald sterben wird? Warum tut jemand so was? Nun, zunächst möglicherweise einfach so. Die Liebe braucht kein Wozu. Die Liebe bezweckt nichts. Es geht ihr nur um den Anderen – um seiner selbst willen. Sie sagt: Du bist es wert. Dann ist es aber auch ein Akt der Verehrung über alles menschlich zu Rechtfertigende hinaus. Der so Verehrte ist nicht einer unter vielen. Er ist unvergleichlich. Eine solche Ehre kommt nur Gott zu. Jesus selbst gibt einen weiteren Grund: „Sie hat im Voraus meinen Leib für das Begräbnis gesalbt.“ Hingerichteten Verbrechern wurde die rituelle Salbung vor dem Begräbnis verwehrt. Vor seinem Sterben erlaubt Jesus Maria diesen letzten Liebesdienst. Und Maria erwidert damit die Liebe Jesu. Sie will verschwenderisch lieben wie er. Und sie will zeigen: Dein Leben und Sterben ist die maßlose Liebe Gottes zu uns, die nicht vergeblich ist und die uns sagt: Ihr seid es wert. Jesus ergänzt ein Wort, das bis heute eine Provokation darstellt: „Die Armen habt ihr immer bei euch […]; mich aber habt ihr nicht immer.“ Jesus spielt seine Gegenwart damit nicht gegen die der Armen aus. Aber er erinnert uns, über die Armen seine Gegenwart nicht zu vergessen. Denn sie ist die Gegenwart der Liebe Gottes zu den Armen. Ihm die Ehre geben, heißt dem die Ehre geben, dessen Liebe zu den Armen der unseren vorausgeht, sich in unserer offenbaren will und über unsere Liebe hinausgeht. Ich denke noch heute manchmal an den Scherz der beiden Mädchen. Sie erinnern mich daran, dass es im Leben der Christen darum geht: dass sie mit Christus als verschwenderisch Geliebte verschwenderisch lieben. Wenn ich das versuche, dann wird mein Leben hoffentlich eine Verschwendung, aber gewiss nicht vergeblich gewesen sein. Fra' Georg Lengerke
„Beam me up, Scotty!” Der Satz gilt als das berühmteste Zitat aus der Serie „Raumschiff Enterprise“. In der Science-Fiction-Serie befindet sich Captain Kirk auf einem Planeten und bittet seinen Chefingenieur Scott, ihn durch „Teleportation“ (also durch Zerlegung hier und Rekonstruktion dort in Sekundenschnelle vermittels Strahlen) wieder ins Raumschiff zurück zu „beamen“. Seither wird es scherzhaft als Wunsch verwendet, aus einer mühsamen oder aussichtslosen Situation augenblicklich herausgeholt und befreit zu werden. Im Science-Fiction ist das der Befehl an den Chefingenieur. In der irdischen Welt entspricht dem die flehentliche Bitte an Mensch und Gott: „Rette mich!“ und: „Reiß mich heraus!“ (Ps 71,2; 144,7) Im Johannesevangelium ist für Jesus nach dem Einzug in Jerusalem dieser Moment gekommen. Alle Entscheidungen um ihn herum sind gefallen. Jesus ist im Innersten erschüttert. Und er formuliert die letzte Entscheidung, die noch aussteht: „Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde?“ Das ist ein wichtiger Moment: Bevor Jesus darum bittet, aus dieser Situation gerettet zu werden, fragt er: „Was soll ich sagen?“ Soll ich darum bitten, aus dieser Situation herausgenommen zu werden? Ist gerettet werden das, worum es jetzt geht? Ist es das, was der Vater von mir und für mich will? Im Gebet geht es vor der Bitte um Rettung darum, nach dem Willen Gottes – also nach dem Gerechten, Guten und der Liebe Gemäßen – zu fragen. Deshalb wird im Vaterunser zuerst um die Erfüllung des Willens Gottes und erst dann um das tägliche Brot gebetet. „Soll ich sagen: Vater rette mich aus dieser Stunde?“, fragt Jesus. Das ist eine echte Frage. Jesus hätte das nämlich tun können. Einem seiner kampfbereiten Jünger sagt er vor seiner Verhaftung: „Glaubst du nicht, mein Vater würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schicken, wenn ich ihn darum bitte?“ (Mt 26,53) Aber er bittet nicht um zwölf Legionen Engel. Er bittet nicht um Rettung aus dieser Stunde. Warum nicht? „Deshalb bin ich in diese Stunde gekommen“, sagt er. Und bittet: „Vater, verherrliche deinen Namen.“ Das bedeutet: Ich bin in diese Stunde gekommen, damit der Vater da, wo ich bin, und indem ich da bin, wo ich bin, seinen Namen verherrlicht. Der unaussprechliche „Name“ Gottes steht für seine Anwesenheit, seine Ansprechbarkeit und sein Wirken dort, wo „sein Name wohnt“ (Jes 18,7). Vater, offenbare deine Ansprechbarkeit und dein Wirken!, bittet Jesus hier. Jesus entzieht sich nicht. Er bleibt. Er hat erkannt: Der Vater braucht ihn gerade hier und gerade jetzt. Er hat hier und jetzt einen Auftrag, den es zu erfüllen gilt und den keiner statt seiner erfüllen kann. Hier und jetzt ist er die Stelle, in der die Liebe Gottes sich als treu erweist. Auch in allem Hass, der ihn treffen wird. Auch im Sterben. Auch im Tod und durch den Tod hindurch. An diesem Wochenende bin in einem Seminar zum Thema Zeugnis. Kann das sein, dass mein Zeugnis ist, zu bleiben – und darauf zu verzichten aus dieser oder jener mühsamen oder gar gefährlichen Situation herausgenommen zu werden? Jesus ist die Stelle der Offenbarung Gottes. Und alle, die zu ihm gehören, sollen es mit ihm werden. Für sie geht es nicht mehr nur darum, dass Gott bei ihnen ist. Sondern darum, dass sie bei Gott sind. „Wo ich bin, dort wird auch mein Jünger sein“, sagt Jesus. „Beam me up, Scotty!” – Die Sache ist die, dass Captain Kirk diesen Satz in der Serie (1966-1969) so nie gesagt hat. Erst 1986, als es schon eine stehende Redewendung ist, greift Captain Kirk den Satz im Spielfilm Star Trek IV auf. Im Original sagt Captain Kirk: „Two to beam up, Scotty“. Das ähnelt schon eher dem Gebet, das Jesus mit uns einmal beten wird: „Hier sind zwei, die gerettet werden sollen.“ Der Vater holt uns raus aus dem Tod. Zusammen mit dem Sohn. Wenn die Aufgabe erfüllt, der Dienst getan, das Wort gesagt und die Liebe am Ziel ist. Das hat er versprochen. Fra' Georg Lengerke
Einem befreundeten Priester, der existentiell erschöpft war, sagte sein Bischof vor einiger Zeit: „Ich will Sie nicht nur lebend, ich will Sie lebendig.“ Das war nicht nur ein freundlich-ermutigendes Wortspiel, sondern die Beschreibung eines grundsätzlichen Unterschieds. Was lebend ist, ist nicht tot. Die Biologie bezeichnet materielle Erscheinungen als lebend, die sich durch Stoffwechsel, Replikation und Mutabilität von der unbelebten Umwelt unterscheiden (A. I. Oparin). Die einzelnen Kriterien, um von einem lebenden Menschen zu sprechen, sind umstritten. Aber Einigkeit besteht darin, dass ein Mensch lebt, wenn sein Herz schlägt und seine Zell- und Nervenfunktionen intakt sind. Damit ist der Mensch aber noch nicht lebendig. Von der Lebendigkeit eines Menschen sprechen wir, wenn er in Bewegung ist und es ihm um etwas geht, wenn er mit seiner Umwelt kommuniziert und sie gestaltet, wenn er sein Leben nicht nur „erlebt“, sondern sein Leben „führt“. Der Unterschied zwischen lebend und lebendig wird von Menschen sehr leidvoll erlebt. Wer erschöpft oder verzweifelt ist oder sein Leben als fremdbestimmt erfährt, der spricht nicht selten davon, er „werde gelebt“, er „funktioniere“ bestenfalls noch oder sei „lebendig tot“. Es gibt Krisen, in denen kommt es Menschen so vor, als bliebe ihnen vom Leben nur noch die organische Funktion. Sie erfahren sich als „geistig tot“, als wären sie abgeschnitten vom lebendigen Leben, das eine Richtung hat, die ihm Sinn gibt. „Ich will Sie nicht nur lebend, ich will Sie lebendig.“ sagte der Bischof; und mag damit gemeint haben: Ich will, dass Sie nicht nur funktionieren, sondern gestalten, dass sie nicht nur reagieren, sondern agieren, nicht nur Reflexe zeigen, sondern Antworten geben. Paulus beschreibt die Wende, die für ihn der Glaube an Christus und die Verbundenheit mit ihm bedeutet, mit ähnlichen Bildern: „Gott, der reich ist an Erbarmen, hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, zusammen mit Christus lebendig gemacht.“ (Eph 2,4) Sünde ist für Paulus mehr als bloß eine moralische Kategorie. Sie bedeutet die Trennung von Gott, der das lebendige Leben ist. Wer diese Trennung erfährt, der erfährt sich als geistlich tot. Wie also rauskommen aus dieser Trennung? Wie den Schritt gehen aus dem bloßen Dahinleben in die Lebendigkeit der Beziehung zu den Geschöpfen und ihrem Schöpfer, zur Wirklichkeit und ihrem Grund? Für den Freund, den sein Bischof nicht nur lebend, sondern lebendig wollte, war das möglich durch eine Veränderung seines Arbeitsauftrages und durch einen veränderten Umgang mit dessen Gegebenheiten und Herausforderungen. Für beides brauchte es Menschen, die sich in ihn hineinversetzt haben: der Bischof, der wusste, wie es ist, zwar noch lebend aber nicht mehr lebendig zu sein, und Freunde und Ratgeber, die ihm halfen, zu einer wirklichkeitsgemäßen Wahrnehmung seiner Rolle und Verantwortung zu kommen und die eigene Berufung neu hören und beantworten zu können. Dasselbe beschreibt Paulus auf einer noch existentielleren Ebene. In Jesus Christus versetzt sich Gott in uns Menschen hinein. Nicht nur in unser Empfinden, Denken und Urteilen, sondern auch in die Erfahrung des Getrenntseins vom Leben. Dieses Getrenntsein erfährt Jesus Christus an unserer Stelle nicht nur geistig (intellektuell) und geistlich (spirituell), sondern auch leiblich, indem er im physischen Tod die Trennung vom Leben erleidet. Paulus glaubt an Christus, gehört zu ihm, kommuniziert mit ihm. Die Auferstehung Christi ist für Paulus die Rettung aus dem Tod ins Leben und aus dem Dahinleben in die Lebendigkeit. „Das war meine Rettung“, sagt der Freund neulich in seiner neuen Pfarrei rückblickend und lächelt erleichtert. Und ich denke mir, dass so ähnlich der hl. Paulus geguckt haben mag, als er den Ephesern schrieb: „Gott hat uns mit Christus lebendig gemacht.“ Fra' Georg Lengerke
In manchen Kirchen ist der Eingangsbereich ein Kampfplatz. Zum einen finden sich da vom Pfarrbüro angebotene Pfarrbriefe und Zeitschriften, Postkarten und Eine-Welt-Artikel. Zum anderen platzieren dort opponierende Aktivisten ihre eigenen und entfernen die gegnerischen Postillen – die einen mit Szenarien eines verdienten apokalyptischen Weltuntergangs, die anderen mit Aufrufen zu dessen ökopolitischer Verhinderung. Früher habe ich angesichts solcher Scharmützel und zugeräumter Eingänge häufig an die Schriftstelle von der Tempelreinigung gedacht: Jesus wirft die Händler, die Rinder und Schafe für den Opferkult verkaufen, und die Geldwechsler aus dem Jerusalemer Tempel. „Schafft das hier weg, macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle!“ In der folgenden Auseinandersetzung wird jedoch deutlich, dass es um mehr geht als um die Würde eines heiligen Ortes. Auf die Frage, was für ein Zeichen er vorweisen könne, dass er das dürfe, spricht Jesus davon, dass er den niedergerissenen Tempel „in drei Tagen wieder aufrichten“ werde. „Er aber meinte den Tempel seines Leibes“, ergänzt der Evangelist. Es geht nicht bloß um das Gebäude. Es geht um die Gegenwart Gottes in der Welt. Und für die steht zunächst der Tempel in Jerusalem. Hier wird die Stelle frei- und die Welt offengehalten für die geheimnisvolle und unbegreifliche Gegenwart Gottes. Und Jesus behauptet nun nicht weniger, als dass diese Gegenwart in ihm personal und unüberbietbar in die Welt gekommen sei. Für die frühen Theologen der Kirche war die Tempelreinigung eine vorweggenommene Kirchenkritik: „Die Händler in der Kirche sind die, welche ihren Vorteil suchen, nicht das, was des Herren ist“, schreibt Augustinus. Und für Beda Venerabilis sind es die, welche die ihnen verliehene „Gnade des Heiligen Geistes […] um der Gunst der öffentlichen Meinung willen (lat.: ad vulgi favorem)“ und nur gemäß ihrer eigenen Vorliebe weitergeben. Wir dürfen mit Gott nicht Handel treiben. Weder indem wir das, was wir ihm geben, mit dem verrechnen, was wir von ihm bekommen. Noch indem wir das Seine anderen weitergeben, um uns daran letztlich zu bereichern. Aber auch die Kirche als ganze darf nicht zum Markt oder zur Händlerin auf demselben werden. In der Gefahr ist sie überall dort, wo sie nur noch als Anbieterin sozialer oder spiritueller Dienstleistungen wahrgenommen wird. Als solche ist sie in Deutschland die zweitgrößte Arbeitgeberin nach dem Staat. Und laut Statistik waren 2022 in der evangelischen Kirche und ihren Einrichtungen bereits mehr Menschen angestellt als sonntags in die Kirche gehen. In der katholischen Kirche wird das absehbar auch so sein. Es ist gut und notwendig, dass Menschen für die Kirche arbeiten. Wo wären wir ohne sie? Auch ich gehöre zu ihnen. Und es gehört zum Wesen der Kirche, dass sie den Menschen dient. Aber wozu dient sie eigentlich? Wenn die, denen die Kirche Geld gibt, mehr sind als die, denen sie das Wort Gottes gibt, wenn sie mehr Arbeitgeberin als Sinngeberin, mehr Markthändlerin als Offenhalterin für die Gegenwart Gottes ist, dann ist sie in eine Schieflage gekommen, in der ein Boot längst gekentert wäre. Und die ist einer der Gründe, warum viele Gottsucher sich gelangweilt abwenden von einer Kirche, die keine sein will. Ich weiß nicht, wie sich das grundsätzlich ändern soll. Außer spätestens dann, wenn uns entweder das Geld ausgeht oder wir uns vollends unerkennbar gemacht haben und eine neue Tempelreinigung beginnt. Bis dahin frage ich mich und die um mich herum, was denn die Kirche für uns ist? Eine Dienstleisterin, von der wir erwarten, dass sie liefert? Oder ein lebendiges Gefüge, zu dem die Christen gehören, wie die Glieder zu einem Leib? Heute bitte ich darum, dass Jesus Christus mir meine Marktplatz-Erwartungen an die Kirche austreibt, wie die Händler aus dem Tempel, und mich daran erinnert, dass ich zu seinem auferstandenen Leib gehöre, um mit ihm für die Menschen da zu sein. Fra' Georg Lengerke
Es gibt Worte, die vergesse ich nicht. Worte von Menschen, die mich lieben. Worte von Fremden, die überraschende Antwort auf brennende aber ungestellte Fragen waren. Worte der Bibel, die mir nie auffiehlen und dann in einer bestimmten Situation mit einem Mal eine ungeahnte Bedeutung bekamen. Drei der Jünger Jesu (Petrus, Jakobus und Johannes) haben auf einem Berg eine verstörende Erfahrung gemacht. Sie sehen Jesus für einen Augenblick in einer verwandelten Gestalt, die die Grenzen ihrer bisherigen Erfahrung sprengt. Er strahlt auf irdisch unbeschreibliche Weise. Er spricht mit Mose und Elija. Die sind längst verstorben. Aber für ihn sind sie lebendig. Die einst von Jesus sprachen, sprechen nun mit Jesus. Beim Abstieg verbietet Jesus ihnen, von dieser Erfahrung zu erzählen, bis er von den Toten auferstanden sei. Und dann schreibt der Evangelist: „Dieses Wort beschäftigte sie und sie fragten einander, was das sei: von den Toten auferstehen.“ Für mich ergeben sich daraus drei konkrete Fragen für die Zeit auf Ostern zu: 1. Welches Wort halte ich fest? Im Griechischen steht da: „Dieses Wort hielten sie fest.“ Wir hören und lesen auf verschiedensten Wegen so viele Worte, wie keine Generation vor uns. Umso wichtiger wird es, nach ihrer Wahrheit, ihrer Güte und ihrer Relevanz zu fragen. Und danach, welche Worte ich festhalte und welche ich zurücklasse, welchen Worten ich Macht gebe, und welche ich zurückweise. Es können auch verstörende Worte sein, die ich dennoch festhalten soll. Worte, die ich zunächst nicht richtig verstehe, die Zeit brauchen, um von mir angenommen und verstanden, geglaubt und beantwortet und in meinem Leben wirksam zu werden. Während der Verklärung Jesu hören die Jünger eine Stimme sagen: „Dieser ist mein geliebter Sohn; auf ihn sollt ihr hören.“ Unmittelbar, wenn er spricht. Mittelbar, wo immer einer von ihm, in seinem Namen oder in seinem Geist spricht. Welches Wort von ihm oder den Seinen habe ich mal festgehalten, und es ist Zeit mich daran zu erinnern? Welches Wort von ihm will nicht verlieren? Oder wie kann ich überhaupt wieder hören, was er mir sagen will? 2. Was hilft mir, zu schweigen? Es gibt verschiedene Gründe, warum Jesus Menschen einschärft, einstweilen nicht von dem zu erzählen, was sie von ihm gehört oder mit ihm erlebt haben. Hier wird es vermutlich die Tatsache sein, dass die Bedeutung der Verklärung auf dem Berg erst an Ostern ganz erkannt wird. Erst wenn sie den Auferstandenen sehen und hören, werden sie verstehen, dass Jesus der ist, von dem Mose und Elija gesprochen haben und der auch die Hoffnung und Erfüllung ihres Lebens ist. Und bis dahin sollen sie das Gesehene und Gehörte nicht herumerzählen. Was wir – kaum, dass wir es erfahren haben – gleich weitererzählen, das verteilt sich nicht nur, sondern verfestigt sich auch. Oft noch ganz unverstanden, als eine Sensation oder Irritation, der gleich die nächste folgen wird. Was wir erzählt haben, ist unwiderruflich in der Welt. Es kann sich in uns auch nicht mehr „entpuppen“ und jene Wirksamkeit entfalten, die nur im Verborgenen möglich ist. 3. Mit wem kann ich nach der Auferstehung fragen? Das eine, was es braucht, ist Diskretion. Das andere ist das Gespräch mit denen, die mit mir glauben. Die Jünger, erzählt Markus, „fragen einander, was das sei, von den Toten auferstehen“. Das ist für viele Christen eine Not. Sie trauen sich nicht, nach dem zu fragen, wovon sie meinen, sie müssten es längst wissen. Oder sie würden gerne fragen, finden aber niemanden, den sie fragen können. Und nicht selten halten sie bald das, wovon man scheinbar nicht reden kann, dann doch nicht für ganz so wichtig. Wo sind die Menschen, mit denen ich nach dem Wort Jesu fragen und es hören kann? Wo sind die, mit denen ich schweigen kann und die mir helfen, jene Diskretion zu üben, die es zum Verstehen und Wirksamwerden des Wortes Gottes braucht? Und wo sind die, mit denen ich nach der Auferstehung Jesu und nach unserer Auferstehung fragen kann? Fra' Georg Lengerke
Diese Woche besuchten mich der Vater und der designierte Pate eines Täuflings. Wir sprachen über die Taufe im Allgemeinen und die Rolle des Paten im Besonderen. Das war ein schönes Gespräch. Dennoch überkam mich eine gewisse Verlegenheit. Die gleiche Verlegenheit empfinde ich bei der heutigen Lesung aus dem Ersten Petrusbrief. Sie sagt uns, dass Jesus Christus in den Tod hinabsteigt, um den Toten das Wort des Lebens zu bringen. Auch die, für die die Sintflut den Tod bedeutete, sollen ins Leben bei Gott kommen. Und dann heißt es: „Dem entspricht die Taufe, die jetzt euch rettet.“ Aber wer von uns Heutigen würde sagen, die Taufe habe ihn „gerettet“? Die allerwenigsten von uns können sich erinnern oder haben sich entschieden, getauft zu werden. Die Texte der frühen Kirche über die Taufe erzählen uns, was für eine radikale Wende im Leben der frühen Christen die Taufe gewesen sein muss. Für Erwachsene, die sich taufen lassen, ist sie das oft auch heute noch. Es ist eine Veränderung in der ganzen Lebensrichtung auf Gott hin, eine Veränderung der Sicht auf alles und jeden mit dem Blick Jesu, die Annahme und der Mitvollzug einer nicht gekannten Liebe, die durch den Tod geht, und das Versprechen einer Freude, die die Welt nicht geben kann. Die Taufe ist die konkrete und individuelle Ausdrucksform des Bundes mit Gott. Gott verbindet sich in seiner Menschwerdung mit jedem Menschen. Und wer Christ wird, nimmt in der Taufe dieses Geschenk an. Er bekennt seinen Glauben an Jesus Christus und lässt sich im Sakrament von ihm hineinnehmen in sein Leben, sein Sterben und seine Auferstehung. Und von da an lebt er mit dem Auferstandenen und in der Zeugnisgemeinschaft derer, die an ihn glauben. Bei der Kindertaufe wurde unser Teil des Bundeschlusses von Eltern und Paten stellvertretend wahrgenommen. Weil sich das Bewusstsein durchsetzte, den Kindern aus christlichen Familien die sakramentale Gemeinschaft mit Christus nicht vorenthalten zu wollen. Diejenigen, die mit dem Glauben an Christus aufgewachsen sind und denen er glaubwürdig und liebevoll vermittelt wurde, konnten in eine Bejahung immer mehr hineinwachsen. In der Firmung haben sie es dann selbst gesprochen. Für diejenigen jedoch, die später nur wenig oder nichts oder nichts Gutes mehr von Gott gehört haben, muss die Kindertaufe heute als eine liebgemeinte Irrelevanz oder eine respektlose Vereinnahmung vorkommen. Aber die Erfahrung, dass die Taufe eine „rettende“ Wende im Leben bedeutet, geht den meisten Christen ab. Und das ist der Grund für meine Verlegenheit. Rettet mich die Taufe? Und werden die anderen nicht gerettet? Ich weiß nicht, wie es ist, nicht getauft zu sein. Aber ich weiß, dass Gott alle Menschen retten will. Und dass jeder Mensch, der das Gute annimmt und mitvollzieht, das von Gott zu ihm kommt (und alles Gute kommt letztlich von Gott!), an seiner eigenen Rettung mitwirkt. Ob er Gott nun kennt oder nicht. In der Begegnung mit Jesus Christus jedoch wird diese Rettung von Gott konkret. In ihm bekommt alle Rettung einen Namen und ein Gesicht. Er lässt sich so auf unser Leben ein, dass nichts von ihm unerreicht bleibt – nicht einmal die schon Verstorbenen, und auch nichts von dem, was in mir sterbend oder gestorben ist. Von ihm empfange und lerne ich, was vollkommene Liebe ist. Und zu ihm darf ich im Glauben und in der Taufe gehören. Diese Zugehörigkeit rettet mich in der Tat – aus meiner Gottferne, aus der Verzweiflung am Leben und am Tod, aus dem, was ich alleine nicht wieder gut machen kann, und aus jener scheinbar ausweglosen Dynamik der Lieblosigkeit, die die Kirche „Erbsünde“ nennt. In der Osternacht werden die Christen eingeladen, die Taufentscheidung zu erneuern, dem Bösen zu widersagen und sich zu Christus zu bekennen. Bis dahin will ich die Fastenzeit nutzen, diese rettende Wende konkret zu üben und mich jener Liebe anzuschließen, die meine Verlegenheit überwinden, unser Leben wenden und jeden Menschen retten will. Fra' Georg Lengerke
Berührungsängste können Leben retten. Zum Beispiel bei Offenplatten, wilden Tieren oder hochinfektiösen Krankheiten. Berührungsängste können auch Leben zerstören. Zum Beispiel bei Meidung von Menschen aus ethnischen, politischen oder religiösen Gründen. In der Pandemie habe ich viel über die Unterscheidung meiner Berührungsängste gelernt. Es gibt Berührungsängste, die soll ich ernst nehmen und beachten, wenn die Berührung mich in Gefahr bringt. Andere Berührungsängste kann ich einfach vergessen, weil es keinen Grund gibt, Angst zu haben. Wieder andere Berührungsängste soll ich ernstnehmen, weil wirklich Gefahr droht, sie dann jedoch überwinden und die Gefahr der Berührung in Kauf nehmen, wenn ein höheres Gut gefährdet ist. Jesus berührt einen Aussätzigen. Das war gefährlich und außerdem verboten. Der Mann wird geheilt, und Jesus befiehlt ihm, sich den zuständigen Behörden als geheilt zu melden und ansonsten den Mund zu halten. Ich könnte mir denken, dass die Erfahrungen der Pandemie das Verständnis dieser Szene bei vielen verändert hat. Viele Menschen haben seither eine höhere Sensibilität. Zum Beispiel für die Gefahr einer Ansteckung, für die Erfahrung der Not von Isolation und Quarantäne oder auch für die Frage der Angemessenheit oder Unangemessenheit von fremdem und eigenem Verhalten oder von obrigkeitlichen Maßnahmen. Jesus scheint keine Berührungsängste zu haben. Er spürt, dass er den Mann berühren kann und soll und dass diese Berührung für den Mann bedeutet, gesund und wieder in die menschliche Gemeinschaft hineingenommen zu werden. „Wenn du willst, kannst du machen, dass ich gesund werde“, sagt ihm der Aussätzige. „Ich will – werde rein“, sagt Jesus und berührt ihn. Jesus will, was der Mann will. – Aber der Mann will nicht, was Jesus will. Obwohl Jesus ihm denkbar streng einschärft, von der Sache zu schweigen, erzählt er sie überall herum. Das führt zu einem Platztausch. Der Mann ist wieder in die Gesellschaft integriert. Jesus jedoch „konnte sich in keiner Stadt mehr zeigen“, weil er fürchten muss, vor der Zeit verhaftet zu werden. Der Geheilte ist drinnen. Der Heiland ist draußen. Damit deutet sich schon an, wie die irdische Lebenszeit Jesu ausgehen wird: Er stirbt draußen, schändlich hingerichtet, als Verworfener. Jesus hat selbst Berührungsängste gekannt. Wir hören immer wieder, dass er Massenansammlungen oder bestimmte Orte meidet, weil der Entschluss, ihn zu töten, bereits gefasst ist. Im nächtlichen Gebet vor seiner Verhaftung schwitzt Jesus Blut und Wasser vor Angst, weil er weiß, dass von da an jede Berührung ein Schmerz sein wird – beginnend mit dem Kuss des Freundes, der ihn verrät, gefolgt von Schlägen und Demütigungen aller Art. Schon darüber lohnt es sich für mich nachzudenken, dass Jesus die Berührungsangst zu uns hin überwindet, weil wir es ihm wert sind, sich in die Gefahr unserer Launenhaftigkeit, unserer Unwahrhaftigkeit und unserem tödlichen Umgang miteinander und mit der Schöpfung zu begeben. Gerade dort hält er liebend aus, was wir einander und damit immer auch ihm antun, weil er sich mit einem jeden(!) Menschen verbunden hat. Die Frage ist immer wieder, ob ich das will. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass der Aussätzige Jesus so nah an sich heranlässt. Auch er hätte Grund gehabt, Berührungsängste zu haben. Nicht nur, weil auch ihm diese Nähe verboten war. Nicht nur, weil er um die Gefahr der Ansteckung des Anderen wusste. Sondern auch, weil es viel Mut und Vertrauen braucht, um jemanden in die Nähe der eigenen Krankheit und Versehrtheit, Entstellung und Unansehnlichkeit zu lassen. Um solche Berührungsängste zu kennen, muss man nicht erst eine tödliche hochinfektiöse Krankheit gehabt haben. Es gibt Menschen, die haben erfahren, dass die Begegnung mit Gott ihr Leben und Lieben verwandelt hat. Die können uns helfen, dass uns die Berührungsangst vor Gott genommen wird. Fra' Georg Lengerke
In diesen Tagen schreibe ich für einen Sammelband einen Artikel über „Selbstsorge“. Das ist die Kunst, die eigenen Bedürfnisse und Grenzen nicht außer Acht zu lassen, während man für andere da ist. Einer der möglichen Gründe für eine solche Außerachtlassung ist der Wunsch, es allen recht zu machen, nach Möglichkeit jedem zu Willen und für jeden ohne Unterschied auf die ihm gemäße Weise ganz da zu sein. Theoretisch weiß jeder, dass das nicht möglich ist. Und wer es versucht, wird nie allen gerecht werden. Vor allem wird er ungerecht mit sich selbst. Denn er wird sich in einer Weise verleugnen und verbiegen, dass er am baldigen Ende nicht mehr weiß, wer er selbst ist, und auf der Strecke bleibt… Bei Paulus findet sich eine Formulierung, die genau nach einer solchen Verbiegung und Verausgabung klingt: „Allen bin ich alles geworden.“ Wenn mir das heute jemand über seine Arbeit im Dienst am Nächsten sagen würde, dann wäre ich höchst alarmiert. Nun macht Paulus von seiner ganzen Erscheinung nicht den Eindruck, als wäre er einer, der sich verbiegt, um es den Leuten um sich herum recht zu machen. Im Gegenteil. Er schreibt: „Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an seiner Verheißung teilzuhaben.“ „Alles … um des Evangeliums willen“. Paulus treibt nicht das Bedürfnis, gesehen, gemocht, anerkannt oder gar gelobt zu werden. Es geht nicht um das Gutsein Pauli, sondern um die Güte Gottes. Und die hat ihn in der Person Jesu und in seinem Wort in einer Weise erreicht, dass dies sein ganzes Leben verändert hat. Von da an will er alles dafür tun, dass dieses Wort, diese Beziehung so viele Menschen wie möglich erreicht und von ihnen angenommen und beantwortet werden kann. So wie ein Medikament einen Kranken oder ein Liebesbrief einen geliebten Menschen in seiner Einsamkeit erreichen soll. Er kann nicht alle erreichen. Das kann nur Gott. Aber „möglichst viele“ und „auf jeden Fall einige“. Und um des Evangeliums willen will Paulus – im Rahmen seiner Möglichkeiten – so nah wie möglich an den Menschen sein und an ihrem Leben, an ihrer Lage und an ihrem Schicksal, an Freud und Leid Anteil nehmen. Und das, ohne es nötig zu haben: „Obwohl ich […] von niemandem abhängig bin, habe ich mich für alle zum Sklaven gemacht, um möglichst viele zu gewinnen“ schreibt er. Den Schwachen sei er ein Schwacher geworden. Und macht damit offenbar genau das, was er kurz darauf aus Korinth nach Rom schreiben wird: „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden!“ (Röm 12,15) Das bedeutet nicht, dass Paulus selbst außen vor bleibt. Er steht auf beiden Seiten: Auf der Seite dessen, der das Wort Gottes spricht, das er nun ausrichtet. Und auf Seiten derer, denen das Evangelium gilt, die es hören und annehmen sollen, mit denen er „an seiner Verheißung teilhaben“ will. Wir können nicht vollkommen „allen alles werden“, ohne vor die Hunde zu gehen. Sondern wir können es nur im Rahmen unserer Möglichkeiten – und zusammen mit dem, der es allerdings ganz und gar vermochte. In Seiner Menschwerdung in Jesus von Nazareth ist der Sohn Gottes wirklich „allen alles geworden“ – bis in die letzten Winkel unseres Lebens mit seinen Höhen und Tiefen, seinen Triumphen und Abgründen. Und hier geschieht die Wende: Denn hier heißt „allen alles werden“ nämlich auch: „allen alles andere werden“. Denn indem Er allen alles wird, wird Jesus den Verlorenen auch ein Gefundener und den Ungeliebten ein Geliebter, den Traurigen ein Getrösteter und den Schwachen ein Starker – damit auch sie mit Ihm gefunden und geliebt, getrost und stark werden. Und in dem Maße, in dem wir erlauben, dass Er für uns da ist und uns „alles in allem“ (1 Kor 15,28) wird, werden auch wir „möglichst vielen“ und „auf jeden Fall einigen“ Anteil an dem geben können, … …woran Anteil bekommen zu haben unser Glück ist. Fra' Georg Lengerke
Was haben die Menschen um mich herum davon, dass ich zölibatär lebe? Die einfachste Antwort wäre, dass ich mehr Zeit für sie habe. Das stimmt zwar, ist aber hoffentlich nicht die einzige Antwort. Auch ein Wirtschaftsunternehmen hat unter Umständen mehr von einem Angestellten, wenn er keine Rücksicht auf eine Familie nehmen muss. Im Evangelium wird uns eine andere Antwort gegeben. Jesus sagt, es gebe Leute, die blieben „um des Himmelreiches willen“ unverheiratet (Mt 19,12). Dasselbe meint Paulus im Ersten Korintherbrief: „Der Unverheiratete sorgt sich um die Sache des Herrn; er will dem Herrn gefallen.“ (1 Kor 7,32) Und im scharfen Kontrast dazu beschreibt Paulus den verheirateten Menschen: Er „sorgt sich um die Dinge der Welt; er will seiner Frau […] sie will ihrem Mann gefallen.“ (1 Kor 7,33.34) Und daher, sagt Paulus, „ist er geteilt“. Ist das wirklich so? Sind die Zölibatären ungeteilt für Gott da und die Verheirateten zwischen Gott und Welt zerrissen? Sagen wir es so: Beides kommt vor. Es gibt Menschen, die wählen in Freiheit die ehelose Enthaltsamkeit, um sich „um die Sache des Herrn zu sorgen“. Das bedeutet nicht eine Alternative zum Dienst an der Welt. Im Gegenteil. Es bedeutet, auf diese Weise „ungeteilt“ mit Christus verbunden und verfügbar zu sein, um ganz mit Gott für die ihm anvertrauten Menschen und mit den Menschen für Gott und seine neue Welt da zu sein. Und ja, es gibt verheiratete Menschen, die einen dauernden Konflikt erleben und erleiden zwischen geistlichem Leben und weltlichen Verpflichtungen, zwischen dem Anspruch des Evangeliums und den Ansprüchen, Plausibilitäten und Machbarkeiten in der Welt ihres täglichen Lebens. Wovon Paulus allerdings nicht spricht, ist, dass es auf Seiten der Zölibatären und der Eheleute auch jeweils andersherum sein kann. Es gibt Zölibatäre, die so sehr zerrissen sind von unfreien Beziehungen, Eitelkeiten oder einer allgemeinen Unordnung ihres Lebens, dass von der Liebe Gottes und dem neuen Leben, zu dem sie befähigt, nichts zu bemerken ist. Und zugleich gibt es andererseits Ehepaare, die es verstehen, das Sakrament ihrer Liebe und ihre Sendung für ihre Kinder und ihre Gemeinde, für die Gesellschaft und für Menschen in Not so zu verwirklichen, dass man ahnt, was Jesus meinte, als er sagte, dass Reich Gottes sei schon mitten unter uns. Vielleicht hilft es, sich in die Zeit des Apostels Paulus zu versetzen. Für die frühen Christen war die Gleichzeitigkeit der Weltlichkeit einer libertären städtischen Gesellschaft wie der in Korinth einerseits und dem neuartigen, konkreten Anspruch der Nachfolge Christi andererseits eine wirkliche Zerreißprobe, die sie als „Geteilt-Sein“ empfunden haben. Das erklärt auch, warum Paulus und die frühe Kirche das ungeteilte Dasein für die Nachfolge und Sendung Jesu nach dem Modell der ersten Apostel als korrektives Gegenzeugnis wahrgenommen und propagiert haben. Und durch die Geschichte hindurch hat es leuchtende und wirksame Beispiele für dieses Zeugnis gegeben. Andererseits gibt es auch Zeiten oder Situationen, in denen vor allem auch andersherum das Zeugnis der Eheleute für die Ehelosen notwendig wird. Denn wo zum Beispiel die zölibatäre Lebensform und Lebenskultur verkommt, wo sie entweder als narzisstisch oder dekadent, als verbürgerlicht oder verlogen oder aus anderen Gründen als unglaubwürdig wahrgenommen wird, dort braucht es umso mehr das Zeugnis derer, die als Eheleute ungeteilt mit Gott füreinander da sind – und miteinander für Seine Liebe zu den Menschen. Für meine Berufungsgeschichte waren sowohl verheiratete als auch zölibatär lebende Christen wegweisend. Und auch Verheiratete haben mich verstehen lassen, dass derselbe Gott, der sie zur Ehe berufen hat, andere Menschen auch zu anderen Lebensformen beruft und befähigt. Zum Beispiel dazu, sich um Seiner Liebe willen ohne die Bindung an einen Menschen für viele Menschen zu verschenken. Fra' Georg Lengerke
Eine Band heißt so. Ein Parfum ist nach ihr benannt. Und in einem Münchener Vorort trägt ein „Studio für Körperbewusstsein“ ihren Namen: Metanoia. Ursprünglich bedeutet Metanoia aber „Umkehr“. Oder genauer „Umdenken“. Und mit dem Aufruf zu solchem Umdenken beginnt das öffentliche Auftreten Jesu im Evangelium: „Metanoiete - Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ Umkehr bedeutet zuerst eine Richtungsänderung in der Absicht. Und dann geht es um eine neue Weise des Denkens: um neue Kriterien des Urteils, um ein neues Licht und eine neue Perspektive auf das, was mit begegnet, kurz: um eine neue Weise des Erkennens, Urteilens und Handelns. So auch im Evangelium: Zuerst geht es um eine Richtungsänderung auf Jesus zu und mit ihm auf den Weg zu den Anderen. Und dann um eine neue Denk- und Lebensweise, die sich aus dieser Verbundenheit mit Jesus ergibt. Mir geschieht das immer wieder, dass ich auf meinem Weg mit Gott und den Menschen umdenken muss. Von drei Momenten des Umdenkens will ich berichten: 1. Gott führt mich ins Weite, auch wenn’s eng wird. Bindungen können uns einengen oder frei machen. Zu vielem wären wir nicht fähig, wenn andere uns nicht gelehrt hätten, worauf es ankommt, und wenn Menschen nicht verbindlich für uns oder wir für sie da gewesen wären. Für viele Menschen jedoch bedeutet – sei es aus eigener Erfahrung oder durch Hörensagen – die Erfahrung der Bindung an die Kirche und den von ihr verkündigten Gott und sein Wort eine geradezu unerträgliche Beschneidung ihrer Freiheit und eine Verengung ihres Lebens. Ich kenne solche Verengungen. Auch in der Kirche. Und sie sind mir schwer erträglich. Aber je länger ich mit Gott lebe, um so mehr wird mir der Weg im Glauben ein Weg in die Freiheit. Auch wenn sich meine äußeren Möglichkeiten mehr und mehr einzuschränken beginnen. Das Hören auf Gott und die Seinen macht Menschen nicht klein, sondern groß, engt sie nicht ein, sondern weitet sie – mitunter mehr als ihnen lieb ist. 2. Gott ist schon da und hat mich zuerst geliebt. Ich weiß eigentlich gar nicht so genau, wie ich vorher dachte. Jedenfalls hatte es viel mit Leistung zu tun – und vielleicht damit, dass ich in allem irgendwie „zuvorkommend“ sein wollte. Irgendwann hat mich das dann überfordert. Ich hatte mich in einer Weise abgemüht, die Gott und den Menschen „genügen“ sollte, aber mir selbst nie zu genügen schien. An dem Punkt wurde ich hellhörig für die vielen Male, die Jesus den Jüngern sagen muss, dass nicht sie ihn, sondern er sie gefunden und erwählt hat, dass vor dem Tun das Hören, vor dem Geben das Empfangen, vor dem Lieben das Geliebtwerden kommt. Gott ist in Jesus schon bis hierher, an diesen Ort, in diesen Moment und in diese meine momentane Verfassung gekommen. Mehr braucht es nicht – als allein ja zu sagen und einverstanden zu sein, mich von Ihm und den Seinen lieben zu lassen. Und dem Maße ich das erlaube, werde ich auch ein Liebender sein. 3. Christus liebt auch die, mit denen ich nichts zu tun haben will. Jesus lässt sich nicht für unsere Interessen, Parteinahmen und Sympathien vereinnahmen. Er ist nicht gekommen, um die Gerechten zu rufen (denn die gehören ja längst schon zu ihm), sondern die Sünder, nicht nur zu den Guten, sondern auch zu den Bösen, nicht nur für die Opfer um ihrer Heilung willen, sondern auch für die Täter um ihrer Umkehr willen. Wo ich selbst zu den Sündern gehöre, ist das mein Glück. Und wo ich erkenne, dass Jesus die liebt und bei sich haben will, mit denen ich noch nichts zu tun haben will, ist das mein heilsamer Schmerz. Die Einheit der Kirche und der Menschheit fängt nicht da an, wo wir alle auf Linie sind. Sondern dort, wo wir darum bitten und zu lernen beginnen, die zu verstehen und zu lieben, mit denen wir nicht einverstanden sind. „Metanoiete – Kehrt um und glaubt an das Evangelium.“ Das beschreibt einen lebenslangen Weg. Und manchmal kommt er mir vor, als hätte ich ihn gerade erst begonnen. Fra' Georg Lengerke
Manchmal begegnen uns Menschen, die so von Äußerlichkeiten in Anspruch genommen sind, dass ein Blick nach innen für sie eine Lebenswende bedeuten würde. Andere dagegen sind so mit sich selbst beschäftigt, dass ihr Aha-Erlebnis darin bestünde, einmal von sich abzusehen, um die Welt um sich wahrzunehmen. Und damit auch das, was in ihr für ihr eigenes Leben und das ihrer Nächsten existentiell relevant und daher im Augenblick wichtiger ist als ihr eigenes Befinden. Gegen ein solches Absehen von sich selbst kann sich Widerstand regen. Manche haben sich in ihrer Innerlichkeit eingerichtet und fürchten, von dem, was ihnen begegnet, infrage gestellt zu werden. Andere fürchten, durch Absehen von sich selbst als Verharmloser ihrer Schuld und Vertuscher ihrer Schwächen zu gelten. Und dann gibt es auch noch welche, die so von sich überzeugt sind, dass sie Angst haben, andere oder anderes könnte bedeutender sein als sie selbst. Wenn ich ehrlich bin, ist mir auch selbst all das nicht fremd: die einseitige Inanspruchnahme von außen oder von innen und der Widerstand dagegen, mal von mir abzusehen. Und schließlich kenne ich das auch von der Kirche und ihren Gemeinschaften: dass sie (entweder an sich verzweifelnd oder von sich selbst betört) so mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie glauben, es sich keinesfalls leisten zu können, von sich abzusehen. In den biblischen Lesungen an diesem Sonntag begegnen uns zwei Menschen, die so von sich absehen, dass das, was dadurch für andere hörbar und sichtbar wird, zur Lebenswende wird. Der junge Samuel hört eine nächtliche Stimme seinen Namen rufen. Er meint, es sei die des alten Priesters Eli, und tritt an dessen Lager. Zweimal verneint dieser, ihn gerufen zu haben. Beim dritten Mal erkennt Eli, dass Gott selbst den Knaben gerufen hat: „Wenn er dich ruft, dann antworte: Rede, Herr; denn dein Diener hört.“ (1 Sam 3,9) Die Stimme ruft wieder. Samuel antwortet, wie Eli sagt. Und Gott spricht… Am Anfang des Johannesevangeliums weist der Täufer Johannes gleich zu Anfang darauf hin: „Ich bin nicht der Christus!“ (Joh 1,20) Was muss das für eine gewaltige Versuchung gewesen sein, die Menschen im Zweifel darüber zu lassen, dass er erwartete Retter sei. In der Szene heute weist er zwei seiner eigenen Schüler auf Jesus hin, in dem Johannes den Christus, den göttlichen Gesalbten und Retter der Welt erkannt hat: „Seht, das Lamm Gottes!“, sagt er in Anspielung auf ein Prophetenwort. Die beiden hören es, verlassen den Täufer und gehen hinter Jesus her. Es ist entscheidend wichtig für das Christsein im Allgemeinen und für die Dienste in der Kirche im Besonderen, dass wir immer wieder von uns absehen. Ohne Angst davor zu haben, infrage gestellt zu werden. Ohne sich damit schon für einen Verharmloser oder Vertuscher zu halten. Und ohne die Angst, dadurch an Bedeutung zu verlieren. Samuel wird zum Propheten, weil Eli die Stimme Gottes nicht für seine ausgibt, sondern von sich absieht und den Jungen lehrt, Gottes Stimme zu vernehmen und zu verstehen. Andreas und sein Gefährte lassen sich von Jesus infrage stellen und einladen, weil Johannes sie auf ihn verweist und sie weggehen lässt. Eli, der Priester von Schilo, und Johannes, der Täufer am Jordan, erinnern uns daran, worauf es beim Christsein, bei der geistlichen Freundschaft und Begleitung und beim Zeugnis der Christen ankommt: Es kommt darauf an, dass einer dem anderen von dem erzählt, was er erlebt und als wahr erkannt und als Lebensprägung angenommen hat. Und dass er dann dem anderen hilft, selbst zu hören und zu verstehen (wie Samuel) oder zu sehen und zu erkennen (wie Andreas und der andere Jünger), was es heißt, auf Gott zu hören und mit Christus zu leben und zu lieben. Wo es Wege und Orte, Gemeinschaften und Dienste, Freundschaften und Beziehungen gibt, in denen Menschen einander so von sich erzählen und so von sich absehen – um Gottes Willen – da fängt etwas Neues an. Fra' Georg Lengerke
Nach Weihnachten habe ich meine alten Eltern besucht. Sie versorgen sich selbst. Geistig sind beide hellwach und interessiert. Körperlich jedoch sind sie unterschiedlich gut zurecht. Das gleicht die Mutter in der Sorge um den Vater so gut es geht aus. Sie sind einander anvertraut. Als wir abends beieinandersitzen, muss ich daran denken, dass auch ich im Anfang diesen beiden Menschen anvertraut war. Eltern können Kinder ja nicht „machen“. Sie können nur die Bedingungen schaffen, dass sie werden. Und in ihrem Fall waren diese Bedingungen meines Werdens Ausdruck einer großen Liebe. Sie haben uns Geschwister empfangen und angenommen, uns werden und losgehen lassen. Das war nicht schmerzlos und nicht immer einfach. Aber einmal mehr empfinde ich an diesem Abend eine große Dankbarkeit. Wir sind einander anvertraut. Heute, am ersten Tag des Kalenderjahres, dem sogenannten Oktavtag des Weihnachtsfestes, feiert die Kirche das Hochfest der Gottesmutter Maria. Mir kommt es vor, als würde die Kirche an diesem Tag rückblickend noch einmal fragen: Wie konnte es eigentlich dazu kommen, dass Gott der Sohn als Mensch in die Geschichte der Menschen eintritt? Das Evangelium erzählt, wie die Hirten Ihn fanden. Sie mussten ja gewissermaßen erst dreimal hinschauen „und fanden Maria und Josef und das Kind, das in einer Krippe lag“. „Als die Zeit erfüllt war“, schreibt Paulus der Gemeinde in Galatien, „sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau.“ Gott macht sich angewiesen und vertraut sich uns an. Oder genauer gesagt: Er vertraut sich einer von uns an. Nicht durch die liebende Übereinkunft von Mann und Frau, sondern durch den Entschluss Gottes, zu dem eine Frau mit ihrer ganzen Existenz ja sagt. Dieses Anvertrauen Gottes geht weiter. Er vertraut den Menschen Seine Sichtbarkeit an, indem Er sie als Sein Bild schuf. Er vertraut den Liebenden Seine Gabe zu lieben an und den Glaubenden Sein Wort, damit es ihr Leben forme und sie es weitersagen und Ihn bezeugen, damit die Menschen erkennen: Gott ist mit uns. Und Er verbindet sich mit denen, die uns anvertraut sind: mit den Kindern und den Alten, mit den Einsamen und den Traurigen, den Nackten, Hungrigen und denen, die kein Zuhause haben. Von ihnen sagt Er: Was ihr ihnen tut, das tut ihr mir. Und schließlich sagt uns Gott, dass wir einander Ihm anvertrauen sollen. Das geschieht im Segen. Wer segnet, sagt: Ich vertraue dich der Liebe, der Macht und der Treue Gottes an, die über meine hinausgeht. Segen hat mit Freigabe und Sendung zu tun. Mit dem Verzicht, den anderen durch Hilfe abhängig zu machen und zu beherrschen. Wie mag das in Euren Familien und Freundschaften sein? Gibt es so etwas, wie einen Brauch oder eine Kultur des Segnens? Vielleicht können wir damit ja beginnen in diesem Neuen Jahr, dass wir einander einfach segnen. Heute muss ich besonders an den Muttersegen denken. Als ich neulich von den Eltern aufbreche, zeichnet meine Mutter beim Abschied wie immer ein Kreuz auf meine Stirn: „Gott schütze dich, mein Junge!“ Der „Muttersegen“ hat eine ganz eigene Würde. Einfach deshalb, weil Gott uns zuallererst unseren Müttern anvertraut hat. Vor Jahren sah ich nach einer Trauung, wie die Großmutter der Braut (80) von der Urgroßmutter der Braut (104) im Rollstuhl Abschied nahm. Sie küssten einander und dann machte die Ältere ein Kreuz auf die Stirn der Jüngeren und sagte: „Gott segne dich, mein Kind!“ Wir bleiben für immer jemandes Kind. Deshalb können wir auch immer um den Segen der Eltern bitten, übrigens auch wenn sie längst gestorben und bei Gott sind. Wenn uns aber schon am Muttersegen unserer leiblichen Mütter gelegen ist, dann sollte uns am Muttersegen Marias erst recht gelegen sein. Denn sie segnet uns mit der Gegenwart des Sohnes Gottes, der ein Mensch wird. Gott hat uns einander anvertraut. Er hat sich selbst uns anvertraut. Und Er wirbt darum, dass wir uns Ihm anvertrauen und Seinem Segen in diesem neuen Jahr. Fra' Georg Lengerke
„Mir ist nicht nach Weihnachten!“, sagt meine Gesprächspartnerin auf einem adventlichen Spaziergang. Dann sprechen wir vom Krieg und seinen schrecklichen Bildern, vom Klima und der Zukunftsangst, von Polarisierungen und Sprachunfähigkeit, von zerbrochenen Beziehungen und verlogenen Familienfesten. Während wir weitergehen, frage ich mich, wie einem ist, wenn einem „nach Weihnachten“ ist. Und ich denke an die überzogenen Erwartungen an Stimmung und Atmosphäre; an angestrengte Weihnachtskartenschreiber und Geschenkekäuferinnen; an die Betonung der „Besinnlichkeit“ und die Frage, worauf man sich denn besinnen soll; an die Sehnsucht nach guten Gefühlen, die wichtiger werden als das Gefühlte. Und ich denke an die belogenen Kinder, denen man erzählt, das „Christkind“ habe die Geschenke der Eltern gebracht. Nach solcher Weihnacht ist auch mir nicht. „Wonach ist Dir denn?“, frage ich meine Begleiterin. „Mir ist danach, dass Weihnachten einen Unterschied macht“, sagt sie, „und nicht einfach nur eine Pause wie jede andere oder eine Flucht aus der Wirklichkeit.“ Der gesamte Text findet sich am Weihnachtsmorgen unter https://www.betdenkzettel.de/.
„Irgendwie kommt Weihnachten jedes Jahr überraschend“, sagte vor Jahren eine Freundin von mir und lächelte. Sie ist Mutter einer kinderreichen Familie und wollte sagen: Die Vorbereitungszeit ist immer zu kurz. Wir nehmen uns immer zu viel vor. Es wäre immer noch was zu tun. Und scheinbar plötzlich ist keine Zeit mehr, weil Weihnachten ist. Dieses Jahr mag es einem erst recht so vorkommen. Der Advent ist so kurz wie nie. Die Vierte Adventswoche dauert nur einen Tag. Am Abend des Vierten Advents beginnt das Weihnachtsfest – „irgendwie überraschend“. Von einem Erschrecken erzählt das heutige Evangelium: Ein Engel verkündet Maria die Geburt Jesu. Aber Maria erschrickt nicht etwa darüber, dass ein Engel im Zimmer steht. Sie hat ja nicht von ihm geträumt wie Josef oder eine Engel-Erscheinung gehabt wie Zacharias, der Vater Johannes des Täufers. Ein sichtbarer Engel im Zimmer – das wäre mal ein Grund zum Erschrecken. Aber Maria erschrickt nicht über seine Sichtbarkeit. Es klingt fast so, als wäre die ihr ganz selbstverständlich. Sie erschrickt über seine Anrede. „Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir“, sagt der Engel. Und Maria, erzählt der Evangelist Lukas, „erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe.“ Das möchte ich verstehen und mitempfinden: „Sie erschrak … und überlegte.“ Gut, wenn Josef das gesagt hätte, dann wäre das charmant gewesen und zärtlich und vielleicht verliebt. Aber dieses Wort tritt aus der „unsichtbaren Welt“ (Credo), aus der Unverfügbarkeit und Unerreichbarkeit Gottes in Gestalt des Engels bei ihr ein: „Du Begnadete!“ Und sie erschrickt. Ich stelle mir vor, ich nähme eine solche Zusage von Ich-weiß-nicht-wo wahr. Ich würde fragen: Was heißt hier begnadet? Was weißt Du, was ich nicht weiß? Und ich würde mich erinnern an das, womit ich „begnadet“ wurde: An das, was ich geschenkt bekam, ohne es verdient zu haben. An das, was ich bin, ohne mich entschieden oder es gemacht zu haben. Und schließlich an das, was zu entscheiden und zu tun, zu lernen und zu bauen mir ermöglicht und erlaubt wurde. „Du Begnadeter!“ Und dann würde ich an das denken, was schon da ist, was ich aber noch nicht erkannt und angenommen habe. An den Schatz im Acker, der noch nicht gehoben ist und darauf wartet, gefunden und gehoben zu werden. „Der Herr ist mit dir.“ Das ist er. Der ungehobene Schatz. Alles, woran ich mich gerade erinnerte, war Gabe. Jetzt aber heißt es vom Geber, dass er bei mir, in mir, mit mir ist. Auf meiner Seite. Nicht gegen die Anderen, mit denen ich mich auseinandersetze. (Irritierenderweise ist er ja auch „mit ihnen“.) Sondern in mir mit mir. Auch da, wo ich gegen mich selber bin, oder gegen meine Seele, gegen das, was ich von Gott her bin. Gott kommt auf meine Seite in mir. Und er überwindet mit mir, was ich nicht bin – auch wenn ich es krampfhaft zu sein versucht habe. „Der Herr ist mit dir.“ Und zwar nicht nur in einem geistig-intellektuellen beziehungsweise geistlich-spirituellen Sinn. Sondern leiblich und anfassbar, sichtbar und hörbar, verständlich und zugleich unbegreiflich. Denn als Kind ist er kleiner und als Gott unvergleichlich, unendlich größer als ich. Weihnachten heißt: Was in Maria geschieht, geschieht für uns. Gott wird ein Mensch. Und was für uns geschieht, soll in uns geschehen. Der in Maria Mensch gewordene Gott tritt in unser Leben ein, um „Immanuel“ – „Gott mit uns“ zu sein – damit auch wir selbst wieder bei uns, mit uns und in uns sind – und mit Gott für die Anderen. „Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir.“ Der Advent ist dieses Jahr kurz. Heute Abend schon beginnt das Weihnachtsfest. Wie gut, dass wir noch ein Leben lang Zeit haben, um zu überlegen, „was dieser Gruß zu bedeuten habe.“ Fra' Georg Lengerke
Die Aufnahme ist der Mitschnitt der ensprechenden Predigt am Vorabend (9:27 ) Im Advent und in der Fastenzeit stechen zwei Sonntage heraus. Sie erinnern daran, dass der Grund für diese spezielle, eher nachdenkliche und ernste Zeit der Vorbereitung und der Buße vor allem ein Grund zur Freude ist. Entsprechend lauten die Eröffnungsverse der Heiligen Messe. „Gaudete“, so heißt und beginnt der Dritte Adventssonntag, „Gaudete in Domino semper…“ – „Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch! Denn der Herr ist nahe“ (Phil 4,4.5) Nun ist das mit der Freude so eine Sache. Sie kann ja nicht einfach verordnet werden. Und für viele Menschen sind die Gründe für Freude angesichts ihrer Sorgen und Zukunftsängste eher rar geworden. Das gilt auch in der Kirche. Solange die Kirche nicht bestimmte Kriterien erfüllt, sind viele in ihr tendenziell schlecht gelaunt und die Freude wird verschoben auf später, wenn alles anders und besser ist – manchmal ein Leben lang. Mich erinnert der Sonntag Gaudete an drei Gründe zur Freude: Erstens an die Mitfreude. Ich freue mit den Menschen um mich herum über alles mögliche Gute. Es gibt ja keine gottlose Freude, wenn es echte Freude ist. Damit meine ich eine Freude, die sich auf Gutes bezieht, nicht auf Kosten anderer geht und so ist, dass sie das Gute im Menschen zum Vorschein bringt. Echte Freude kommt von Gott und führt zu Gott. Und dann kann sie zu einer Freude werden, die nicht nur Gütern gilt, sondern der Güte, nicht nur Gaben, sondern auch dem Geber. Zweitens freue ich mich an Gott und seinem Kommen und seinem Versprechen, uns nahe zu sein und uns Anteil an seinem Leben zu geben. „Der Herr ist nahe!“, ruft Paulus den Philippern als Grund zur Freude zu. Manchmal wird die Freude an Gott mit der Freude an sich selbst verwechselt. Es ist ja nichts falsch daran, sich über sich selbst zu freuen. Nur wäre es gut, wir würden darüber nicht stolz oder undankbar. Es gibt zum Beispiel eine bestimmte „Freude am Glauben“, die keine Freude an dem Geglaubten ist, sondern Freude am Frommsein. Das ist so ähnlich, wie wenn einer mehr Freude am Lieben hat, als am geliebten Menschen. Dann braucht einer den anderen, um sich für einen guten Liebhaber zu halten. Ich freue mich an mir, weil ich mir gegeben bin. Und daher freue ich mich über den Geber noch bisschen mehr als über mich, weil er so viel mehr gibt als bloß mich. Die Freude an Gott und seinen Gaben ist allerdings vielen verdächtig: Wer sich jetzt freut, heißt es, hat den Ernst der Lage nicht erkannt. Wer sich freut, lebt in einer Blase. Wer sich freut, verharmlost das Leid und das Böse. Die Freude an Gott müsste also so sein, dass sie auch angesichts der Not der Welt noch irgendwie Bestand hat – ohne dieses zu verharmlosen. Wenn der gesalbte und gesendete Knecht Gottes kommt, sagt der Prophet Jesaja in der Lesung, dann kommt er, „um den Armen frohe Botschaft zu bringen, um die zu heilen, die gebrochenen Herzens sind, um den Gefangenen Freilassung auszurufen und den Gefesselten Befreiung“ (Jes 61,1). Die Kirche ist der Ort, an dem das Kaputte in der Welt zu dem kommt, der die Liebe ist und es heil machen wird. Wer nichts Kaputtes in der Kirche haben will, der hat ein Problem. Nur dürfen wir halt das Kaputte nicht heil und das Gefangene nicht frei nennen, das Kranke nicht gesund, die Heuchelei nicht Heiligkeit und die Lüge nicht Wahrheit nennen, wenn es wirklich zu dieser Begegnung mit Gott in der Kirche kommen soll. Weil ich wie alle Menschen diese Begegnung ersehne und nötig habe, freue ich mich an Gott und auf ihn. Und drittens muss ich an noch eine Mitfreude denken. Nämlich an die Mitfreude mit Gott. Das vergessen wir Christen nicht selten, dass Gott sich an der Welt freut und sich nach dem Menschen sehnt, und dass es Gottes „Freude [ist], bei den Menschen zu sein“ (Spr 8,31). Nicht nur um uns zu ertragen, zu versöhnen und zu erlösen. Sondern einfach so, weil wir ursprünglich seine Freude sind wie er unsere Freude ist. Fra' Georg Lengerke
Geistliche Übung im Advent 2 Petr 3,8-14 Am Freitag sind meine jährlichen Exerzitien zu Ende gegangen. Acht Tage im Schweigen, täglich eine Heilige Messe, Meditationszeiten, ein Begleitungsgespräch. Der hl. Ignatius von Loyola schreibt, diese Tage „geistlicher Übungen“ seien dazu da, „sein Leben zu ordnen“. Dabei stellen sich Fragen wie: Worauf kommt es in meinem Leben an? Was begegnet mir und was folgt daraus für mich? Wofür bin ich dankbar? Wie steht es um mein Gebetsleben, um die Beziehung zu meinen Nächsten und zu Gott, wie um Arbeit und Erholung, Ernährung und Bewegung? Was setze ich fort? Was beende ich? Was fange ich neu an? Was werde ich künftig anders machen? Dieses Jahr lagen die Exerzitien genau in der ersten Adventswoche. Der Advent ist ja – wie die österliche Bußzeit auch – als eine Art Exerzitienzeit gedacht. Eine Zeit, in der wir unsere Haltungen, unser Verhalten und unsere Verhältnisse überprüfen oder neu einüben – in Vorbereitung auf die Begegnung mit dem Kind in der Krippe. „Das Leben zu ordnen“ ist dann eine besondere Herausforderung, wenn die Welt in Unordnung ist – sei es in mir oder um mich – und ich daran gerade nichts ändern kann. Im Ersten Petrusbrief wird eine solche Unordnung beschrieben, und zwar in einem geradezu apokalyptischen Ausmaß: „Dann werden die Himmel mit Geprassel vergehen, die Elemente sich in Feuer auflösen und die Erde und die Werke auf ihr wird man nicht mehr finden.“ (1 Petr 3,10) Was heißt das jetzt, mein Leben zu ordnen in der Unordnung der Welt? Vielleicht können drei Gedanken in der zweiten Adventwoche hilfreich sein: Erstens geht es in Exerzitien und in der christlichen Spiritualität überhaupt zuerst um das, was ich mit Gottes Hilfe ändern kann, und um die Voraussetzungen, die ich schaffen kann, damit Gott mich und die Welt um mich herum verwandeln kann. Es geht nicht zuerst um die Unordnung der Anderen oder die der ganzen Welt. Die Verwandlung der Welt beginnt jetzt und hier, in diesem Augenblick und da, wo ich eben gerade bin. Und zweitens soll es uns um die Begegnung mit Gott in allen Dingen gehen. Mit jenem ganz anderen, ewigen und unbegreiflichen Ursprung und Ziel und Erhalter von Allem, der die Liebe ist. Dieser Gott offenbart sich als Mensch und kommt in die Welt. Und das auf dreifache Weise, sagen die frühen Theologen der Kirche: Er kommt „im Fleisch“, indem Er in der Geschichte Mensch wird und unser Leben lebt und liebt. Er kommt „in Herrlichkeit“, wenn die Welt und das Leben eines jeden Menschen ans Ziel kommt und wir Ihn „schauen von Angesicht zu Angesicht“ (1Kor 13,12). Und dieser selbe Menschgewordene (das Kind und der Herr der Geschichte) kommt „im Geist“, wo Menschen sich hier und heute für Sein Wort und Wirken öffnen und als Liebende und Geliebte füreinander da sind. Die Zeichen des Zerfalls, von denen die Heilige Schrift spricht, sind mehr als nur ökologische Phänomene, Veränderungen des Klimas oder die Folgen der grauenhaften Vergewaltigung der Schöpfung durch den Menschen. Sie sind Zeichen der Verwandlung in und um uns. Wir können sie nicht verändern. Sie verändern uns. Wir sollen uns ihnen stellen. In ihnen beginnt die Begegnung mit Jesus Christus „in Herrlichkeit“. Und das Dritte schließlich ist eine Veränderung der Perspektive, an die ich in der letzten Woche häufig gedacht habe. Oft habe ich nach Exerzitien Klarheit darüber, was ich tun soll. Dieses Mal habe ich vor allem Klarheit darüber, dass ich Gott in allen Dingen auf mich zukommen lassen soll. Das mag auch mit meiner jetzigen Lebensphase zu tun haben. Aber eigentlich soll es uns ja in jeder Lebensphase und in all unseren Plänen und Unternehmungen immer auch darum gehen: dass wir in allem mit der „Ankunft Gottes“ rechnen („im Fleisch“, „im Geist“ und „in Herrlichkeit“), mit dem Anbruch der Verwandlung hin zu einem „neuen Himmel und einer neuen Erde“, und dass wir von Ihm bereit und „in Frieden … angetroffen werden“, wann immer Er kommt. Fra' Georg Lengerke
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