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Matthias Zehnders Wochenkommentar
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Matthias Zehnders Wochenkommentar

Author: Matthias Zehnder

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Matthias Zehnder gibt Ihnen hier jede Woche zu denken. Das Thema: Medien und die Digitalisierung. Das Angebot: Konstruktive Kritik.
204 Episodes
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Psychotherapie bedeutet wörtlich «Behandlung der Seele». Das wichtigste Mittel ist das psychotherapeutische Gespräch von Mensch zu Mensch. Heute muss man sich dafür nicht mehr auf ein Sofa legen, sondern sitzt einer Therapeutin oder einem Therapeuten gegenüber und spricht über Ängste, traumatische Erlebnisse und Probleme. Wenigstens war das bisher so: Neue Studien zeigen, dass die Künstliche Intelligenz in vielen Fällen die Rolle eines Therapeuten übernehmen, ja die Psychotherapie revolutioni...
1859 war sich Charles Baudelaire sicher, dass die «Kunst nichts anderes ist und sein kann als die genaue Wiedergabe der Natur». Er betont das, weil zu dieser Zeit eine neue Technik aufkommt: Die Fotografie bildet die Natur einfacher und genauer ab als jeder Künstler. Baudelaire spottet, die fotografische Industrie sei zur «Zuflucht aller gescheiterten Maler» geworden, der «Unbegabten und der Faulen». Die industrielle Bilderproduktion habe eine «allgemeine Überfütterung», eine «Verblendung und...
Ich habe manchmal den Eindruck: Wer alt wird, ist selber schuld. Das Wort der Stunde heisst: Longevity. Eigentlich heisst das auf Deutsch schlicht «Langlebigkeit». Aber Longevity meint mehr: Es geht um die Verlängerung der gesunden Lebensjahre. Auch dafür gibt es ein Fachwort: «Healthspan». Das ist die Lebenszeit, die wir frei von Krankheiten und bei guter Vitalität verbringen. Nichts gegen gesunde Ernährung und etwas Bewegung. Doch wenn ich mir die Longevity-Literatur so anschaue, blicken mi...
Kurz bevor die deutschen Truppen 1940 in Frankreich einmarschierten, beendete ein junger, algerisch-französischer Schriftsteller die Arbeit an seinem ersten Roman. Zwei Jahre später, am 19. Mai 1942, veröffentlichte Gallimard den Roman trotz deutscher Besatzung in Paris. Das Buch wurde als literarische Sensation gefeiert und avancierte zu einem der meistgedruckten französischen Romane des 20. Jahrhunderts. Das ist die Geschichte von «L’étranger», dem ersten Roman von Albert Camus. Er traf mit...
Zwischen Selbstwahl und Selbstoptimierung «Ich bin nicht Stiller.» Mit diesem Satz hat uns Max Frisch einen der stärksten Romananfänge beschert. Zugleich hat er eine Losung ausgegeben: Ich lasse mir von der Gesellschaft nicht vorschreiben, wer ich bin. Als der Roman 1954 erschien, stand Stiller für eine radikale Wende. Die Erfahrung der totalitären Gesellschaft in Nazideutschland und im faschistischen Italien und Spanien steckte den Menschen noch in den Gliedern. Es stellte sich die Frage: ...
Es war ein durchaus spannender Tag: intensive Diskussionen mit angehenden Managern über die Auswirkungen von KI in Unternehmen. Dabei war viel die Rede von smarten Zielen, von Effektivität und Effizienz und vom strategischen Dreieck zwischen Zielen, Ressourcen und Prozessen. Von der KI als Disruptor und als neues Werkzeug, als Beschleuniger, Effizienzmaschine und intelligenten Assistenten. Und dann hatte ich genug. Mir schien ganz plötzlich, dass all die Managementwörter, das Reden über Chanc...
«Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.» So beginnt «Die Verwandlung» von Franz Kafka. Wenn wir die Erzählung lesen, folgen unsere Augen den Buchstaben. Zeichen für Zeichen, Wort für Wort, Zeile für Zeile. Und dann passiert es: das Wunder des Lesens. Zwar folgen unsere Augen weiter den Buchstaben, den Worten, den Zeilen, aber wir sehen sie nicht mehr. Die Zeichen verschwinden, wir tauchen ein in ein...
Kann eine KI Sprache je wirklich verstehen? Was ist, wenn man simuliertes Sprachverständnis nicht mehr von richtigem Verständnis unterscheiden kann? Steckt in unseren Köpfen nicht auch irgendwie ein Large Language Model? Letzte Woche habe ich mit den Gedanken des Sprachphilosophen Gottlob Frege gezeigt, warum eine KI zwar verblüffend gute Texte produzieren, Sprache aber nicht verstehen kann. Darauf habe ich sehr viele Rückmeldungen erhalten. Vielen Dank dafür. Zustimmung und Ablehnung haben s...
Es gibt Wörter, die sehen gleich aus, haben aber einen unterschiedlichen Sinn. «Bank» zum Beispiel kann das Geldhaus meinen, aber auch die Sitzgelegenheit. Und es gibt unterschiedliche Wörter, die dasselbe bezeichnen. Dasselbe Zweirad bezeichnen Deutsche als «Fahrrad» und Schweizer als «Velo». Und dann gibt es Wörter, die einen unterschiedlichen Sinn haben, aber dieselbe Bedeutung. Das berühmteste Beispiel dafür ist «Morgenstern» und «Abendstern». Beide Wörter meinen denselben Planeten, die V...
Letzte Woche habe ich das Glück des Zufalls beschworen: Serendipity – das Finden von etwas, das man nicht gesucht hat. Alexander Fleming entdeckte so das Penicillin, weil eine Petrischale offen stehen blieb und Schimmel seine Bakterien tötete – ein glücklicher Zufall. Das dunkle Gegenstück zur Serendipity ist die Versuchung: eine Begegnung, die uns vom Weg abbringen will. Die Versuchung zieht oder lockt, meist wider besseres Wissen, in eine andere Richtung. Oft steckt in der Versuchung der Ge...
Letzte Woche habe ich unseren Gartentisch neu gestrichen. Er hatte es nötig. Als Unterlage habe ich eine alte Ausgabe der «Zeit» verwendet. Beim Streichen ist mir ein Artikel über Reichsbürger aufgefallen – bald legte ich den Pinsel aus der Hand und begann zu lesen. Das ist Serendipity: das glückliche Finden von etwas, das man nicht gesucht hat. Dem Zufall verdanken wir Penicillin, Teflon und Post-it-Zettel. Wir sollten ihn also pflegen. Doch das Gegenteil geschieht: Algorithmen und künstlich...
Letzte Woche habe ich an dieser Stelle gesagt: Seien Sie nicht naiv im Umgang mit KI – die KI ist schon naiv genug. Die Frage ist natürlich: Was heisst das? Sie und ich, wir sind alt genug, dass wir uns einen Reim darauf machen können. Aber was heisst das für die Schule? Welche Konsequenzen hat eine zwar naive, aber scheinbar allwissende KI für den Unterricht und für die Bildung insgesamt? Schüler und Studenten nutzen die KI mit Handkuss als «Cheat Machine»: als willkommene Abkürzung. Motto: ...
«In der ersten Halbzeit spielten wir naiv.» Das sagte kürzlich der Trainer des FC Luzern. Seine Defensive wurde vom frischen Angriff des Gegners «richtiggehend vorgeführt». Ähnlich erging es diese Woche dem Schweizerischen Bundesrat: Er wurde von Donald Trump vorgeführt. Der Bundesrat verhandelte mit ihm wie mit einem seriösen Staatsmann. Das war naiv: Die Schweizer hätten wissen müssen, dass man den Mann im Weissen Haus ernst nehmen muss, aber nicht wörtlich. Naivität auf dem Fussballplatz o...
2025 feiert die Schweiz offiziell ihren 734. Geburtstag – seit 1291, heisst es, besteht die Eidgenossenschaft. Das ist natürlich Mumpitz. Die Schweiz, wie wir sie heute kennen, gibt es erst seit 1848. Nach dem Sonderbundskrieg verwandelte die erste Bundesverfassung den losen Staatenbund in einen modernen Bundesstaat – mit Föderalismus, demokratischer Grundordnung, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten. Eigentlich müssten wir den Nationalfeiertag also am 12. September begehen, dem Tag, an dem d...
Jeden Morgen um sechs Uhr halte ich auf meiner Joggingrunde über Basel kurz inne und mache ein Foto. Ich befinde mich auf dem Bruderholz, dem Hügel südlich der Stadt – mein Blick geht nach Norden. Dort öffnet sich die Landschaft in einer ungewohnten Weite: über Strassburg und Karlsruhe bis nach Frankfurt. Das sind 300 Kilometer – eine Weite, wie wir sie in der Schweiz nicht kennen. Es entspricht etwa der Distanz Genf-Romanshorn. Wenn ich auf «meinem» Hügel stehe und nach Norden blicke, habe i...
Im Sommer verwandelt sich die Sonne am Mittag in jenen Feuerball, der sie tatsächlich ist: Um 13 Uhr Sommerzeit steht sie genau im Süden. Es ist der Zenit ihrer täglichen Reise über das Firmament. Die Schatten sind kurz, die Luft flirrt vor Hitze, selbst die Mücken machen eine Pause. Der Süden – das ist die glühende Mitte des Tages, der Moment voller Kraft. Seit jeher steht er deshalb für Reife, Stärke und Fruchtbarkeit – aber auch für Erschöpfung. Matthias Zehnder ist Autor und Medienwissens...
Wenn am Abend im Westen die untergehende Sonne den Himmel entzündet und in allen Rottönen zum Leuchten bringt, entflammen auch unsere Herzen: Es gibt nichts Schöneres. Ich erinnere mich, wie ich als Teenager die ersten Ferien am Atlantik verbrachte und mit Liedern von Jean-Jacques Goldmann im Ohr zum ersten Mal die Sonne im Atlantik versinken sah. Nie war die Sehnsucht grösser als in diesem Moment: die Sehnsucht, der Sonne nachzureisen, nach Westen, wohin das Licht geht. Matthias Zehnder ist ...
Jeden Morgen um sechs Uhr halte ich auf meiner Joggingrunde über Basel kurz inne und mache ein Foto. Im Winter ist es tiefschwarze Nacht auf dem Bild. Im Frühling färbt sich der Himmel von Woche zu Woche heller, bis im Frühsommer zum ersten Mal so früh am Morgen die Sonne zu sehen ist. Oft versteckt sie sich hinter Wolken – aber manchmal erscheint sie wie aus einem Kinderbuch: als lachende Kugel, die ihre Strahlen über die Stadt schickt. Matthias Zehnder ist Autor und Medienwissenschaftler in...
Letzte Woche habe ich Ihnen Sebastian Haffner in Erinnerung gerufen. Anhand von fünf Punkten aus seiner Autobiografie habe ich gezeigt, wie sich der Nationalsozialismus durchsetzen konnte – und warum diese Mechanismen auch unsere Gegenwart prägen, besonders im Medienbereich. Das hat bei vielen Leserinnen und Lesern Fragen aufgeworfen. Unsere Gegenwart und die 1930er-Jahre – die sind doch grundverschieden – gerade die Welt der Medien! Sind Sie sicher? Denken Sie daran, wie geschickt die ...
Diese Woche habe ich «Abschied» vorgestellt, einen frühen Roman von Sebastian Haffner – ein zartes, melancholisches Buch. Beim Lesen habe ich auch wieder zu seiner Autobiografie gegriffen: «Geschichte eines Deutschen – die Erinnerungen 1914 – 1933». Und sie hat mich umgehauen. Haffner beschreibt darin mit schneidender Klarheit, wie aus anständigen Menschen Mitläufer und aus Mitläufern Täter wurden. Warum ganz normale Deutsche plötzlich «Heil» schrien, Schaufenster zerschlugen, Juden jagten. U...
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