Kapitel 22 - Bockwurst
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Li CiWen, Hiddensee, 7. Februar
Maren und Charlotte hatten Li am Abend nach ihrer Rückkehr aus Rostock von der Pension aus angerufen und die freudige Nachricht überbracht, dass die Fähren am nächsten Tag wieder fahren würden. Außerdem schilderte ihm Charlotte detailliert, wie die Gegenüberstellung gelaufen war. Er konnte sich gut in die Kriminalhauptkommissarin hineinversetzen. Nach Jahren in der organisierten Kriminalität hatte er oft genug erlebt, dass man die Schuldigen nicht zu fassen bekam. Zumal Cheung nur ein kleiner Fisch, eine empathiefreie Drohne, ein Auftragskiller war. Die Drahtzieher hatten Lim Tok und er auf Lamma gesehen. An die würden sie, sobald nicht herankommen. Jedoch konnte man gehörig Sand ins Getriebe kippen. Li CiWen wollte Cheung nicht davonkommen lassen. Er rief seinen Kontaktmann in der Botschaft an und erklärte ihm die Situation. Die hatten Mittel und Wege, den Aufenthalt des Mafiosos zu verlängern. Außerdem grasten die Engländer ihre Datenbanken nach Cheung ab. Selbst wenn sie ihn am Ende nicht verurteilen konnten, für die Drei Harmonien war er verbrannt.
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</figure>Sein nächster Anruf galt dem Freund der Familie. Fabian Meyerfeld konnte endlich ein wenig Klarheit in die Boshanlu-Sache bringen. Es gab nach dem Krieg den Verdacht, dass die alten Reeschs, beim Versuch zu Hamstern sich an dem Eigentum der Hinrichs vergriffen hatten. Möglicherweise hatten sie das Teil auf dem schwarzen Markt verkauft und so ist es dann nach England gelangt. Wie die Thomas‘ das Boshanlu zur Insel zurückverfolgen konnten, blieb ein Rätsel. Vielleicht war es aber auch genau andersherum und Arnim Reesch hatte die Thomas‘ auf sich gebracht. Auf jeden Fall bestanden Chancen, dass die Hinrichs gänzlich aus dem Fall heraus blieben. Außerdem ergab die Überwachung von Christine Thomas im Moment keinen Hinweis darauf, dass sie Informationen weitergeben konnte. Die Insellage spielte ihnen in die Hände.
Li CiWen beschloss, den letzten Tag in Rostock ein wenig zu genießen. Er bummelte zu den Orten, von denen ihm sein Großvater erzählt hatte und die indirekt seine Geschichte geschrieben hatten. Die Lagerstraße lag unter einer dicken Schneedecke. Anstelle der alten Weingroßhandlung stand ein schmuckloses Gebäude mit einer großen Toreinfahrt. Er ging weiter hinunter Zum Strande und blickte über die Warnow nach Gehlsdorf. Großvater hatte ihm erzählt, dass Lisas Eltern da drüben wohnten und sie letztlich im Streit auseinandergingen. Hier irgendwo lag auch der Schoner Otto Artel, der Hans und Lisa in das größte Abenteuer ihres Lebens mitnahm. Li CiWen fragte sich, wie er sich entschieden hätte. Ja, heute war das alles kein Problem mehr – theoretisch zumindest. Aber vor hundert Jahren? Ihm wurde bewusst, dass Hans und Lisa nicht nur gute Menschen mit einem großen Herz waren, sondern auch besonders mutig. Er ging ein Weilchen die Strandstraße entlang und wandte sich dann zum Neuen Markt. Es war Freitag Abend. Mit etwas Glück konnte er in der Ratsapotheke noch Halspastillen, Lippenbalsam, Sonnencreme und was man sonst auf der Insel brauchte, kaufen. Großvater erzählte, dass sie sich dort wie Trockenfisch vorkamen. Seine junge Frau kämpfte tapfer für ihren weißen Teint. Verlor am Ende jedoch, da kein Sonnenschirm dem Wind standhielt und die Sonne sowieso von überallher reflektiert wurde. „Keine Insel für chinesische Frauen“, sagte der alte Li Li. Damals kaufte Hans mehrere Kilos von Gädeckes Kokain, Erythroxylin genannt, in der Ratsapotheke. Auch sein Großvater hatte von dieser Charge gekostet, als ihm ein vereiterter Backenzahn extrahiert werden musste. Verrückt, dachte Li CiWen, wie viele Kreise sich hier schlossen.
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</figure>Li CiWen brach früh auf. Das grauenhafte Wetter der letzten Tage war endlich vorbei. Die erste Fähre sollte um zehn Uhr von Schaprode abfahren. Er fuhr der Sonne entgegen. Bald würde er Maren wiedersehen. Leider zog sich der Fall immer weiter hin. Der Kommissarin fehlten handfeste Beweise. Er hatte so ein paar Ideen, wie er den Prozess beschleunigen konnte. Sein Telefon klingelte.
„Wei?“, hörte er Maren am anderen Ende.
„Guten Morgen Maren! Was gibt es?“
„Nichts Gutes. Es gibt einen zweiten Toten. Arnim Reesch ist tot. Er ist auf die gleiche Weise ums Leben gekommen, wie auch Reginald Thomas.“
„Verdammt!“, sagte Li CiWen. „Ich habe sowas beinahe kommen sehen. Habt ihr gemacht, um was ich euch gebeten habe?“
„Ja, ich erzähl dir alles, wenn du hier bist. Nicht am Telefon. Nur soviel, du hattest recht.“
„Alles klar. Ich bin schon auf Rügen und werde gleich in Schaprode ankommen. Bis gleich, mein Schatz.“
In dem Moment, wo er das Gespräch beendet hatte, fuhr er auf den großen Schaproder Fährparkplatz. Die Fähre lag schon an dem Pier. Es warteten sehr viele Menschen darauf, auf die Fähre gehen zu können. Li CiWen holte sich ein Ticket. Meine Güte, dachte er, so viele Menschen wollen auf diese Insel und noch dazu im Februar. Er war gespannt, was ihn da drüben erwartete.
An Bord ging er die Treppe hoch ins Restaurant, setzte sich an ein Fenster und schaute interessiert zum Kai hinüber. Er bestellte das Sonderangebot: 1 Pott Kaffee + 1 Bockwurst mit Brötchen für 2.90 Euro. Etwas aus der Zeit gefallen, dachte er bei sich, aber schön. Die Sonne fiel flach in den Gastraum und ließ den durch die Touristen aufgewirbelten Staub flimmern. Alle Farben glitten in leuchtendes Sepia hinüber. Die Stühle mit den königsblauen und purpurroten Bezügen verwandelten die Kantine in einen Warteraum für Könige.
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</figure>Li CiWen beobachtete die Ankömmlinge. Er kannte sich ein wenig mit deutschen Dialekten aus. Neben denen ohne Dialekt waren die meisten Besucher Sachsen, gefolgt von Berlinern. Doch er hörte auch den breiten hessischen Dialekt, säuselndes schwäbisch und eine fränkische Reisegruppe aus Nürnberg, wie man dem Gruppenfähnchen entnehmen konnte. Das war nichts im Vergleich zum chinesischen Massentourismus, aber die Richtung war schon mal eingeschlagen. Zur Hochsaison würde er nicht auf die Insel fahren wollen.
Unter all den Sprachen und Dialekten hörte er auch ein akzentuiertes Englisch. Er blickte sich nach der Quelle um und entdeckte zwei Männer in den Enddreißigern – durchtrainiert, hochgewachsen, Bürstenschnitt. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn die nicht aus Lim Toks altem Verein stammten, dachte Li CiWen. Die beiden holten sich eine Cola und kamen dann zielsicher auf ihn zu und fragten, ob an seinem Tisch noch alles frei wäre. Lächelnd wies er auf die freien Plätze. Immerhin versuchten sie, wenn auch mit wenig Talent, Touristen zu spielen. Sie fragten ihn, ob er ein Hotel empfehlen könne, wie oft er schon auf der Insel war, woher er denn komme und vieles mehr. Li CiWen ging auf den Small Talk ein und erzählte in einem brüchigen Englisch, dass er beruflich hier sei, er arbeite in der Tourismusbranche, Hotels kenne er keine, wäre auch sein erstes Mal und dass er aus Xiamen komme, welches die Engländer als Amoy kennen. Er kannte sich in englischen Dialekten nicht so gut aus und war froh, wenn er per Zufall Schotten, Iren, Waliser und Londoner auseinanderhielt, doch er beschloss, einen Schuss ins Blaue zu wagen.
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</figure>„Ihrem Dialekt entnehme ich, dass Sie aus Kent stammen. Sind Sie aus Canterbury? Oder Maidstone?“, schob er hinterher. „Ich war mal dort, bei einer Bekannten. Oh Mann, was haben wir für Mengen Apfel-Cidre getrunken. Ich konnte mehrere Tage nicht aus dem Haus.“
Er sah den beiden an, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Das war das Problem mit diesen Engländern: Das spezielle Englisch der Chinesen, deren Größe und das stets freundliche Gesicht, lösten bei ihnen eine spezifische Überheblichkeit aus. Li CiWen nannte das in seiner Küchengenetik das Empire-Gen. Es gab eine Zeit, da hatte er sich darüber geärgert. Doch im Laufe seines Berufslebens hatte er gelernt, dass die, die dieses Gen machen ließen, sich mehr schadeten, als sie Li ärgern konnten. Diese beiden Geheimdienstler unterschätzen ihn, und das war gut so. Sie verloren ihr Interesse an ihm und das Gespräch schleppte sich aus reiner Höflichkeit bis zur Durchsage des Kapitäns hin, dass sie gleich Vitte erreichen würden. In Touristenmanier zog er sich an, nahm seine Kamera heraus und fotografierte die Ankunft. Unter den scheinbar wahllos geschossenen Bildern waren ein paar schöne Porträts der Engländer, die sich zu spät weggeduckt hatten. Li CiWen winkte ihnen freundlich zu und hob den rechten Daumen in die Höhe. Sowie er einen Internetanschluss zu fassen bekam, musste er Meyerfeld die Bilder mailen.
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<figcaption>Rostock Vacation</figcaption></figure>In Vitte hatten sich ebenfalls viele Menschen am Anleger versammelt. Kein Wunder, saßen doch einige hier die letzten Tage unfreiwillig fest. Eigentlich eine unangenehme Situation. Dennoch herrschte am Pier Volksfeststimmung. Man rief sich gegenseitig Wörter zu, die Li nicht verstand. Irgendwas mit zu spät kommen. Die Leute auf dem Schiff,



