Er ging gemeinsam mit ihr zur hinteren linken Tür der Limousine, öffnete sie und half ihr beim Einsteigen. Dann lief er hinten herum zur rechten hinteren Tür, öffnete diese und kletterte selber in das Auto. Ein großer Audi. Das hatte er gesehen beim Blick auf das Hinterteil des Wagens. Etwas erstaunte ihn: Vorne saßen zwei Fahrer, der eine am Lenkrad, der andere auf dem rechten vorderen Sitz. Die Limousine ruckte los, musste aber sogleich wieder anhalten, da vor den Straßenbahnschienen und ebenfalls dahinter ganz altmodisch Schranken heruntergingen und die Weiterfahrt versperrten. ...
Er lief zu Fuß zurück ins Hotel. Zuerst zur Aachener Straße, etwas später überquerte er die Ringe am Rudolfplatz, sauste dann die Mittelstraße entlang an der Aposteln-Kirche vorbei zur Breite Straße. Von dort über die Nord-Süd-Fahrt in Richtung Dom und schließlich in das Hotel. An der Rezeption teilte man ihm mit, jemand habe telefonisch nach ihm verlangt. „Hat der eine Nachricht oder eine Nummer hinterlassen?“ „Nein“, antwortete der Portier, „Sie hat, nachdem ich ihr gesagt hatte, dass Sie nicht anwesend seien, sofort aufgelegt.“ „Sie? Eine Frau?“ Ein wenig grinste bei dieser Frage der Portier: „Ja. Eine weibliche Stimme. Ohne Zweifel. Und sogar, bitte verzeihen Sie diese Anmerkung, eine attraktive Stimme.“ ...
Das Flugzeug landete sehr früh am Morgen in Frankfurt. Während des Flugs hatte er selber gespürt, wie aufmerksam er ab jetzt alles um ihn herum beobachtete. Möglichst unauffällig, selbstverständlich. Oder war das egal? Konnte er ruhig allen zeigen, dass er merken würde, wenn etwas geschehen sollte? Auf jeden Fall hatte er sich im Flugzeug sehr genau versichert, wer in seiner Nachbarschaft saß. Selbst in der Nacht war er ständig aufgeschreckt, wenn sich etwas in seiner Nähe bewegt hatte. Aber nichts war passiert, er blickte jetzt nur sehr unausgeschlafen in die Welt. ...
Die Fähre legte ab, schwamm mit brummendem Motor zuerst für einige Minuten geradeaus und steuerte dann in einem großen Bogen weiter nach links. Er hatte sich an Bord sofort zum Bug des Schiffes begeben, die hölzerne Rückenlehne der Holzbank so gekippt, dass er vorne aus den Fenstern schauen konnte. Es gab Querverkehr, ein größeres Transportschiff schipperte in der Mitte dieser riesigen Hafenpassage quer zu den beiden Ufern und blockierte so für einige Zeit die Fähre. Die stand deshalb still und schwankte zuerst im eigenen Fahrwasser und dann in dem des sie passierenden Frachtschiffs. Aus den Fenstern heraus erblickte er die immer noch aufregende Skyline von Hongkong Island mit den vielen und teilweise sogar interessant gebauten Hochhäusern. Nun bewegte sich die Fähre wieder, und in einiger Entfernung erschien jene Kongresshalle „The Wing“. ...
In seinem Zimmer fand er hinter der Tür eine Notiz von Sam. Der erklärte darin etwas aufgeregt seine Irritation darüber, dass sie sich nicht getroffen hätten. Er zerriss die Notiz, warf sie in die Toilette und spülte sie weg. Dann schaltete er das Fernsehgerät an, wählte einen Hongkong-Sender, auf dem teilweise in englischer Sprache Pferderennen gezeigt und kommentiert wurden. Während er sich auszog, fiel ihm auf, dass der Kommentar solch eines Pferderennens sich anhörte wie die männlichen Artikulation beim Koitus: Zuerst beschreibt der Kommentator ganz ruhig den Start und die anfängliche Reihenfolge der Pferde. Je näher diese allerdings dem Ziel kamen, desto aufgeregter wurde er, bis sich schließlich am Höhepunkt kurz vor dem Ziel seine Stimme völlig überschlug. Und nach dem Ziel einfach Ruhe. Aus. ...
Außerhalb jener Tür befand er sich in einer kleinen Gasse. Kein Bürgersteig, lediglich eine holprige Fahrbahn. In der Ferne hörte er Schüsse. Kurz entschlossen rannte er in die Richtung der Gasse, aus der die Schüsse nicht kamen. Kein Mensch in der Gasse, nur er. Und dazu die Rückseiten von Häusern. Kahl, Beton, schroff. Nach etwa zweihundert Metern gelangte er an eine kleine Kreuzung. Geradeaus verlief die Gasse weiter, auf der er rannte, nach links und rechts zweigten andere ab. Immer noch alleine, ohne irgendwelche anderen Menschen, lief er weiter. Bis zu der nächsten Kreuzung. Diesmal mit einer breiten Straße, auf der sich sehr viele Menschen und Fahrzeuge bewegten. Er verlangsamte seinen Schritt, passte sich den anderen an. Als ob er Teil der Menge wäre. Dabei suchte er auf der Fahrbahn nach Taxis. ...
Die Limousine rollte über die nun wieder breiter werdenden Straßen und überquerte den Fluss. Das war eine andere Brücke als zuvor, kürzer. Direkt hinter dieser bogen sie links ab und gelangten so nach einigen Kurven an das Flussufer. „Das ist die Insel. Hier wohnen die richtig reichen Leute.“ August wirkte zwiespältig bei dieser Aussage, irgendwie stolz und etwas peinlich berührt zugleich. Ja, hier standen große Villen und einige attraktiv aussehende Apartment-Häuser. „Schau mal links. Da steht das Opernhaus von Zaha Hadid.“ ...
Das Schiff legte auf der rechten Seite des Flusses an. Alle nahmen ihre Koffer und Taschen, verließen über einen etwas wackeligen Steg das Boot und kamen in eine große kühle Halle. Dort stand man Schlange vor der Passkontrolle. Er entschuldigte sich bei August: „Ich muss schnell auf die Toilette. Pass bitte auf meinen Koffer auf.“ August nickte und zeigte mit dem linken Arm in Richtung einer kleinen Tür an der linken Seite der Halle: „Dort.“ Er lief schnellen Schrittes in jene Richtung, fand die Tür, kam in eine dieser furchtbaren chinesischen Toiletten mit dem Loch im Boden. Grauenhaft, wenn man mal den Darm entleeren muss. Zum Glück musste er nicht, zog lediglich sein mobiles Telefon aus dem Jackett und wechselte behände die SIM Card. Die alte steckte er in die andere Tasche seines Jacketts, dann wählte er eine Nummer in Hongkong. ...
Die Fähre hatte ihn auf die andere Seite zurückgebracht, er war mit einem Taxi ganz in die Nähe seines Hotels zu dem japanischen Nikko Hotel gefahren, dort hineingegangen, hatte die kleine Treppe in das Souterrain genommen, stand nun in einem ganz engen Raum an der Rezeption für die Fußmassage. Eine Chinesin bat ihn, sich hinzusetzen und die Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Als Ersatz erhielt er Schlappen. Etwas später nötigte ihn eine sehr alte Chinesin, sich an ein Waschbecken zu setzen, die Schlappen stehenzulassen, die Füße in das Becken zu stellen, auf dass sie Wasser laufen ließ, seine Füße einseifte und mit einer uralten Bürste rubbelte. ...
Tatsächlich kam der, den er angerufen hatte, nach etwa einer Viertelstunde. Der bestellte ein Bier, er noch einen Cocktail derselben Art. Worauf übrigens der Kellner lächelte und sich offensichtlich freute. „Sam. Wie gut, dich wiederzusehen.“ „Ganz meinerseits. Du siehst super aus.“ Der, den er Sam nannte, war ein etwa dreißigjähriger Chinese, schlank, ziemlich groß, jedenfalls größer als er, gekleidet in Jeans, weißem Hemd und blauem Sakko. Seine Stimme war ein wenig fistelig: „Gut, dass du wieder hier bist.“ „Aber du weißt auch, warum.“ „Klar. Du suchst nach den Fälschern.“ ...
Er verließ am Frankfurter Flughafen den Zug. Vor ihm ging eine mittelgroße Frau mit langen blonden Haaren, einer hellblauen Jacke und grauer Hose, die von hinten sehr attraktiv auf ihn wirkte. Und irgendwie geschah ihm, dass er ihr, ohne dies zu wollen, vielmehr zwangsläufig aufgrund des Wegs, über den Bahnsteig hinweg ebenso folgte wie auf den beiden Rolltreppen nach oben und dann durch die Menge der Menschen auf der Ebene in Richtung Flughafen hindurch, auf dem Rollband, das den Schritt virtuell beschleunigte, und an dessen Ende die Rolltreppe hinunter. ...
Er hatte in der Nacht zum Sonntag ruhig geschlafen, morgens geduscht und dabei umständlich sich selbst befriedigt, Weißbrot und Butter zum Frühstück gegessen und dann einfach Radio gehört und gelesen. Abends hatte er einmal kurz das Haus verlassen und war etwas konfus durch die Straßen gegangen. Nichts Aufregendes war geschehen, und selbst die schwarze Limousine hatte er nicht mehr wahrgenommen. ...
Er überquerte nun endlich die Apostelnstraße, ging, ohne diese zu beachten, an den Schaufenstern der vielen kleinen Läden vorbei bis zu einem Geschäft, über dessen Fenster ein Hirschgeweih hing und in dessen Fenster unterschiedliche Sorten von Fleisch zu sehen waren. Drinnen wurde er begrüßt: „Wie schön, Sie wieder zu sehen. Das muss ja fast ein ganzes Jahr her sein.“ Er nickte und kaufte dann zwei Wachteln und ein Paket gesalzene französische Butter. ...
Nein: Kein Regen oder Hagel, keine Katze vor der Tür und kein Hund, der herumwandert. Weder Donner noch die brennend heiße Sonne. Obwohl doch stets am Anfang stehen sollte: Der Regen prasselte auf den Asphalt, vor dem Haus suchte die Katze Unterschlupf in einer Tür, während ein Hund nass und trotzig an den Hauswänden entlang schlich. Da knallte in die Stille der Schuss. Die Katze fiel um, der Hund raste davon. Blut floss auf der Straße und vermischte sich mit dem Abwasser zu einer braunen Brühe. Aus einem Fenster entwich ein entsetzter Schrei, wenige Minuten später rannten zwei Männer auf der Straße herum. Doch der Regen ebbte ab, die Sonne jagte ihre Strahlen in die Gassen, so dass der Asphalt dampfte. Durch den Dunst brauste eine Limousine, krachte gegen einen Laternenmast und jagte dennoch davon. Mitten in Hannover. Stolzestraße. Doch das war längst dem Vergessen anheim gefallen. ...
Emil Lachhoffer: Celler Volksmöbel Auch diese Schrift des in Kalifornien lebenden Psychoanalytikers Emil Lachhoffer ist einer dieser typischen Michael Erlhoff-Krimis. Und wer es sich nicht gleich gedacht hatte: Der Autoren-Name ist ein Anagramm von Michael Erlhoff. Die Handlung spielt an mehreren Orten, Essen, Trinken und allgemeinere kulturelle Informationen und Reflexionen spielen eine manchmal größere Rolle als die Handlung selbst; obwohl Letztere sehr wohl zu einem gewissen logischen Schluss, einer Auflösung, führt, die übrigens ziemlich überraschend ist. Und mal wieder mit durchaus tragischem Ausgang für die Person, die da unter diversen falschen Namen recherchiert. Der Hintergrund der Story ist echt: Der Dadaist Kurt Schwitters hat in der Tat gemeinsam mit dem Celler Architekten Otto Haesler in den 1920er Jahren eine Reihe sehr preiswerter Sozial-Möbel – eben so genannte Celler Volksmöbel – entworfen, es existieren Fotos, wie einem zeitgenössischen Prospekt zu entnehmen ist. Allerdings sind diese Möbel nie irgendwann als produzierte gesichtet worden. In dem Roman nun startet Anfang der 2000er Jahre eine Jagd von diversen undurchsichtigen Seiten auf diese vielleicht doch vorhandenen oder gefälschten Möbel und auf andere Schwitters Kunstwerke. Gefährliche Verbindungen, Tote in Deutschland und Hong Kong, unseriöse Echtheits-Gutachten, merkwürdige Auktionshäuser und entsprechende Fälschungen verbinden sich in diesen „Celler Volksmöbeln“ mit Beschreibungen über Orte, kulturelle sowie Essgewohnheiten – und noch viel mehr.
Zwei Vögel hatten sich, unabhängig voneinander, mitten in einer Großstadt verflogen und waren, sicherlich gegenseitig voneinander überrascht, auf dem Dach eines Parkhauses gelandet. Wobei dieses Dach zugleich als oberstes Parkdeck fungierte. An diesem Tag am späten Nachmittag standen nicht mehr sehr viele Autos dort herum. Drei Volkswagen mittlerer Größe, ein Toyota, zwei BMW's, ebenfalls zwei SUV's von Mercedes. Großflächig über das Dach verteilt. Die beiden Vögel, übrigens eine Meise und ein Spatz, interessierten sich offenkundig überhaupt nicht für jene Autos. Vielmehr für ein kleines, aber immerhin etwa dreieinhalb Meter hohes Gebäude, das wie ein Daumen an der Vorderseite des Daches hervorragte. Eigentlich kein aufregendes Bauwerk, Sichtbeton an den Seiten und Ecken sowie oben drauf. ...
Sie sitzen zu dritt in dem hinteren geschlossenen Teil eines Lieferwagens. Das ist nicht sehr komfortabel, kann man jedoch für sich aufwerten. Denn in diesem winzigen Raum befinden sich neben den drei Leuten sechs Monitore mitsamt etlichen Kabeln und zusätzlich Kopfhörern. Außerdem sind die Fenster so gestaltet, das man nicht hinein-, wohl aber hinausgucken kann. Vorne sitzt kein Fahrer, und der Lieferwagen parkt in der Nähe des Hotels Bristol in der Bonner Innenstadt. Es ist kurz nach 2:00 Uhr nachmittags, die Atmosphäre im Lieferwagen wirkt ziemlich locker. Der eine der beiden Männer, Egon Bose, ...
„Ladies und Gentlemen“, an diesem zweiten Abend war die Kongresshalle ebenso bis auf den letzten Platz gefüllt wie am Abend zuvor, und die Moderatorin verfügte offenbar über ein neues Rollensystem, denn sie tänzelte regelrecht zum Mikrofon, während ihre Laserstrahlen durch den ganzen Raum sausten und ihn in blendendes Licht tauchten: „Ladies und Gentlemen. Ich bin sehr glücklich, dass Sie heute Abend erneut den Weg zu unserem Kongress gefunden haben. Das ist wunderbar.“ Sie klatschte selber mit ihren Flächen und animierte so auch das Auditorium zum Applaus. ...
„Sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüße Sie hier aus Pirmasens. Ja, der Fernsehsender, dessen Sendung Sie heute Vormittag beiwohnen, hat mich überredet, zum ersten Mal meine Situation in diesem Unternehmen öffentlich zu machen.“ Man sieht auf den eingeschalteten Bildschirmen einen Mann mit grauen Haaren, etwas schütter vor allem im Bereich der Stirn, kantige Gesichtszüge. Sichtbar sind derzeit außerdem die oberen Teile eines hellgrauen Jacketts, eines weißen Hemdes und einer blau-grau gestreiften Krawatte. Im Hintergrund eine geriffelte Wand aus – das ist deutlich zu sehen – Holz. ...
Sie hatten sich am Abend zuvor beim Essen nach dem Kongress des internationalen Mathematiker-Verbands besser kennen gelernt. Während des Tages hatte der eine von ihnen, ein Chinese aus Taiwan, einen längeren Vortrag über die Primzahlen und die Unendlichkeit gehalten, der andere, ein deutscher Wissenschaftler aus Hannover, hatte über die Null und neue Probleme damit gesprochen. Da beide sich zugehört hatten – was bei Kongressen wirklich nicht üblich ist – und am Tisch für das Abendessen nebeneinander gesessen hatten, hatten sie zuerst über ihre Themen diskutiert. Zeit genug war dafür, denn berauschend war das Essen nicht gewesen: zwar zuerst Risotto und dann Mailänder Schnitzel, das man auch Wiener Schnitzel hätte nennen können, doch alles war ziemlich lieblos gekocht gewesen. Später am Abend hatten sie noch gemeinsam etwas Wein getrunken und waren dabei in ihrem Gespräch fast zwangsläufig auf den Tod gekommen, denn der bei allen sehr beliebte Vizepräsident des Verbandes, Lewis Smithson, war kurz vor dem Kongress verstorben, was im Verband und bei dessen Mitgliedern sowohl zu einigen Debatten über die Nachfolge als auch zu einer Schweigeminute geführt hatte. ...