DiscoverScience on Player FMSchuld sind immer die anderen! Warum wir einen Sündenbock brauchen - radioWissen
Schuld sind immer die anderen! Warum wir einen Sündenbock brauchen - radioWissen

Schuld sind immer die anderen! Warum wir einen Sündenbock brauchen - radioWissen

Update: 2024-09-24
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Sind Menschen frustriert oder unglücklich, richten sie ihre Aggression oft auf Personen oder Gruppen, die unbeliebt, leicht identifizierbar und machtlos sind: Man sucht - und findet - Sündenböcke. Die haben zwar oft gar nichts mit der konkreten Bedrohung zu tun, stärken aber scheinbar die Gemeinschaft. Von Frank Halbach

Credits
Autor und Regie dieser Folge: Frank Halbach
Es sprach: Katja Bürkle
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Susanne Poelchau


Im Interview:
Dr. Helga Schachinger, Sozialpsychologin
Prof. Dr. Claus Leggewie, Politikwissenschaftler



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Literatur:


-Christian Bartolf: Das Opfer und der Sündenbock: Gedanken zur Ethik der Gewaltfreiheit. Eine kulturanthropologische Untersuchung zweier Opfertheorien (unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenhangs von Opfermythos und Sündenbockmechanismus). Berlin 2020.Umfangreiche Abhandlung über den Sündenbock in der Kulturtheorie.



Helga Elisabeth Schachinger: Wie Frieden schaffen? Eine Sozialpsychologie von Trauer- und Versöhnungsarbeit. In: Psychologie in Österreich 3 2023, S. 207-213. Geht der Frage nach, welche Identitätsentwicklung ohne Feindbilder möglich erscheint


Claus Leggewie: Anti-Europäer. Breivik, Dugin, al-Suri & Co. Berlin 2016. Präzise Analyse, wie Populisten die mythischen Muster von Sündenbock und Opfer-Kult für ihre Zwecke nutzen.


Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.


Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:



MUSIK  „Mad Rush“; ZEIT: 01:19


Wieder zu spät? Ja, natürlich, Sie sind nicht schuld, sondern - wie immer!- die Bahn! Dann eben mit dem Auto. Schon wieder zu spät? Wegen der rücksichtslos und ohne Umsicht fahrenden Machos? Oder wegen dieser bummelnden Frauen am Steuer?


Wieso müssen wir überhaupt so hetzen? Warum sind wir so im Stress? Wir müssen immer mehr leisten. Die Jugend kümmert sich nur noch um Work-Life-Balance, anpacken will von denen keinen mehr. Nein? Schuld sind doch die viel zu vielen Alten, deren Rente wir bezahlen müssen, während wir wahrscheinlich gar keine mehr kriegen?


Wir sind echt arm dran. Und wir können nichts dafür. Schuld sind die anderen: der hochbezahlte, aber unfähige Trainer, die Ausländer, die ignoranten Lehrer, die die Begabung  meines Kindes nicht erkennen, die Sozialschmarotzer, die Politiker, die Klimakleber – Schuld sind: die anderen! 


Bevorzugt natürlich die, gegen die wir Vorurteile hegen. Und die traurige Wahrheit ist: 


Alle Menschen – und zwar wirklich ALLE - haben Vorurteile, doch nur 40% erkennen sie bei sich.


MUSIK ENDE


O-Ton 1 Schachinger (15:11 )


Schon kleine Kinder. Wenn die irgendetwas machen, was sie nicht machen dürfen, können die schon, sobald Sie reden können im Kindergarten, wenn sie irgendetwas machen, sagen sie: „Nein. Nein, ich bin nicht schuld. Die hat angefangen, oder der hat angefangen.“ Also Schuld bei anderen zu suchen, ist sozusagen etwas Urmenschliches, das kennen wahrscheinlich alle Menschen in der einen oder anderen Form. 


SPRECHERIN


Sagt die Sozialpsychologin und Buchautorin Dr. Helga Schachinger.


O-Ton 2 Schachinger (15:38 )


Und deswegen funktioniert das auch auf der Gruppenebene so gut, weil es für einen selber angenehmer ist, wenn man dann als braver und unschuldiger Mensch dasteht und man sagen kann: „Nein, er hat angefangen.“


MUSIK  „In your head now“; ZEIT: 00:55


SPRECHERIN


Eine verlorene Ernte, an einer Krankheit eingegangenes Vieh: In der frühen Neuzeit war schnell klar, wer schuld war: Die, die abseits des Dorfes wohnte, die mit den roten Haaren: die Hexe. 


Man möchte meinen die Hexenverfolgung sei ein Relikt der Vergangenheit. Aber die Jagd auf Minderheiten, auf Außenseiter oder Schwächere in unserer Gesellschaft ist keineswegs verschwunden. Sie 


ist allgegenwärtig in der Politik, im Sport und im Privatleben: die Suche nach Sündenböcken.


Früher wurden die, die man für schuldig befand, öffentlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Heute fegt meist „ganz zivilisiert“ der Shitstorm der „sozialen“ Medien über die Sündenböcke hinweg.


Aber warum brauchen wir überhaupt Sündenböcke? Und wie werden sie erzeugt?


MUSIK ENDE


O-Ton 3 Schachinger (01:06 )


Wir haben in der experimentellen Sozialpsychologie die Begrifflichkeiten „Fremdgruppen“ im Gegensatz zu „Eigengruppen“ beziehungsweise Fremdbilder im Gegensatz zu Selbstbildern. Und aus diesem Fremdgruppen und Fremdbildern werben eben auch unter Umständen, wenn bestimmte Bedingungen eintreten, Feindgruppen und Feindbilder.


SPRECHERIN


Zunächst aber ist die Einteilung in Fremdbilder und Selbstbilder ein Prozess, der einfach nur dazu dient, die vielschichte Wirklichkeit so zu vereinfachen, dass sie verarbeitet werden kann. 


O-Ton 4 Schachinger (02:59 )


Es werden Kategorien gebildet. Das sind abstrakte Gruppenbildungen. Umgangssprachlich könnte man sagen: Menschen verwenden gerne Schubladen, in die sie Menschen hineinstecken. 


Und durch diese Kategorienbildung entstehen eben dann diese Eigen- und diese Fremdgruppen, wobei die Eigengruppe die Gruppe ist, der ich selber angehöre, und die Fremdgruppe ist die Gruppe, der ich nicht angehöre. Und die Kategorien können jetzt ganz unterschiedlich und komplett beliebig sein.


SPRECHERIN


Das Denken in Bildern und Kategorien ist ein grundlegender psychischer Prozess: Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Partei, Hobby, Religion… alles Kategorien, die Orientierung bieten und helfen sollen die eigene Identität in Abgrenzung von anderen zu bestimmen. Gruppenbildungen erfüllen das menschliche Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit. Eine positive soziale Zugehörigkeit schenkt ein positives Selbstwertgefühl. So weit so gut. Aber: 


O-Ton 5 Schachinger (05:43 )


Es gehen damit bestimmte Denkfehler einher, die in vielen, vielen Studien schon in den 50er, 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts nachgewiesen wurden. Diese Denkfehler sind zum Beispiel, dass eine Fremdgruppe, egal ob das jetzt für mich als Frau, die Männer sind, oder für mich als ältere Frau die jungen Menschen sind. Diese Fremdgruppe wird homogener und gleichartiger wahrgenommen, als sie tatsächlich ist.


SPRECHERIN


Es wird also verallgemeinert, über einen Kamm geschoren: Typisch Mann! Typisch Frau! Die Jugend! Die Ausländer! Die Muslime!


O-Ton 6 Schachinger (07:05 )


Also der eine Fehler ist: Fremdgruppen werden homogener und gleichartiger wahrgenommen, als sie tatsächlich sind.


Und der zweite Denkfehler - auch bestens nachgewiesen seit Jahrzehnten in Studien - ist, dass die Unterschiede zwischen der eigenen Gruppe und der Fremdgruppe, egal ob das jetzt jung-alt, Mann-Frau, was auch immer ist, diese Unterschiede werden größer wahrgenommen, als sie tatsächlich sind. 


SPRECHERIN


Zum Beispiel: Frauen können sich nicht durchsetzen. Männern fehlt das Einfühlungsvermögen. Oder: die Muslime passen einfach nicht zu „unserer“ Kultur.  


SPRECHERIN


So entsteht Parteilichkeit in sozialen Beziehungen: Beispielsweise werden Menschen derselben Hautfarbe, Kultur oder Sprache bevorzugt.


Wer fühlt sich nicht in „vertrauter“ Gesellschaft am wohlsten?


Aus Parteilichkeit werden schnell Vorurteile: Gegen das vorab Verurteilen haben Fakten oder Argumente bereits kaum noch eine Chance. 


Wird das Vorurteil zum Ausdruck gebracht, wird es zur Diskriminierung. 


Dazu rückt man oft Merkmale in den Vordergrund, die man für typische Merkmale einer bestimmten Gruppe hält, zum Beispiel Haar- oder Barttracht.


O-Ton 7 Schachinger (12:44 )


Das heißt es wird der Selbstwert der eigenen Anhängerschaft


gehoben, in dem eine andere Gruppe abgewertet wird, als minderwertig oder wie es die Nazis gemacht haben, als Untermenschen, als lebensunwertes Leben, das eigentlich gar nicht verdient zu leben. Also, es kommt zu extremen Abwertungen, und gleichzeitig wird die eigene Gruppe unrealistisch idealisiert und erhöht. 


SPRECHERIN


Aus der Identitätsstiftung im Spannungsfeld von wir und die anderen wird: Wir gegen die anderen.


Am Ende der Spirale steht die Jagd nach Sündenböcken: verbale oder gar physische Angriffe. Und da bevorzugt Mitglieder von Minderheitsgruppen angegriffen werden, können sich die Opfer in der Regel schlecht bis gar nicht wehren.


MUSIK   „In Doubt“; ZEIT: 01:05


Diese Wehrlosigkeit des Opfers entspricht einem uralte

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