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Zivilgesellschaft: Kritik an Debatte um „Missbrauch von Sozialleistungen“

Zivilgesellschaft: Kritik an Debatte um „Missbrauch von Sozialleistungen“

Update: 2025-10-29
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Um „organisierten Leistungsmissbrauch“ im Sozialbereich zu verhindern, will Arbeitsministerin Bärbel Bas den Datenaustausch zwischen Polizei, Ordnungsämtern und Jobcenter fördern und das Strafrecht verschärfen. Sozialverbände und Organisationen von Betroffenen warnen vor verheerenden Folgen.


<figure class="wp-caption entry-thumbnail">Bärbel Bas sitzt im Bundestag und guckt grimmig.<figcaption class="wp-caption-text">Arbeitsministerin und SPD-Co-Chefin Bas will härter gegen „Missbrauch von Sozialleistungen“ vorgehen – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / dts Nachrichtenagentur</figcaption></figure>

Die Koalition aus Union und SPD setzt ihren Kurs der Verschärfungen in der Migrations- und Sozialpolitik fort. Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas hat nun angekündigt, Missbrauch von Sozialleistungen durch Personen aus dem europäischen Ausland in Deutschland entschiedener bekämpfen zu wollen. Laut Bas gebe es „organisierten Leistungsmissbrauch“ durch kriminelle Netzwerke.


Nach einem Treffen mit Vertreter*innen der Kommunen und Jobcentern am Montag in Duisburg kündigte die Co-Chefin der SPD an, betrügerische Strukturen vor allem mit einem schnelleren Datenaustausch zwischen Behörden aufspüren zu wollen. Ordnungsämter, Polizei und Jobcenter müssten besser miteinander kommunizieren und Daten austauschen können, forderte Bas. Dazu seien Gespräche mit Datenschützer*innen und dem Digitalminister nötig.


Bas will EU-Freizügigkeit einschränken


Gemeinsam mit Justizministerin Stefanie Hubig (SPD) will Bas außerdem prüfen, ob es eine „Strafbarkeitslücke“ im deutschen Recht gibt. So könnte Sozialleistungsmissbrauch im Strafgesetzbuch ein eigener Straftatbestand werden. Die Ministerin will damit erreichen, „dass die Verfahren nicht immer eingestellt werden“.


Außerdem will Bas die Arbeitnehmerfreizügigkeit auf EU-Ebene neu definieren. Diese sei zwar eine wichtige Errungenschaft, müsse aber an Voraussetzungen geknüpft werden. Dazu nannte sie etwa die mögliche Einführung einer Mindestanzahl an Wochenarbeitsstunden.


Derzeit können Menschen aus anderen EU-Staaten unkompliziert nach Deutschland einreisen, hier einen Wohnsitz anmelden und eine Arbeit aufnehmen, sofern sie einen gültigen Pass besitzen. Anders als deutsche Staatsangehörige haben sie Anspruch auf Sozialleistungen jedoch nur, wenn sie einen Minijob haben und der Lohn zum Leben nicht reicht.


Verfahren nur bei ausländischen Verdachtsfällen


In Deutschland bezogen zuletzt insgesamt rund 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld. Angesichts der scharfen Debatte überraschen die geringen Fallzahlen solcher Verdachtsfälle „bandenmäßigen Leistungsmissbrauchs“. Bis Mai dieses Jahres haben die Jobcenter 195 solcher Fälle registriert, 96 zogen eine Strafanzeige nach sich. Im vergangenen Jahr waren es 421 Verdachtsfälle, bei 209 von ihnen wurde eine Strafanzeige erstattet. Das geht aus Antworten der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen hervor.


Die Zahl der Fälle, die tatsächlich zu einer Verurteilung führen, ist nicht bekannt. Die Strafverfolgungsbehörden teilen den Ausgang des Verfahrens nicht immer an die Jobcenter mit.


Jobcenter eröffnen Verfahren wegen „bandenmäßigen Leistungsmissbrauchs“ nur bei nicht-deutschen Unionsbürger*innen. Alle anderen Fälle, die im Zusammenhang mit organisierten Tätergruppen stehen, werden nicht separat als bandenmäßiger Leistungsmissbrauch erfasst, so die Bundesregierung.


Zivilgesellschaft kritisiert faktenfreie Debatte


Die Veranstaltung in Duisburg, nach der Bas ihre Pläne verkündete, war eine Fachtagung zu „Herausforderungen und Lösungen im Zusammenhang mit der Zuwanderung aus EU-Mitgliedstaaten“. Eingeladen waren Vertreter*innen von Stadtverwaltungen, Jobcentern und der Bundesagentur für Arbeit. Interessenvertretungen von Menschen aus dem EU-Ausland, die in Deutschland prekär beschäftigt sind oder Sozialleistungen beziehen, waren nicht dabei.


Das kritisieren zivilgesellschaftliche Organisationen und Wissenschaftler*innen in einem offenen Brief an die Arbeitsministerin. Darin weisen sie die von der Arbeitsministerin befeuerte Debatte um „bandenmäßigem Sozialmissbrauch durch EU-Bürger*innen“ zurück. Diese entspreche nicht der Faktenlage und stelle Menschen aus EU-Staaten unter Generalverdacht des Missbrauchs und Betrugs.


Bereits vor zwei Wochen haben sich zahlreiche andere Organisationen sowie Sozialverbände zu Wort gemeldet. Sie sprechen von medialer Hetze und politischer Instrumentalisierung von Unionsbürger*innen in prekären Lebenslagen. Die zugrunde liegenden Ursachen wie strukturell bedingte Armut, Ausbeutung und fehlender Schutz für Beschäftigte aus anderen EU-Staaten würden in der Debatte ausgeblendet.


Razzien und Zwangsräumungen


Zu den Unterzeichner*innen des am Montag veröffentlichten offenen Briefs zählen zum Beispiel das Netzwerk Europa in Bewegung und die Initiative Stolipinovo in Europa e. V., die sich für die Rechte und Interessen von Migrantengemeinschaften aus Osteuropa einsetzt. Die Organisationen schildern darin mehrere Fälle aus deutschen Städten, die von struktureller Ungleichbehandlung von EU-Ausländer*innen und repressiven behördlichen Praktiken zeugen. Dazu zählen massenhafte Zwangsräumungen, diskriminierende Razzien und rassistische Behandlung in Jobcenter.


Ein Beispiel ist eine Razzia in einer Notunterkunft für wohnungslose Menschen in Berlin-Schöneberg Mitte Oktober. Mitarbeiter*innen der Berliner Jobcenter und der Familienkasse hatten in Begleitung von Polizeibeamt*innen und Pressevertrer*innen um 6 Uhr morgens die Unterkunft aufgesucht. Die Anlauf- und Beratungsstelle Amoro Foro e.V bezeichnet die Aktion als unverhältnismäßig und politisch motiviert. Ihr sei monatelange rassistische Berichterstattung vorausgegangen.


Der Verein Stolipinovo berichtet von Beispielen aus Duisburg. Die Stadt verfolge eine der repressivsten migrationspolitischen Strategien Deutschlands. Eine „Taskforce Problemimmobilien“ nutze Brandschutzverordnungen als Vorwand, um bulgarische und rumänische Staatsbürger*innen unangekündigt aus ihren Wohnungen zu räumen. Die Stadt gebe den Menschen keine Möglichkeit, die angeführten Baumängel zu beseitigen. Im Laufe eines Jahrzehnts hätten auf diese Weise mehr als 5.000 Menschen ihr Zuhause verloren, darunter Familien mit minderjährigen Kindern, Kindern mit Behinderungen sowie Schwangere.


Systematische Benachteiligung in Behörden


Auch eine Untersuchung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege dokumentierte 2021 eine diskriminierende Sonderbehandlung von nicht-deutschen EU-Bürger*innen durch Jobcenter und Familienkassen. Eine Umfrage unter Mitarbeitenden in der Beratung ergab unter anderem, dass Bürger*innen östlicher EU-Staaten mit systematischen und teilweise rechtswidrigen Schwierigkeiten bei der Beantragung von Sozialleistungen und von Kindergeld konfrontiert sind.


Dazu gehört beispielsweise, dass Menschen aus Rumänien, Bulgarien und anderen Staaten bereits in der Eingangszone von Jobcenter abgewiesen werden und nicht einmal einen Antrag auf Leistungen stellen können. Auch müssten EU-Bürger*innen oft unverhältnismäßig hohe Anforderungen für das Vorlegen von Dokumenten erfüllen. Teilweise werden aufstockende Leistungen trotz belegter Erwerbstätigkeit verweigert.


Der Paritätische Gesamtverband bewertete die Ergebnisse als skandalös und warnte vor strukturellem Rassismus in Jobcenter. Eine Untersuchung der Universität Duisburg-Essen bestätigte die Vorwürfe im vergangenen Jahr am Beispiel Duisburgs: Sozialrechtlicher Ausschluss, repressives Vorgehen der lokalen Behörden sowie ein informeller Arbeitsmarkt würden zur prekären Lebenslage von Unionsbürger*innen in segregierten Stadtteilen beitragen.


Warnung vor verheerenden sozialen Folgen


Der offene Brief fordert ein Ende der politischen Instrumentalisierung von Armut und eine Rückkehr zu einer faktenbasierten Debatte. Armut, unsichere Beschäftigung und Ausgrenzung seien keine Vergehen, sondern Folgen politischer Entscheidungen. Arbeitsminister Bas dürfe Probleme wie Wohnungslosigkeit und Ausbeutung im Niedriglohnsektor nicht noch verstärken.


Die Unterzeichner*innen warnen, dass die angekündigten Verschärfungen verheerende Folgen für die Betroffenen hätten. Für viele EU-Bürger*innen in Deutschland sei ein Minijob in Kombination mit aufstockenden Sozialleistungen oft der einzige Weg, um Zugang zum Gesundheitssystem zu erhalten. Würde diese Regelung eingeschränkt, verlören damit viele Menschen den Versicherungsschutz und damit den Zugang zu medizinischer Versorgung.



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Timur Vorkul