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SWR2 Zeitgenossen
Author: SWR
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Wir sprechen jede Woche mit Zeitgenossen, die auf einen besonderen Lebensweg zurückblicken: Sie sind Aktivist*innen, Künstler*innen oder Forscher*innen. Sie haben Zeitgeschichte erlebt und geprägt – und sie haben viel zu erzählen. Zur ARD Audiothek: https://www.ardaudiothek.de/sendung/swr2-zeitgenossen/8758618/
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Er nennt sich seit mehr als 60 Jahren „Totalkünstler“. Erklärte sich als junger Mann zum „ersten lebenden Kunstwerk“. Organisierte eine „Selbstausstellung“. Und wurde 1975 bekannt durch den Spruch „Ich kann keine Kunst mehr sehen“: eine Aktion bei der Art Cologne, wo er mit einem Blindenstock über die Kunstmesse ging, als Postkarte bis heute in Museumsshops erhältlich. Vor allem ist der documenta-Teilnehmer Timm Ulrichs ein Konzept-Künstler mit Humor. Zum Beispiel in der Skulptur „Sitzender Stuhl“: die hinteren Beine abgeknickt, so dass der Stuhl sitzt, man sich aber nicht auf ihn setzen kann.
Franz Escher wartet auf den Elektriker. Mit solchen Situationen beginnen bei Wolf Haas große Romane. In diesem Fall „Wackelkontakt“, sein neuer. Am Ende ist der Handwerker tot. War der real? Wie schon „Verteidigung der Missionarsstellung“ ist es ein Roman im Roman: Ein Mafioso sitzt im Gefängnis, kann nicht schlafen, liest ein Buch, über Franz Escher, der wartet auf den Elektriker. So hinterfragt Wolf Haas das Verhältnis von Realität und Fiktion. Mit Katastrophen und Komik. 2023 kündigte er an, dass es keine Bücher mehr von ihm geben werde. Vielleicht sagte dies nur ein literarisches Ich.
Und jetzt – Hoffnung? In diesen Zeiten? Ja – wenn es sich um das Gegenteil von naivem Optimismus handelt: als vernünftiges Verhältnis zur Welt. Damit wir nicht ständig mit dem Schlimmsten rechnen. Meint der Historiker Philipp Blom. Immer schon hat Philipp Blom einen besonderen Blick auf Geschichte. Wenn er über „Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung“ nachdenkt. Europa als „taumelnden Kontinent“ porträtiert. Die „inneren Kriege“ moderner Gesellschaften kennzeichnet. Oder erklärt, „was auf dem Spiel steht“ – die „freie Gesellschaft“. Außerdem verfasste er ein Standardwerk über österreichische Weine.
„Lieber Gott als nochmal Jesus“ nennt Ilja Richter sein neues Buch und erzählt darin auch seine Geschichte – als Sohn einer Jüdin, die die Shoah dank einer gefälschten „arischen“ Identität überlebte, und eines Kommunisten, der während der NS-Diktatur jahrelang in Konzentrationslagern interniert war. So sucht er nach einer biografischen und religiösen Identität „zwischen Kreuz und Davidstern“. Seine Bühnenkarriere begann er mit neun Jahren. In den 70ern wurde er durch die ZDF-Sendung „disco“ bekannt. Spielte Theater, von „Hello Dolly“ bis „Richard III“. Und ist heute mit Solo-Shows unterwegs.
Plötzlich verweigern sich drei Frauen. Wollen nicht mehr für Kinder, Küche, Kranke sorgen. Eine Geste der Erschöpfung. Die österreichische Autorin Mareike Fallwickl beschreibt dies in ihrem Roman „Und alle so still“ als ultimativen Streik. Kein Sex-Streik, wie beim antiken Vorbild Lysistrata: Hier ruht die Care-Arbeit. Schon in „Die Wut, die bleibt“ beschreibt sie, was passiert, wenn eine erschöpfte Mutter aufgibt – die Familie versinkt in Chaos und Schock. „Heute ist ein guter Tag, das Patriarchat abzuschaffen“ heißt der Sammelband, in dem sie die Frage stellt: „Aber was ist mit den Männern?“
Die Mitte der Gesellschaft teilt zunehmend demokratiefeindliche und rechtsextreme Einstellungen. Das ist das Ergebnis der Studie „Die distanzierte Mitte“ unter Leitung des Gewalt- und Konfliktforschers Andreas Zick: Jede zwölfte Person in Deutschland hat ein rechtsextremes Weltbild, fast jede*r dritte teilt völkische Ansichten. Was sich zeigt, wenn auf Sylt „Deutschland den Deutschen“ gegrölt wird. Oder die AfD nicht trotz demokratiegefährdender, menschenfeindlicher Parolen gewählt wird, sondern deshalb. Insgesamt, meint Andreas Zick, finde eine Normalisierung rechtsradikaler Positionen statt.
„Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher“. Der Titel sagt alles über strukturelle Armut und fehlende Möglichkeiten sozialen Aufstiegs in Deutschland. Oder einfach über „die Lüge von der Chancengleichheit“. Davon handelt das aktuelle Buch von Ciani-Sophia Hoeder. Sie war 14 Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter zum ersten Mal zur Berliner Tafel ging und sich dafür schämte, dass die Familie arm war – weil Armut immer noch als persönliches Versagen gilt. Nach dem Studium in London arbeitete die Journalistin für die WELT. 2019 gründete sie RosaMag, ein Online-Magazin für Schwarze Frauen in Deutschland.
„Gegen Frauenhass“ heißt das aktuelle Buch der Strafverteidigerin Christina Clemm. Der Titel ist Programm. Schon in „AktenEinsicht“ erzählt sie Geschichten von Frauen, die körperlicher und sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren: in der Familie, bei der Arbeit, beim Arzt oder auf offener Straße.
Ein alltägliches Phänomen: Jeden dritten Tag stirbt in Deutschland eine Frau, weil sie von ihrem (Ex-) Partner umgebracht wird. Zentral ist für Christina Clemm die Frage: Wie können Frauen Selbstachtung und Selbstbestimmung wiedererlangen? Studiert hat sie in Freiburg und Berlin, wo sie heute lebt.
Kochen im falschen Jahrhundert. Wie das geht, zeigt die Schriftstellerin Teresa Präauer in ihrem gleichnamigen Roman. Das Buch enthält viele Rezepte. Auch Kochrezepte. Vor allem aber Möglichkeiten – fast Anleitungen – wie man Leute einlädt und bewirtet. Wie Überraschungen entstehen. Situationen entgleisen. Und woran alles scheitern kann. Letztlich ein Abendessen mit Gästen in verschiedenen Variationen, als wär‘s ein Kammerspiel mit einer Vorliebe für Konjunktive. Und mit sehr viel Witz. Teresa Präauer hat Kunst studiert. Deshalb auch den Einband des Romans selbst gestaltet. Sie lebt in Wien.
Die Heilige Familie ist so etwas wie unser Urbild der Kernfamilie: Mutter, Vater, Kind. Wie sehr prägt die Weihnachtsszene unsere Vorstellung von Familie? Und wie sehr weicht sie, wegen der unehelichen Geburt, davon ab? Die Soziologin Sylka Scholz beschäftigt sich mit dem Wandel der Familienbilder: von Regenbogen, Co-Parenting und Patchwork bis Alleinerziehend. Gerade im Osten Deutschlands, wo sie forscht, wurden im Sozialismus die Modelle von Versorger versus Hausfrau aufgelöst. Was bedeutet das für die Vorstellungen von Männlichkeit? Auch das ist ein Schwerpunkt Ihrer Forschung.
„Ein sicherer Ort ist der, an dem nicht jemand anders bestimmt, wer ich zu sein habe“. Schreibt Laura Cazés in dem von ihr herausgegeben Band „Jüdischsein in Deutschland“. Vor allem die Perspektive einer jüngeren Generation, die nicht über die Vergangenheit definiert werden will, kommt darin zum Ausdruck: „Wir wollen kein lebendes Mahnmal sein – nicht ständig über die Shoah, über Antisemitismus, über den Nahostkonflikt sprechen“.
Der Vielfalt jüdischen Lebens begegnet Laura Cazés, geboren 1990 in München, auch im Beruf, bei der „Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland“ in Frankfurt
Aua!“ Unter diesem Titel hat der Bestsellerautor Axel Hacke „Die Geschichte meines Körpers“ geschrieben. Er blickt auf fast sieben Jahrzehnte Ko-Existenz mit diversen Funktionen innerer und äußerer Organe zurück. Inklusive der Schilddrüse – von der er bis zu einer Dysfunktion derselben bis vor kurzem nicht wusste, dass er sie hatte.
Auch inklusive Penis. So entstand die intime Biografie eines körpersensiblen Autors, vulgo Hypochonders, der seine Karriere als Journalist beendete, weil ein Tinnitus ihm Warnsignale sandte – und als Publizist heute bekannt ist für „Das Beste aus meinem Leben“.
„Requiem für Alice“ heißt die Performance, mit der Elia Rediger künstlerisch gegen rechtsextreme Positionen protestiert. Geboren 1985 in Kinshasa als Sohn Schweizer Entwicklungshelfer, arbeitet der Komponist, Musiker und Regisseur immer politisch. Etwa, wenn er mit einem „Minenoratorium, frei nach Händel“ gegen Ausbeutung im Kongo protestiert. Mit einem „ur-demokratischen Wahl-Song“ von 104 Urhebern und dem Motto „Mut, Chaos & Lockerheit“ kandidierte er für das Amt des Bürgermeisters in Basel. „Macht der Künste“ war auch sein Thema an der Deutschen Oper Berlin: im Format „Aus dem Hinterhalt“.
Was bedeutet Normalität, wenn rechtsradikales Denken salonfähig wird? Und eine rechte Partei mit dem Slogan „Deutschland, aber normal“ wirbt? Normalität – zeigt Hito Steyerl bereits in ihrer gleichnamigen Serie von Video-Arbeiten aus den 1990er Jahren – wird dann zum Bedrohungsszenario für alle, die nicht unter die Norm fallen. Bekannt ist sie heute vor allem für ihre Video-Essays, zum Beispiel für die Arbeit „Is the Museum a Battlefield?“ über Kunst-Sponsoring von Rüstungskonzernen. Vom Magazin „Art Review“ wurde Hito Steyerl als einflussreichste Persönlichkeit in der Kunstwelt bezeichnet.
„Mit nur zehn Worten Jiddisch“. So kam Robert Ogman nach Deutschland, der Liebe wegen. Geboren wurde er in New York, aufgewachsen ist er in New Jersey. Heute lebt der Politikwissenschaftler in Konstanz, arbeitet für die Kulturregion Stuttgart und will die Normalität jüdischen Lebens zeigen. Vor allem, wenn er in Schulen spricht. Über die Geschichte seiner Familie, die vor Gewalt gegen Juden in Osteuropa floh. Über die Realität, als Jude wieder von Vernichtungsfantasien bedroht zu sein. Und über Optionen für friedliche Koexistenz. Zum Jahrestag der antijüdischen Pogrome 1938 in Deutschland.
Mit dem „House of Saint Laurent“ prägte Sophie Yukiko die deutsche Voguing- und Ballroom-Szene, ursprünglich eine queere Schwarze Subkultur in New York, heute auch eine wichtige Inspiration für Mode und Mainstream, von Dior bis Beyoncé.
Als Choreografin beschäftigt sie sich mit exzessivem Tanz als spiritueller Praxis und dem Erbe westafrikanischer Schwarzer Kulturen in Techno und Rave.
Auch ihr Tanzfilm „Indigo“ erinnert an solche fast vergessenen transatlantischen Verbindungen. Dabei setzt sie „Erbwissen versus Erbtrauma“. Als Performerin tanzt sie im Schlagerballett „Ich nehm dir alles weg“.
Plötzlich stirbt der eigene Sohn. Und dann wird auch noch festgestellt, dass sie selbst unheilbar herzkrank ist. Aber endlich beziehungsfähig. „Was ist schon für immer“. Nennt Katja Lewina ihr neues Buch über das „Leben mit der Endlichkeit“. Bekannt wurde sie durch die ebenfalls persönliche Veröffentlichung „Sie hat Bock“: über weibliches Begehren und sexuelle Ungleichheit. Anschließend kontaktierte sie zehn Ex-Partner und sprach mit ihnen über vergangene Beziehungen. Und „was so alles schiefgehen kann“. Katja Lewina, geboren 1984 in Moskau, lebt bei Berlin und publiziert unter Pseudonym.
„Aufgrund meiner Wurzeln bin ich mit dem Nahostkonflikt aufgewachsen“. Jouanna Hassoun wurde im Libanon als Tochter palästinensischer Flüchtlinge geboren und floh mit ihrer Familie im Alter von 6 Jahren nach Deutschland. „Wie wir über Israel und Palästina sprechen“ heißt der „Trialog“, den sie gemeinsam mit Shai Hoffmann, deutscher Jude mit israelischen Wurzeln, schon in vielen Schulen geführt hat. Um über Ursachen und Eskalation der Gewalt in Nahost und deren Auswirkungen auf jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland zu informieren. Vor allem, um zu zeigen: ein Miteinander ist möglich.
Von der Opulenz des Barock bis zum Minimalismus der Molekularküche: Ute Cohen untersucht in ihrer Geschichte der Kulinarik den „Geschmack der Freiheit“ – wie die europäische Restaurantkultur entstand und was sie uns heute bedeutet. In Paris war sie als Kommunikationsberaterin lange für amerikanische Unternehmensberatungen tätig. „Poor Dogs“ heißt ihr Roman über Menschen im Finanzkapitalismus, wo alles, auch das Privatleben, einer Kosten-Nutzen-Rechnung folgt. Und Business-Modelle selbst das Liebesleben prägen: „Sex war auch nichts anderes als Körperpflege“. Ute Cohen lebt in Berlin.
Mwangi Hutter ist ein Künstler-Duo mit einer Persönlichkeit: „die Geschichte zweier Individuen, die zu einem Künstler verschmelzen“. So stellt sich das Paar auf seiner Website vor. In ihrer Kunst zeigen Mwangi Hutter, wie konventionelle Vorstellungen von Identität und Geschlecht, sozialer und kultureller Herkunft überwunden werden können. Geboren in Nairobi und in Ludwigshafen am Rhein, haben sich die beiden während des Studiums in Saarbrücken kennengelernt. Ihre Arbeiten wurden bei der documenta, bei der Biennale von Venedig, im Brooklyn Museum New York und im Centre Pompidou Paris gezeigt.
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