Wandlungen von Zeitdeutungen beeinflussen den Wandel von Recht und Rechtswissen. Die Entwicklungsdynamiken dieser Verflechtungen in der europäischen Rechtskultur 1450–1750 sind Gegenstand des Vorhabens. Der Rechtshistoriker Prof. Dr. Andreas Thier (Universität Zürich) beleuchtet in seinem Vortrag die Entstehung von rechtlich verbindlichen Zeitregimen, die Bedeutung von Vergangenheiten und Ursprüngen für die Legitimation von Recht sowie den Stellenwert von linearen Zeitkonzepten.
Kleine, tragbare Objekte des christlichen Glaubens waren für die Mobilisierung und weltweite Formierung des frühneuzeitlichen Katholizismus sprichwörtlich unabdingbar. Gebetsperlen, Kreuze, Medaillen, Reliquien und Reliquiare, Amulette, Andachtsbilder und figürliche Darstellungen begleiteten europäische Seefahrer, Missionare, Kaufleute, Siedler und Siedlerinnen in die Neue Welt. Es war vor allem die ›physische Übertragbarkeit‹ der unzähligen Sakramentalien sowie die Möglichkeit, mit ihnen Handel zu treiben, die es der katholischen Kirche ermöglichte, zu Weltreligion zu werden. Anhand ausgewählter Objekte geht der Vortrag von Dr. Anne Mariss der Frage nach, wie sich die globale Verbreitung und lokale Aneignung von Rosenkränzen in transkultureller Perspektive historisch beschreiben und analysieren lässt.
Ägypten wurde im Zuge der arabischen Expansion Mitte des 7. Jahrhunderts erobert und in das erstarkende islamische Reich eingegliedert. Die Islamisierung der Gesellschaft trug im Wesentlichen zur Stabilisierung und Verstetigung der eroberten Gebiete bei. Am Beispiel der Stadt Assuan (Südägypten) analysiert die Ägyptologin Dr. Stefanie Schmidt, wechselseitige Prozesse der Identitätsbildung zwischen Muslimen und Christen.
Der pfälzische Bäcker Conrad Beissel wanderte nach Amerika aus, um die mystische Vereinigung mit Gott zu suchen. Der sächsische Jurist Christian Gottlieb Priber hingegen ging in die Neue Welt, um das Paradies auf Erden zu errichten; und der bergische Kaufmann Peter Hasenclever wollte dort eine geniale unternehmerische Idee verwirklichen. Von ihren Lebensgeschichten ausgehend erschließt der Vortrag von Prof. Dr. Mark Häberlein die Bedeutung der Faktoren Religion, interkulturelle Beziehungen und Ökonomie für die transatlantische Beziehungsgeschichte zwischen dem deutschsprachigen Raum und Nordamerika im 18. Jahrhundert.
Menschliche Körper und Aspekte von Körperlichkeit zählen zu den grundlegenden Kategorien, anhand derer Menschen zwischen Eigenem und Fremdem unterscheiden. In seinem Forschungsprojekt untersucht der Historiker Dr. Christian Hoffarth die Bedeutung des Körpers für die Wahrnehmung asiatischer, afrikanischer und amerikanischer Menschen in europäischen Reisetexten des Spätmittelalters. Es geht von der Annahme aus, dass die Beobachtungen und Erfahrungen spätmittelalterlicher Fernreisender großen Einfluss auf Wissensbestände über den menschlichen Körper in Europa übten und die Maxime der Überlegenheit des eigenen über den fremden Körper befeuerten.
Seit über 200 Jahren ist der „kleine Mann“ eine immer wieder beschworene Sozialfigur, ohne dass er soziologisch präzise bestimmt werden könnte. Eine von Abstiegsängsten geprägte Doppelrolle macht seine Bedeutung im Politischen aus. Denn „der Mann/die Frau auf der Straße“ bildet einen wesentlichen Teil des Souveräns. In „gebildeten“ Kreisen stellen die „kleinen Leute“ oft Antifiguren zur eigenen Bedeutsamkeit dar und sind durch beschränkten Ehrgeiz, Unauffälligkeit und Traditionsverhaftung definiert. Als vermeintlich „sprachloser“ Teils der Gesellschaft sind sie in politischen Reden und Feuilletons zugleich dauerhaft präsent. Das Projekt von Prof. Dr. Dirk van Laak spürt den Konjunkturen der Rede von den „kleinen Leuten“ aus der selbstkritischen Warte eines Historikers nach. Es vergleicht nationale Ausprägungen und kulturelle Repräsentationsformen und fragt, ob ein „Nachruf“ überhaupt angesagt ist.
Im Mittelpunkt des Projekts von Dr. Maximilian Schuh stehen Umweltwahrnehmungen im England des 14. Jahrhunderts, das aus klimageschichtlicher und epidemiologischer Perspektive eine Umbruchszeit darstellt. Die in unterschiedlichen Überlieferungsgattungen fassbaren Wahrnehmungen der natürlichen Umwelt in ihren politischen, ökonomischen und sozialen Kontexten zu verstehen, ist das zentrale Anliegen der Untersuchung. Dieses Vorgehen trägt nicht allein zum besseren Verständnis vormoderner Mensch-Umwelt-Beziehungen bei, sondern fördert darüber hinaus die kritische Bewertung des Umgangs mit natürlichen Einflüssen und ihren diskursiven Instrumentalisierungen in der Gegenwart.
Das Projekt, das 2022/23 am Historischen Kolleg durchgeführt wurde, fragt danach, wie sich über gut 250 Jahre seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, Straßenprotest als Medium zur Artikulation politischer und sozialer Unzufriedenheit entwickelte. Ausgehend von der mittleren Qing-Dynastie, dem transatlantischen Zeitalter der Revolutionen, über das Jacksonian, die europäischen Jahre um 1848, die indische Revolte 1859 und die beginnende Arbeiterbewegung erstreckt sich die Untersuchung bis in die Gegenwart. Ist hierbei so etwas sie wie eine universale „Körpersprache“ des Protests entstanden? Welche konvergierenden und divergierenden Prozesse lassen sich im globalen Vergleich beobachten? Was wird weitergegeben, was verschwindet? Wie hat sich Überliefertes an stets veränderte mediale und soziale Bedingungen angepasst? Warum verschwindet Straßenprotest nicht aus der Welt, wo wir uns doch heute online empören können? Warum braucht es weiter die „reale“ physische Präsenz dieser „widerständigen“ Körper an konkreten Orten, auf Straßen, Plätzen, oder gelegentlich in Forst oder Feld, damit ein Protestanliegen breit verfängt?
Das Projekt von Prof. Dr. Michael Grünbart widmet sich dem Umgang mit zufälligen Ereignissen und Beobachtungen, die als Vorzeichen gedeutet und akzeptiert wurden. Da herrscherliches Agieren ständig auf mannigfaltige Herausforderungen und Störungen stieß, erfuhren Vorzeichen in einem politischen Kontext eine entscheidende Aufladung: Sie lösten Reaktionen und Meinungen aus, die bewältigt werden mussten. Für die Deutung bemühte man Experten und Wissensressourcen. Die Studie versteht sich als ein Beitrag zum Verständnis von Coping-Strategien, Dynamiken politischen Entscheidens und Wegen der Meinungsbehauptung in einem vormodernen Machtzentrum.
In the Early Republic, the United States remained firmly within the British Empire of Goods, reflecting a sense of cultural insecurity that haunted the newly independent nation. At the same time, many Americans increasingly turned to French goods. What did these things mean to American consumers? As a cultural history of French things in the Early American Republic, Dr. Nadine Klopfer’s project tells a story of nation-building and social distinction in the post-revolutionary United States as an entangled history of trade, taste, and things, while shedding new light on French-American relations around 1800.
Das Forschungsvorhaben von Prof. Dr. Marcia C. Schenck widmet sich der Geschichte des Fluchtmanagements in Afrika. Anhand der Organisation für Afrikanische Einheit wird untersucht, wie sich Entwicklungs- und humanitäre Diskurse in der Figur des Flüchtlings kreuzten. Durch die notwendige und längst überfällige Aufarbeitung des Fluchtmanagements in der jüngeren afrikanischen Geschichte leistet das Projekt einen Beitrag zu aktuellen politischen Debatten über Afrika hinaus. Es zeigt auf, dass die Geschichte des Fluchtmanagements in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht als rein europäische Geschichte erzählt werden kann.
„Musik“ umfasst vielfältige Erscheinungsformen (Kompositionen, Theorie, lebensweltliche Praktiken), die erst gemeinsam den Gegenstand konstituieren, der auch in historischen Situationen perzipiert und konzeptualisiert wurde. Das Projekt untersucht die Bedeutung musikalischen Wissens für Gesellschaften der Frühen Neuzeit in Europa. Im Mittelpunkt stehen dabei etwa die Fragen: Welchen Stellenwert hatte Musik in den Wissensordnungen? Welche Musikauffassungen können für soziale Kontexte rekonstruiert werden? In welchem Verhältnis zum „Gewussten“ stehen musikalische Repertoires und Praktiken?
Prof. Dr. Johannes Heil widmet sich in seinem Forschungsprojekt einer Leerstelle jüdischer Geschichte und unternimmt den Versuch, jenseits der Bibel Überreste der jüdischen Textkultur des Westens bis zur Übernahme des rabbinischen Judentums (um 800) zu identifizieren. Es handelt sich dabei um Texte unterschiedlicher Gattungen in lateinischer Sprache wie etwa Pseudo-Philos „Liber Antiquitatum Biblicarum“ oder Texte des Pseudo-Hieronymus. Sie sind – soweit erhalten – in kirchlicher Überlieferung zu fassen, weil der Abschluss des Sprachenwandels im Hohen Mittelalter eine Überlieferung auf jüdischer Seite unterband.
Prof. Dr. Detlef Siegfried untersucht in seinem Forschungsprojekt, wie Elemente einer „post-nationalen“ Identifikation in Diskursen und Praktiken des linksalternativen Milieus in der Bundesrepublik Deutschland konstruiert wurden und welche Wertschätzung sie erfuhren. Im Fokus stehen dabei die Dänemark-Wahrnehmungen im westdeutschen Alternativmilieu, in dem Orientierungen jenseits des Nationalstaats systematisch zum zentralen Identitätsmerkmal erhoben und handlungsrelevant wurden. Erforscht werden milieuspezifische Diskurse und Praktiken, in denen derartige Identifikationen, aber auch gegensätzliche Tendenzen hervortraten.
Dr. Marco Swiniartzki unternimmt eine sowohl vergleichende als auch transferorientierte Untersuchung von acht lokalen bzw. regionalen Metal-Szenen, die zwischen den 1970er- und den 1990er-Jahren für die transgressive Weiterentwicklung des Extreme Metals verantwortlich waren. Dabei wird der Frage nachgegangen, wie die Entwicklung der Metal-Kultur „nach dem Boom“ sozial- und kulturgeschichtlich zu verorten ist. Die Studie wird einen Beitrag zur Erforschung einer sich globalisierenden (Jugend-)Kultur in der Phase der „Individualisierung“ leisten.
Prof. Dr. Annette Weinke nimmt in ihrem Forschungsprojekt euroatlantische Emigrantenjuristen, Wissenschaftler und Aktivisten in den Blick, die sich während und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an der Weiterentwicklung des Kriegsvölkerrechts, der Menschenrechte sowie des Flüchtlings- und Völkerstrafrechts beteiligten. Ihre Beschäftigung mit dem Internationalen Recht war nicht nur vom Aufkommen und Scheitern des liberalen Rechtsregimes der Zwischenkriegszeit geprägt, sondern entwickelte sich auch in offensiver Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und Faschismus sowie mit den Auswirkungen der Dekolonisierung.
Die Emigration deutscher Juden von Deutschland in die USA zwischen den Jahren 1933 und 1945 ist das Thema des Buches, das Prof. Dr. Andrea Sinn als Fellow des Historischen Kollegs München in Zusammenarbeit mit Dr. Andreas Heusler erstellt hat. Darin haben sie autobiographische Zeugnisse aus erster Hand gesammelt und kritisch ediert, um das Schicksal der circa 280.000 jüdischen Emigranten zu illustieren. In Ihrem Vortrag am Historischen Kolleg München gibt Professor Sinn einen Einblick in diese Lebensgeschichten und analysiert sie kritisch entlang der zentralen Begriffe "Herkunft" und "Heimat".
Stellvertretung im Mittelalter – Konzeption und Funktionalität repräsentativer HerrschaftStellvertretung war ein in allen Lebensbereichen des Mittelalters weitverbreitetes Phänomen, wurde aber von der historischen Forschung bisher kaum untersucht. Im Zentrum des Forschungsvorhabens steht die Frage, wie Stellvertretung das Funktionieren von Herrschaft garantieren oder sogar optimieren konnte. Ausgangspunkt ist die These, dass ein konzeptionell angelegter und auf Durchsetzung und Akzeptanz zielender Einsatz von personaler Stellvertretung stabilisierende Wirkung hatte, diese aber destabilisierend war, wenn Stellvertretung nur als notwendiges Übel aufgrund eines begrenzten Macht- und Repräsentationsradius restriktiv eingesetzt und reguliert wurde.
Dass Anti-Intellektualismus und Demokratiefeindlichkeit miteinander verwandt seien, ist eine für die Weimarer Republik oft vorgebrachte These. Dr. Susanne Schregel, Historikerin und Junior Fellow des Historischen Kollegs, beleuchtet diese Beziehung aus einer umgekehrten Perspektive. In ihrem Vortrag blickt sie auf Bewegungen der 1920er-Jahre, die ein „Denken für alle“ propagierten und auf eine bessere Beherrschung und Ausbildung individueller „Geisteskräfte“ ausgerichtet waren. Was zeigen Formen teilhabeorientierter Kognition in populären Denkratgebern, in Intelligenztrainings und im Umfeld der Denksportbewegung über den Zusammenhang des Denkerischen mit dem Demokratischen?
In ihrem Forschungsprojekt am Historischen Kolleg geht Prof. Dr. Petra Sijpensteijn der Frage nach, wie soziale Kohäsion im frühislamischen Imperium geschaffen wurde. Dazu untersucht sie die in literarischen Quellen überlieferten Hilfeersuchen, Beschwerden und Bitten um Wiedergutmachungen. In ihrem Vortrag, den die Wissenschaftlerin im Rahmen ihres Senior Fellowships hält, stellt sie eines der Dokumente vor, das die Grundlage für ihre Forschung bildet. Wie kann aus dem Quellenmaterial Wissen gewonnen werden? Wie nähert man sich den Dokumenten, die Aufschluss über Moralvorstellungen und gesellschaftliche Strukturen sowie die Rolle der Armenfürsorge bei der Schaffung konstanter Stabilität im Kalifat geben?