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BetDenkzettel

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Auf der Brust eines Olympioniken war neulich tätowiert: Pain is temporary, pride is forever – Schmerz geht vorbei, Stolz ist für immer. Das mit dem Stolz stimmt natürlich nicht, der vergeht nämlich auch. Aber ich verstehe, was der Sportler meint: Der Schmerz des Trainings geht vorbei, der Sieg bleibt. Woanders fand ich dann die Version: Pain is temporary, glory is forever – Leiden geht vorbei – Herrlichkeit bleibt.
Das neue Testament unterscheidet verschiedene Gründe für Leid. Es gibt Leiden, an dem wir unschuldig sind. Und es gibt Leiden, an dem wir schuld sind. Dabei wird nirgends gesagt, das Leiden selbst sei gut. Aber die Gründe, weshalb Menschen leiden, die können moralisch neutral oder schlecht oder gut sein.
Von den guten Gründen zu leiden, vom Leiden, das sich lohnt, sprach vor Jesus übrigens auch schon Sokrates, als er lehrte, es sei besser Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun.
Wenn jemand leidet, sagt die heutige Lesung aus dem Ersten Petrusbrief dann „soll es nicht deswegen sein, weil er ein Mörder oder ein Dieb ist, weil er Böses tut oder sich in fremde Angelegenheiten einmischt“. Leiden, an dem wir selbst schuld sind, ist nicht nur leidvoll, sondern auch noch peinlich und beschämend.
Aber es gibt eben auch unverschuldetes Leiden und ein Leiden, dem sich jemand um eines Gutes willen stellt. Leiden, das sich lohnt. Zum Beispiel da, wo jemand leidet, weil er zu Christus gehört. Entweder deshalb, weil er sich ausdrücklich zu Christus bekennt und aufgrund dieser Identifikation geschnitten, verfolgt, eingesperrt oder misshandelt wird. Oder deshalb, weil er – auch ohne Christ zu sein – um eines Gutes willen leidet. Zum Beispiel, wo er gegen Widerstände bei der Wahrheit oder in der Liebe geblieben ist – und also verborgen zu Christus gehört.
Wo immer ein Mensch leidet und aus welchen Gründen auch immer (selbst dann, wenn er selbst schuld an seinem Leid ist), dort leidet Christus mit diesem Menschen. Wo aber Menschen um Christi willen leiden, dort geschieht auch das genau Umgekehrte: dort leiden sie mit Christus.
„Freut euch, dass ihr Anteil an den Leiden Christi habt“, sagt der Erste Petrusbrief. Er sagt nicht: Freut euch am Leiden. Er sagt: Wenn ihr Anteil an den Leiden Christi habt – also wenn Ihr mit Christus leidet – dann ist das Leiden an sich noch immer nichts Gutes. Aber es ist ein Anzeichen dafür, dass Ihr in seiner Nähe seid und in Gemeinschaft mit ihm steht – auch und gerade in diesem Augenblick der Bedrängnis. Der Preis, den Ihr zahlt, ist es wert. Es ist Leiden, das sich lohnt.
Ich habe mich gefragt, warum diese Lesung ausgerechnet zwischen Christi Himmelfahrt und Pfingsten gelesen wird. Es ist ja doch die Zeit, in der wir – wie Maria und die Apostel – das Kommen des Heiligen Geistes erbitten und erwarten. Und den verbinden die meisten mit Freude, Kraft und Lebendigkeit, mit einer Dynamik neuer Mitteilungs- und Begeisterungsfähigkeit. Und in der Tat, alles das gehört zum Wirken des Heiligen Geistes dazu.
Aber zu diesem Wirken des Heiligen Geistes gehört eben offenbar auch, dass Menschen sich trauen und aushalten, „wegen des Namens Christi beschimpft“ zu werden. In dem Fall, sagt unsere Lesung, „seid ihr seligzupreisen; denn der Geist der Herrlichkeit, der Geist Gottes, ruht auf euch“. Wer um den Geist bittet, der zum Zeugnis befähigt, muss sich auch darauf einstellen, dass er um dieses Zeugnisses willen leiden muss.
Beim Leiden für einen Menschen, für die Liebe und für den Gott, der selbst die Liebe ist, ist es so ähnlich beim Sport: Pain is temporary, glory is forever. Das Leiden lohnt sich, und es geht vorbei – die Herrlichkeit bleibt.
Fra' Georg Lengerke
In der Bibliothek einer Hochschule, in der ich studierte, gab es einen, der hatte an seinen Schnürsenkel ein kleines Glöckchen gebunden. Bei jedem Schritt klingelte es. In der Stille der Bibliothek war das umso störender. Und das war offenbar beabsichtigt.
Als ich den jungen Mann ansprach, meinte er, er „läute für den Frieden“. Ich sagte ihm, dass er genau den hier gerade massiv gefährde. Darauf zitierte er die heutige Lesung aus dem Ersten Petrusbrief: „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt.“ Worauf ich ihm sagte, dass die Rechenschaft, die ihm die Studenten von ihrer Hoffnung gleich geben würden, möglicherweise nicht mit Rede und Antwort getan sei, sondern zu seiner Entfernung führte.
Ich war und bin mir sicher, dass Petrus das nicht gemeint hat: Dass die Christen den Leuten mit kindischen Provokationen so lange auf die Nerven gehen sollten, bis die danach fragen, ob die Christen eigentlich noch ganz bei Trost seien.
Von Paul Claudel stammt das Wort, wir Christen sollten nur reden, wenn wir gefragt würden, aber so leben, dass wir gefragt werden. Daran ist richtig, dass Christen nicht irrelevante Antworten auf ungestellte Fragen geben sollen. Und sicher werden Menschen besser durch einen bestimmten Lebensstil zum Nachfragen provoziert, als durch steile Thesen oder irgendeine Besserwisserei.
Aber es gibt auch Sachverhalte, wo ungefragt zu reden ist. Nämlich überall dort, wo die Liebe nicht schweigen darf, und von dem, wovon die Liebe nicht schweigen darf. Bei Ungerechtigkeit, Unangemessenheit oder Unwahrheit, wo es um die Würde des Menschen oder die Bewahrung der Schöpfung geht, und dort, wo das Heilige in den Dreck gezogen wird.
Ich habe allerdings auch immer häufiger den Eindruck, dass viele Menschen der Glaube der Christen schlicht nicht mehr interessiert. Sei es, weil sie nichts mehr von den Christen oder der Kirche erwarten. Sei es, weil die dingliche Welt, das Sichtbare, Messbare und angeblich Machbare in ihrem Leben derart bestimmend geworden ist, dass die Transzendenz, also die Frage nach dem Unsichtbaren über das unmittelbar Vorhandene hinaus, einfach keine Option mehr ist. So dass viele Menschen es angesichts der Christen mit dem Münchner Karl Valentin halten: „Net amoi ignoriern“.
Es könnte sein, dass das Desinteresse der Menschen am Leben und Glauben der Christen eines Tages wiederum umschlägt. Für die von Gott Berührten in ein neues Fragen nach Ihm. Für die vom Leben und Glauben der Christen Gestörten in Ablehnung oder Hass.
Vielleicht wird man das Wort von Claudel eines Tages dann wieder so lesen, wie es zu Verfolgungszeiten zu lesen ist: Dass wir die Wahrheit sagen sollen, wenn wir verhört werden, und so leben, dass wir verhört werden.
Aber bevor es so weit ist, scheint mir noch etwas anderes wichtig zu sein: Wir sollten nicht bloß warten, bis wir nach unserer Hoffnung gefragt werden. Wir sollten vielmehr auch ernst damit machen, dass wir selbst ja vorher schon von dem gefragt wurden, der der Grund unserer Hoffnung ist und auf den wir unsere Hoffnung gesetzt haben. Gott antwortet dem Menschen nicht nur. Zuvor fragt Gott nach dem Menschen: „Wo bist du?“ (Genesis 3,9) „Was willst du?“ (Markus 10,51) „Was suchst du?“ (vgl. Johannes 1,38)
Gott fragt nicht nur nach denen, die schon an ihn glauben, sondern nach jedem Menschen. Also sollten auch die von Gott Gefragten mit Ihm und wie Er nach den Menschen fragen. Nach ihrer Hoffnung und ihrer Not. Nach ihrer Freude und ihrem Schmerz. Auch dann, wenn wir selbst noch nicht alle Antworten auf Seine Fragen haben.
Dann stellen wir vielleicht fest, dass auch einige von ihnen eine Antwort haben auf die Frage nach der Hoffnung –
die nach uns Menschen fragt.
Fra' Georg Lengerke
Vor kurzem haben wir einen Onkel von mir begraben, der ein sehr bewegtes Leben hatte. Als eineinhalbjähriges Baby überlebte er als einziger seiner mitflüchtenden Verwandten die Bombardierung Dresdens und wuchs als Pflegekind einer fremden Familie in Bitterfeld auf. Als 22-Jähriger wurde er von seiner Geburtsfamilie wiedergefunden und übersiedelte in die Bundesrepublik.
Bei der Beerdigung haben wir das heutige Evangelium gelesen: „Euer Herz lasse sich nicht verwirren“, sagt Jesus vor seinem Abschied zu den Jüngern und spricht von den „vielen Wohnungen“ im Hause des Vaters. Dorthin geht er uns voraus, sagt er, um einen Platz für uns vorzubereiten und wiederzukommen, um uns zu sich zu holen, „damit auch ihr dort seid, wo ich bin“.
Der Onkel wusste, was es bedeutet, ein Herz zu haben, das verwirrt war, weil es hier kein bleibendes Zuhause hatte und sich dennoch einrichten wollte oder sollte. Er hatte zwar ein Zuhause, in dem er aufwuchs, aber aus dem er nicht kam, und ein Zuhause, aus dem er zwar kam, aber das er nicht kannte und das später nie mehr ganz seines werden sollte.
„Wir haben hier kein bleibende Stadt“, heißt es im Hebräerbrief, „aber die künftige suchen wir.“ (Hebr 13,14). Bei der Beerdigung und angesichts des Lebens des Onkels habe ich daran gedacht, dass das von allen Menschen gilt: Wir sind auf gewisse Weise alle Pflegekinder und Kinder auf Besuch und werden erinnert (und oft genug auch verwirrt), weil wir wissen, dass wir nicht bleiben können.
Vergangene Woche war ich für die Wahl eines neuen Ordensoberen meiner Gemeinschaft in Rom. Das war ein wichtiger Schritt in unserer Geschichte. Doch je feierlicher wir ihn begingen, umso mehr dachte ich an die Vielen, die auch in der Kirche und ihren Gemeinschaften spüren, dass deren irdische Gestalt kein bleibendes Zuhause ist. Dort nicht, wo sie fehlerhaft, pompös oder banal daherkommt. Und selbst dort nicht, wo sie ihren Auftrag erfüllt und ihrer Berufung folgt.
Vom Haus, das die Kirche ist, spricht der Hebräerbrief heute. Es ist nicht aus Steinen und nicht von Menschenhand gebaut. Im Gegenteil: Sein Grund- und Schlussstein ist einer, den die menschlichen Bauherren verworfen haben: Jesus Christus. Zu diesem „geistigen Haus“, sagt der Hebräerbrief, sollen wir uns erbauen lassen als „lebendige Steine“ und als „priesterliche“ Menschen, die dienend, betend und liebend die Welt zu Gott nach Hause bringen.
Wir sind auf einem Weg, den wir schon kennen, sagt Jesus. Und als Thomas irritiert nachfragt, was das denn bitte für ein Weg sein solle, den er eben nicht kenne, antwortet Jesus: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ Jesus Christus ist der Weg, auf dem schon hier die Wahrheit erkannt und das Leben gewonnen wird, das den Tod besiegt hat.
Jesus Christus ist der Heim-Weg ins wahre Leben für die, die ernst damit machen, dass sie hier keine Bleibe haben. Zu diesem Heimweg gehören die Prachtstraßen und die Durststrecken, die Höhenwege und die Umwege, die Fluchten, Verfolgungen und Verwerfungen. Und: Die Wege mit Christus führen alle nach Hause.
Übrigens gab es ein wunderbares Hoffnungszeichen für das verwirrte Herz des unbekannte kleinen Jungen, der da schreiend zwischen den unzähligen Leichen im Dresdener Hauptbahnhof gefunden wurde.
Irgendein Verwaltungsbeamter der Sowjetischen Besatzungszone gab dem von seiner Pflegemutter „Peter“ genannten Jungen den Nachnamen „Friednot“. Friede tut not, kann das bedeuten, oder dass wir lebensbedrohliche Friednot haben, wie Menschen Wassernot oder Atemnot haben.
Als der junge Mann zu seinen Eltern kam, die den Krieg überlebt hatten, erfuhr er, dass er auf den Namen „Siegfried“ getauft worden war. Der Friede wird siegen! Das sollte in aller Friednot seines irdisches Leben ein Versprechen bleiben. Doch im Haus des Vaters, in dem uns ein Platz bereitet ist, wird sich dieses Versprechen für den Onkel erfüllen.
Fra' Georg Lengerke
Eine der Märchen-Schallplatten, die wir als Kinder hörten, war „Rotkäppchen“ von den Gebrüdern Grimm. Ein Mädchen wird von seiner Mutter mit allerlei Köstlichkeiten zu seiner Großmutter in den Wald geschickt, wohin ihm der böse Wolf durch einen Trick zuvorgekommen war. Der hatte die Großmutter verspeist und sich an ihrer Stelle ins Bett gelegt. Dort angekommen fragt Rotkäppchen verwundert nach der Bedeutung der großen Ohren, Augen und Hände der vermeintlichen Großmutter. Als sie nach dem großen Mund fragt, kommt die gruselige Antwort: „Dass ich dich besser fressen kann!“, was der Wolf dann auch ohne viel Federlesens tut.
Während sich das Rotkäppchen über die ungroßmütterlich großen Körperteile des verkleideten Wolfes wunderte, wunderte ich mich jedes Mal über etwas anderes: nämlich über die Stimme. Der Erzähler mit der Wolfsstimme fing dann großartig an zu fisteln – halt wie ein Wolf, der auf Großmutter macht. Aber es war nie und nimmer die Stimme der Großmutter. Wie bloß konnte Rotkäppchen das nicht merken?
Im Evangelium spricht Jesus von der Stimme des guten Hirten, die den Schafen vertraut ist, aufgrund derer sie ihn erkennen, ihm trauen und ihm folgen. Davon unterscheidet sich die Stimme des Fremden, dem die Schafe nicht folgen, weil sie die Gefahr wittern und sich in Sicherheit bringen.
Mit der Stimme hat es eine besondere Bewandtnis. Sie sagt uns vor allen Worten, wer spricht. Schon ungefähr in der 17. Schwangerschaftswoche beginnt das Kind im Mutterleib die Stimme der Mutter zu hören. Keine Stimme ist uns zunächst vertrauter. Später gibt es vertraute Stimmen anderer geliebter Menschen. Stimmen, die uns gemeint und erreicht, gerufen und angesprochen, uns getröstet oder uns Lebensentscheidendes gesagt haben. Es gibt Stimmen, denen unser Urvertrauen gilt und denen wir uns anvertrauen.
In der Heiligen Schrift hat die Stimme eine besondere Bedeutung. Die großen Glaubenszeugen des Alten Testamentes werden dafür gelobt, auf „die Stimme Gottes“ gehört zu haben. Nicht bloß auf einzelne Worte, sondern auf Seine Stimme, was auch immer sie gesagt hat. Jene Ur-Stimme, von der uns Menschen gesagt wird, dass wir uns ihr unbedingt und vorbehaltslos anvertrauen können.
Wie mag das mit der Stimme Jesu gewesen sein? Es war eine menschliche Stimme mit einer bestimmten Tonlage und einem bestimmten Klang. Aber in ihr wurde zugleich die Stimme Gottes menschlich vernehmbar, auch über die unmittelbaren Worte Jesu hinaus. Jesus sagt uns, was er von Gott dem Vater hört. Aber er spricht auch in der Art und Weise, wie Gott der Vater spricht.
Was bedeutet es nun heute, die Stimme des Guten Hirten zu kennen? Den Menschen, die Jesus gehört haben, sagte seine Stimme, wer da spricht, noch vor jedem Wort. Diese Stimme war ihnen vertraut, sie hatte sie erkannt und gemeint und zu sich gerufen.
Seit der Himmelfahrt Christi jedoch hören wir die irdische Stimme Jesu nicht mehr unmittelbar. Sie ist nur zu einer bestimmen Zeit der Geschichte an einem bestimmen Ort zu hören gewesen. Dafür schenkt uns der Auferstandene immer und überall Sein Wort in der Heiligen Schrift und ist gegenwärtig im Zeugnis, das die Kirche von ihm gibt.
Uns Christen sollte es darum gehen, mit dem Wort und Wesen Jesu, seiner Weise zu denken, zu reden und zu handeln so vertraut zu werden, dass wir nicht nur sein ausdrückliches Wort in der Schrift kennen, sondern auch mit seiner „Stimme“ vertraut werden – also mit seiner Art, mit dem, was ihm gemäß ist, nach ihm klingt, von ihm erzählt.
So werden wir diese Stimme heraushören und unterscheiden lernen in all den Stimmen und Stimmungen, die uns erreichen. Und dann werden wir auch nicht (wie Rotkäppchen) verschlungen werden von dem, was nur so tut, als wäre es Gott.
(Das Rotkäppchen übrigens wird später im Märchen ganz unzerkaut und unverdaut samt Großmutter gerettet. Das freilich wäre ein anderer BetDenkzettel.)
Fra' Georg Lengerke
Als Kind und Jugendlichem standen mir Sonntagnachmittage und -abende häufig bevor. Vor allem nach Ferien oder einem schönen Erlebnis. Sonntagnachmittags überkamen mich der Kater und die Sorge, wie der Alltag in solcher Traurigkeit nur zu schaffen sei.
Zurück in den Alltag gehen auch die Jünger nach dem Tod und der Auferstehung Jesu. Petrus beschließt: „Ich gehe fischen.“ Er geht in das zurück, was er kann und worin er sich auskennt. Andere Apostel schließen sich an.
Dieses „Zurück in den Alltag“ kann zweierlei sein: Es kann ein Hinweis darauf sein, dass Christsein bedeutet, in der unaufgeregten Normalität des Alltags im Glauben an den auferstandenen Herrn und in Gemeinschaft mit ihm zu leben.
Aber bei Petrus ist später vom Fischerhandwerk nicht mehr die Rede. Er wird reisen und das erzählen und bezeugen, was die Jünger mit Jesus erlebt haben und was damit Neues von Gott in die Welt gekommen ist.
„Ich gehe fischen“ – kann deshalb auch ein Rückzug in das alte, ehemalige, eigentlich zurückgelassene Leben sein. Eine Art Regression auf vertrautes Terrain, nach dem scheinbar gescheiterten Versuch, ein neues Leben zu beginnen.
Ich kenne diesen resignativen Rückzug auf das Vertraute und Gewohnte. Ich kenne ihn bei mir selbst, bei der Kirche und auch bei meiner Gemeinschaft.
Uns Maltesern geht es ähnlich wie anderen Gemeinschaften in der Kirche. Wir haben vor Jahren einen Prozess der „geistlichen und moralischen Erneuerung“ begonnen. Wir merken, dass eine solche Erneuerung nicht so einfach ist. Sie verlangt Ungewohntes von uns: einerseits die Anknüpfung an Ursprüngliches, andererseits manches Neue. Es gibt Streit um sie.
Das ist häufig der Moment des Rückzugs aufs „Fischen“, auf das, worin die meisten von uns sich gut auskennen: also auf Organisation und Wirtschaftlichkeit, auf den Ausbau unserer Dienste und unserer Relevanz. Wir haben Schönes oder Schmerzliches erlebt, wissen nicht, wie es weitergeht, und sind wieder Fischer, die fischen.
Wo ich in diese Regression zurückfalle, wird mein Leben klein und traurig. Wo wir uns auf das reduzieren, was wir schon immer gut zu können meinten, da wird das Leben der Kirche geschrumpft. Es wird geschrumpft auf unser eigenes oder das Format derjenigen, die zwar die Aufsicht, aber keine Aussicht, die zwar das Sagen, aber nichts zum Sagen haben.
Im Evangelium geschieht der Einbruch in diesen Alltag, als der Auferstandene am Ufer steht. Es beginnt ein Gespräch mit dem Unerkannten. Er lässt die Jünger nach dem erfolglosen Fischzug der Nacht noch einmal das Netz auswerfen. Es ist zum Bersten voll.
Aber nicht Petrus sondern Johannes erkennt Jesus zuerst: „Es ist der Herr!“
Und dann geschieht das Entscheidende: Petrus springt. Für mich ist das eines der schönsten Bilder des Glaubens: im Vertrauen auf den Auferstandenen mich Ihm entgegenzuwerfen, den Sprung zu wagen in die Gelegenheiten bei Ihm, und mit Ihm bei den Anderen zu sein – hinein in die unsterbliche Gemeinschaft mit ihm.
Solches Springen ist gut gegen die traurige Schrumpfung des Lebens auf das von mir für möglich Gehaltene.
Es ist Ostern. Es ist Zeit, der Regression und Resignation zu widerstehen: indem ich wie die Jünger im Boot mit dem Auferstandenen spreche – auch wenn ich Ihn noch nicht ganz erkannt habe; indem ich tue, was Er sagt – auch wenn ich noch nicht ganz verstanden habe, was das soll; indem ich meiner Schwester oder meinem Bruder glaube, dass der Unbekannte der Herr ist – auch wenn ich Ihn lieber selbst zuerst erkannt hätte;
und schließlich indem ich springe – ohne mich um Boot und Beute, Netze und Leute zu sorgen. Die kommen schon nach.
Und dann wird der Sonntagabend auch nicht mehr traurig sein.
Fra' Georg Lengerke
Die Auferstehung Jesu ist für einige Jünger eine schmerzhafte Erfahrung: Die einen begegnen ihm, die anderen nicht. Zehn Jüngern zeigt er sich am Ostermorgen – und einem nicht. Thomas reagiert fast trotzig: Wenn ich ihn nicht sehen und berühren kann wie Ihr, glaube ich nicht.
Dass der Auferstandene sich nach Ostern den einen zeigt und den anderen nicht, hat offenbar Methode. Petrus erzählt in seiner Pfingstpredigt (die am Ostermorgen gelesen wurde) Jesus habe sich nach seiner Auferstehung nicht allen gezeigt, sondern nur "den von Gott vorherbestimmten Zeugen" (Apg 10,41).
Warum zeigt er sich nicht allen? Der Auferstandene erscheint zu Beginn denen, die sich zuvor für ihn entschieden haben. Seine Erscheinungen knüpfen an das an, was sie vorher mit ihm erlebt haben. Er erscheint nicht, um Fremde zu überwältigen. Sondern der Auferstandene will den Weg mit den Zeugen seines irdischen Lebens auf eine verwandelte Weise fortsetzen – und zwar um aller anderen Menschen willen.
Die Auferstehung Jesu Christi verändert nicht bloß die Beziehung seiner Jünger zu ihm, sondern auch deren Beziehung zueinander und zu den anderen Menschen.
Der Auferstandene kommt in die ängstliche Abschottung seiner Jünger, um diese aufzubrechen und seine Zeugen zu bevollmächtigen und zu senden. Schon Im Obergemach durch die Anhauchung und die Gabe des Heiligen Geistes, Sünden vergeben zu können. Und an Pfingsten dann in der universalen Sendung zu allen Menschen.
Und damit verändern sich unsere Beziehungen fundamental: Sie werden gewürdigt, zu einer Weise der Offenbarung Jesu Christi zu werden.
Denn nach Pfingsten werden es die Worte, die Taten und das Leben der von Jesus erreichten Menschen sein, die anderen Menschen von Gott und Jesus Christus erzählen. Das ist im Vergleich zum irdischen Erscheinen Jesu Christi nicht bloß eine Notlösung oder eine Offenbarung zweiter Klasse. Im Gegenteil: Gerade so, gerade in diesen Beziehungen teilt er selbst sich mit.
Ich bin überzeugt, dass Christus in der Welt auf unendlich viele unbegreifliche Weisen gegenwärtig ist und wirkt. Aber der Königsweg der Offenbarung ist das einfache und bescheidene, vollmächtige und starke Zeugnis des eines Menschen für den anderen, durch das Jesus selbst sich mitteilt.
Deshalb besteht der größte Skandal der Kirche unserer Zeit darin, dass das Leben, Reden und Tun der Christen und der Kirche vielfach gar nicht mehr von Jesus Christus erzählt. Wir haben uns mancherorts in der Verleugnung Jesu geradezu eingerichtet. Und die Sünden in der Kirche sprechen Bände davon.
Es ist von Thomas nicht wenig verlangt, der erste zu sein, der allein aufgrund des Wortes der anderen Jünger glauben soll. Aber Jesus bestätigt ihm das Wort der Apostel und der beginnenden Kirche, als Thomas ihn sieht, ihn berührt und ihm glaubt.
Wenn mein Leben sich vollendet, werde auch ich Jesus sehen. Und ich vertraue darauf, dass er auch mir dann bestätigen wird, was ich den Aposteln und der Kirche und meinen Brüdern und Schwestern bis heute geglaubt habe: dass Jesus von den Toten auferstanden und als Auferstandener unter uns gegenwärtig ist.
Und ehrlich, auf dieses Sehen freue ich mich.
Fra' Georg Lengerke
Heute ist der Karsamstag. Es ist für die Christen der stillste Tag im Jahr. Zumindest bis in den Abend hinein findet kein Gottesdienst statt. Die ganze Kirche gedenkt heute der Grabesruhe Jesu und erwartet seine Auferstehung. Dann ist Ostern.
Das Fest verbringe ich in der Malteserkommende in Ehreshoven bei Köln. Ungefähr 60 Gäste, dazu Freunde und Nachbarn, feiern hier zusammen das Osterfest. Darunter auch viele Familien mit Kindern.
Wie jedes Jahr vollziehen wir heute Vormittag nochmal die Grablegung Jesu nach. Dazu haben wir in der Kirche vor den Altar eine Trage gestellt. Zusammen mit den Kindern lege ich alle Gegenstände, die uns an das Leiden und Sterben Jesu erinnern, auf diese Trage. Ein weißes Gewand, eine Dornenkrone, drei schwere Nägel, ein Schwamm und ein Speer und fünf rote Glassteinchen, die an die Wunden Jesu erinnern. Dabei erzählen die Kinder noch einmal die Leidensgeschichte nach, die wir am gestrigen Karfreitag erzählt und gefeiert haben.
Zum Schluss nehmen wir die rote Stola vom Kreuz, die dort seit gestern hängt. Und wir legen sie so auf die Trage, als läge dort einer, der sie trägt. Die Kinder vollziehen das immer mit großer Zärtlichkeit und Feierlichkeit.
Wenn alles auf der Trage liegt, tragen sechs Kinder – zwei vorne, zwei hinten und zwei in der Mitte – die Trage mit der kleinen Anordnung der Erinnerungsstücke vom Hof und hinüber in einen benachbarten Schlossgarten. Der vielleicht 200 Meter lange Weg ist immer sehr andächtig. Wir singen einige Lieder, die sonst auch bei Beerdigungen gesungen werden, wie: „Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh‘“ oder „Das Weizenkorn muss sterben, sonst bleibt es ja allein“.
Am Ende des Weges ist ein alter Eiskeller, der in eine Felswand gehauen ist. Früher legte man dort im Winter große Eisstücke hinein, die bis zum Herbst dort die Kühlung von Speisen ermöglichten. Davor stellen wir die Trage ab und beten für die Lebenden, die Sterbenden und die Verstorbenen. Dann schieben wir die Trage mit allem, was uns an Jesus erinnert, in die Felsnische. Am Schluss rollen zwei der Männer einen schweren Mühlstein vor unser kleines Eiskeller-Grab.
Immer wieder kommt es vor, dass Teilnehmer bei der Grablegung sehr bewegt sind, weil sie an ihre verstorbenen Nächsten denken. Ich erinnere mich, dass in einem Jahr mich sehr bewegt war. Wir hatten die Trage gerade vor dem Eiskeller abgestellt. Ein dreijähriges Mädchen, deren Großmutter kürzlich gestorben war, schaute zu mir herauf und sagte zu mir: „Jesus geht zu Oma.“
Damit hatte das Kind in vier Worten alles gesagt, was diesen stillen Tag so groß und heilig macht. Am Karsamstag feiert die Kirche schweigend, was sie im Glaubensbekenntnis mit dem Satz verkündet: Jesus sei „hinabgestiegen in das Reich des Todes“.
Auch heute, wenn wir nachher wieder mit den Kindern in unserer kleinen Prozession zum Eiskeller ziehen, werde ich an diese vier Worte denken: „Jesus geht zu Oma“. Und ich werde diesen Satz still immer wieder sagen – von meinen Großeltern und Vorfahren, von meinem vor der Geburt gestorbenen Geschwisterchen, von gestorbenen Freunden und Verwandten, von den von mir Beerdigten, von den im Krieg und im Erdbeben Getöteten und den mitten unter uns ums Leben Gekommenen.
Gott steigt als Mensch in den Tod hinab, damit die Toten ins Leben kommen.
Morgen früh werden wir uns vor Sonnenaufgang hier vor der Graböffnung an einem kleinen Feuer wieder treffen. Der Stein wird beiseite gerollt sein und das Grab ist leer, und wir werden hören und feiern, dass einer zu den Toten und zu uns Lebenden das neue Leben getragen hat. Ein Leben, über das der Tod keine Macht mehr hat.
Fra' Georg Lengerke
Eine Hospizhelferin erzählte neulich von einer Frau, die sie auf ihrem Sterbeweg begleitete. Die alte Dame hatte viel Schweres erlebt, aber nicht viel über ihren Glauben gesagt. Bei einem ihrer letzten Besuche habe die Patientin schon kaum mehr etwas sagen können. Kurz bevor die Besucherin ging, drehte sie den Kopf zur Seite, wo ein einfaches Kreuz mit dem Gekreuzigten hing. Sie schaute ihn an und sagte leise: „So lieb!“
Bald darauf starb sie. Sie hatte eine Nähe und Liebe des Gekreuzigten wahrgenommen, an die ich seitdem oft denken muss. Was brächte mich dazu, angesichts des Gekreuzigten zu sagen: So lieb!?
Das Erste ist: Jesus erleidet das Leiden, das ich erleide. Jeden Freitagnachmittag um 15 Uhr läutet mein Mobiltelefon. Auf dem Display steht: „Du stirbst meinen Tod.“ Jesus hat sich in seinem Leben, Leiden und Sterben mit mir verbunden. „Er hat unsere Krankheiten getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen“, sagt der Prophet Jesaja (Jes 53,4). Er trägt, was ich trage, ihn drückt, was mich drückt, er erleidet, was ich erleide, und er stirbt meinen Tod. Damit ich mit ihm lebe. Schon hier und jetzt. Und einmal jenseits des Todes.
Das Zweite ist: Das zuerst Gesagte gilt auch von meinen Nächsten. Und die haben auch an mir gelitten. Jesus erleidet mit ihnen das Leiden, das ich verursache. Was ich ihnen tue, empfindet auch er. Nicht nur das monströse Böse aus der Presse. Sondern jede Unaufrichtigkeit, jedes böse Wort, jeden bösen Gedanken.
Der Gekreuzigte konfrontiert mich mit meinem Unrecht. Er vertuscht nichts und schont mich nicht. Aber zugleich bleibt er der Liebende, der meine Reue, meine Buße und meine Versöhnung und mich aufs Neue bei sich haben will.
Und das Dritte schließlich: Jesus erleidet, was ich mir selbst antue. Was ich anderen tue, geht auch an meiner Seele ja nicht spurlos vorüber. Was, wenn ich alles das auch selbst erleiden würde, was ich je anderen Menschen „Gutes unterlassen und Böses getan habe, in Gedanken, Worten und Werken“? Ich wäre dem Gekreuzigten- oder besser: er wäre mir sehr ähnlich. „Er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen, wegen unserer Sünden zermalmt.“ sagt Jesaja (53,5)
Es ist bei dem Schmerz, der gerade durch die Kirche geht, unendlich schwer geworden, anzunehmen, dass Jesus gekommen ist, um die Sünder zu retten. Solche wie mich. Und solche, die schlimmeres getan haben.
Vielleicht tun wir uns damit auch deshalb so schwer, weil in der Kirche falsche Rücksichten, die Aufrechterhaltung des Scheins und der Schutz der Institution so viel Unheil angerichtet haben. Wo von Erlösung und Versöhnung gesprochen wird, wächst die Angst und der Verdacht, Täter könnten wieder gedeckt, verschont und verschoben werden und so einfach ungeschoren davonkommen.
Und das darf nicht sein. Der Gerechtigkeit muss genüge getan, jeder Täter bestraft und an Wiederholungen wirksam gehindert werden.
In Therapie und Seelsorge geht es zugleich darum, zu erkennen und ernst zu nehmen, wo Menschen Opfer wurden. Und einen Weg aus der Opferrolle zu finden. Und es geht darum, zu erkennen und ernst zu nehmen, wo Menschen Täter wurden. Und einen Weg aus der Schuld und aus der Sünde zu finden.
Heute feiert die Kirche, dass Jesus, der schuldlose Mensch, genau dahin geht: an die Stelle des Opfers und an die Stelle des Täters. Damit wir mit ihm wieder zueinander und zu unserem wahren Selbst finden.
Deshalb dürfen wir uns selbst oder einander nicht an unserem Opfersein oder Tätersein festhalten. Sonst erreicht uns nicht, was Jesus am Karfreitag tut: Dass er sich dorthin begibt, wo wir und alle Opfer leiden, um unserer Heilung willen. Und dass er sich dorthin begibt, wohin wir und alle Täter sich gebracht haben, um unserer Verzeihung willen.
Wo wir das annehmen, da mag auch unser letztes Bekenntnis sein: So lieb!
Fra' Georg Lengerke
Heute ist der Gründonnerstag. Die Kirche gedenkt heute des letzten Abendmahls, das Jesus vor seiner Kreuzigung mit den Jüngern feierte. Während dieses Abendmahls kommt es zu einer weiteren Begebenheit von großer Intensität: Jesus steht auf und wäscht seinen Jüngern einzeln die Füße.
Diese Szene wird häufig bloß auf ihre moralische Botschaft reduziert: „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe“, sagt Jesus danach. Aber damit wird das Entscheidende vergessen: Bevor die Jünger einander die Füße waschen, sollen sie sich die Füße waschen lassen. Und das löst erheblichen Widerstand aus: „Niemals sollst du mir die Füße waschen!“, widerspricht Petrus dem Ansinnen Jesu.
Es geht in dieser Szene um mehr, als nur um eine Lehrstunde in Nächstenliebe. „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir“, erwidert Jesus dem widerwilligen Petrus. Hier geht es um den Kern des Christseins. Der besteht nämlich nicht in der Verwirklichung bestimmter Werte. – Die meisten sogenannten „christlichen Werte“ wie die Nächstenliebe sind gar nicht spezifisch christlich, sondern allgemein anerkannt. – Nein, wer die Zuwendung Jesu annimmt, bekommt Anteil am Leben Jesu. An seiner Weise zu leben und zu lieben, an seiner Weise, die Menschen zu sehen, von ihnen zu denken und zu ihnen zu sprechen, an seiner Weise, mit Gott und mit der Welt verbunden zu sein. Wie kann man sich das vorstellen? Ein Neffe von mir hat kürzlich eine Erfahrung gemacht, von der ich glaube, dass Sie eine Antwort auf diese Frage geben kann.
Nach einem freiwilligen sozialen Jahr im Nahen Osten hat er zwischen Frühjahr und Herbst nur ausnahmsweise Schuhe getragen. In Wärme und Kälte, drinnen und draußen, tags und nachts, wandernd und ruhend, in der Regel war der junge Mann – barfuß.
Ich habe ihn nach den Gründen gefragt. Drei hat er mir genannt:
Der erste war, dass die jungen Leute während dieses Jahres Grenzen austesten und sie gegebenenfalls überwinden wollten. Zum Teil waren es Albernheiten, wie: Wie viele Brotfladen passen in einen Mund? Wie oft muss man die Wäsche wechseln, bevor die Freunde Anstoß nehmen? Wie ist es, einen Tag lang nichts zu sehen oder nichts zu hören? Wie lebt es sich ohne Haare auf dem Kopf? Oder eben: Wie weit kommt man ohne Schuhe? Irgendwann wurde die Wäsche dann wieder regelmäßig gewechselt, die Haare sind bald wieder nachgewachsen – nur die Füße blieben nackt.
Der zweite Grund hatte mit dem Gefühl von Freiheit und einer neuen Wahrnehmung der Umgebung zu tun. Er schrieb mir:
„Es hatte was von dem Freiheitsgefühl eines Kindes, das sich wehrt, wenn die Mutter ihm die Schuhe anzieht. Einfach so, ohne überflüssiges Gepäck und weniger verpackt rauszustreunen. Und dazu kommt die ‚tastende Freude‘, die mir meine Barfüße bereiten. Sie eröffnen mir eine kleine Sinneswelt, die einem mit Schuhen ganz verschlossen bleibt.“
Beim dritten Grund schließlich wird er etwas verlegen und schreibt mir, er habe eine Ahnung, ja eine Sehnsucht, dass durch eine bewusster gelebte Armut die Wege für die wertvolle Erfahrung des Beschenkt-Werdens wieder freier würden. Eine Erfahrung, die ihm in der üblichen Weise, für sich selbst zu sorgen und sich selbst zu bedienen, einfach fehlten.
Als Jesus den Jüngern die Füße wäscht, will er ihnen ein Beispiel geben. Aber zuvor schenkt er ihnen die Erfahrung, dass er für sie da ist als einer, der dient. Das sollen sie sich buchstäblich gefallen lassen, indem er ihre Füße in die Hände nimmt und sie wäscht. Und mit den Füßen seiner Jünger reinigt Jesus auch ihren Zugang zur Welt, ihre Wahrnehmung der Schöpfung und ihre Empfänglichkeit für das, was Gott ihnen schenken will – in der Welt und über die Welt hinaus.
Fra Georg Lengerke
Letzten Herbst stand ich im Groeningen-Museum in Brügge vor dem Letzten Abendmahl des Malers Pieter Pourbus aus dem Jahr 1562. Man sieht Jesus, der mit der rechten Hand das Stück Brot in der linken segnet. Um den Tisch sitzen die Jünger. Jesus gegenüber, mit dem Rücken zum Betrachter, sitzt Judas, der Jesus verraten wird. Erkennbar an dem Beutel mit Geld in der Hand.
Es scheint, als wolle er gerade aufstehen. Der linke Fuß ist leicht hinter den Hocker gestellt – und dieser Fuß stellt mich vor ein Rätsel: Zwischen dem Knöchel und den Zehen klafft seitlich eine Lücke in der Haut. Darunter ist eine zweite Hautschicht zu sehen. Die obere Hautschicht wird – wie ein Wanderschuh – mit einem Band an Ösen zusammengehalten.
Es scheint, als habe Pourbus Judas als einen Mann darstellen wollen, der in der Haut eines anderen steckt. Aber was soll das heißen? Ist das der Verräter im Freund oder der Freund im Verräter? Der Wolf im Schafspelz oder das Schaf im Wolfspelz?
Judas ist ja beides: am Anfang der von Jesus zu seinem Apostel Berufene und Bevollmächtigte – und am Ende der, der Jesus für 30 Silberlinge an den Hohen Rat verrät.
Ich stehe vor dem Bild und denke an diese beiden Möglichkeiten:
Vielleicht hat Pourbus Judas als den Wolf im Schafspelz darstellen wollen. Es gibt im Johannesevangelium der Bibel ein dunkles Wort über den Entscheidungspunkt des Judas. Da heißt es: Als Judas beim Abendmahl aus der Hand Jesu ein Stück Brot nimmt, „fuhr der Satan in ihn“ (Joh 13,27). Dieser Satz hat mit dazu geführt, Judas einfachhin als Inkarnation des Bösen darzustellen. Ist es also der Fuß des bösen Feindes, der unter der Haut des Judas hervorlugt? War Judas nur noch die Hülle des Satans, der von ihm Besitz ergriffen hatte?
Ich glaube, damit macht man es sich zu einfach. Judas war nicht einfach zum Bösen verdammt. So etwas tut die Liebe Gottes nicht. Ungeachtet seiner Schwächen war er ja doch einer der Zwölf von Jesus Auserwählten. Irgendwann kam dann der Punkt, an dem etwas Gegensätzliches zu der Freundschaft mit Jesus in Judas immer mächtiger wurde: War es nur Gier? War es Rache für die enttäuschte Hoffnung auf eine politisch Revolution? Wollte er Jesus so zu einem Wunder und einer Selbstoffenbarung als Messias zwingen? Viel wurde darüber spekuliert. Wir wissen es nicht.
Die zweite Möglichkeit ist, dass uns das Bild den Judas in der Haut eines anderen, also das Schaf im Wolfspelz zeigt.
Mich erinnert das an eine Erzählung in den Chroniken von Narnia von C. S. Lewis: Ein Junge namens Eustachius Knilch will einem Drachen dessen Schatz stehlen. Je mehr er von dieser Idee besessen ist, umso mehr verwandelt er selbst sich in diesen Drachen. In der Gestalt und Haut des Drachen begegnet er seinen Freunden wieder. Sie helfen ihm, zu erkennen, wozu er geworden ist. Das weckt seine Sehnsucht, wieder der zu werden, der er von Gott her eigentlich ist. Es beginnt der Prozess einer mehrfachen Häutung. Bei der Begegnung mit dem Löwen Aslan wird er schließlich durch einen tiefen schmerzhaften Schnitt aus den Resten der Drachenhaut befreit und bekommt seine wahre Lebensgestalt zurück.
Vielleicht ist es das: Auf dem Bild schaut am Fuß noch ein wenig die Lebensgestalt des ursprünglichen Judas Iskariot hervor, den Jesus erkannt und erwählt, berufen und geliebt hat.
Das Evangelium weiß nichts von einer weiteren Begegnung zwischen Judas und Jesus. Judas verzweifelt und erhängt sich. Aber der Maler Pourbus mag uns sagen, dass wir nicht aufhören sollen, für Judas zu hoffen. Und für uns selbst. Dass es noch während unseres Lebens zu jener Häutung kommt, bei der wir aufhören, andere zu sein, als wir für Gott eigentlich sind, und wieder anfangen, nach jenem Anfang zu fragen, der auch bei Judas die Erwählung eines geliebten Freundes war.
Fra' Georg Lengerke
„Et si omnes ego non“. So steht es in weißen Buchstaben auf dem roten Fachwerk eines Hauses in Kreuzberg an der Ahr. „Und wenn alle – ich nicht.“ Das war das Lebensmotto von Philipp von Boeselager (1917-2008), der dort seine letzten Lebensjahre verbrachte. Er war an der Vorbereitung des gescheiterten Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt. Er wurde nicht entdeckt und überlebte. „Und wenn alle – ich nicht“, das war eine Entscheidung zum Widerstand gegen die Masse und den Mainstream, gegen das Allgemeine und das Gemeine.
Im Original stammt dieser Satz vom Apostel Petrus. Kurz vor dem Leiden Jesu sagt er zu ihm: „Und wenn alle an dir Anstoß nehmen - ich werde niemals an dir Anstoß nehmen!“ (Mt 26,33)
Schon zuvor neigte Petrus allerdings zum Übermut. Als Jesus einmal davon sprach, dass er in Jerusalem leiden und sterben werde, hatte Petrus ihm scharf widersprochen: „Das darf nicht mit dir geschehen!“ (Mt 16,22) Nirgendwo in der Bibel weist Jesus einen Menschen so harsch zurecht wie an dieser Stelle den Petrus. Er sagt zu ihm: „Tritt hinter mich, du Satan! Ein Ärgernis bist du mir, denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.“
Petrus wollte sich Jesus aus Liebe in den Weg stellen. Denn zur Freundschaft gehört es, den Freund vor dem Leiden zu bewahren. Was Petrus jedoch noch nicht wusste, war, dass er sich mit diesem Protest der göttlichen Liebe selbst in den Weg stellte. Und die muss dahin gehen, wo die Schuld und der Schmerz am größten und das Erbarmen und die Erlösung Gottes am nötigsten ist. Er sollte Jesus nicht voran-, sondern hinterhergehen. Und zwar soweit es ging.
Wie weit das sein würde, das wurde für die Jünger immer unsicherer. Bis Jesus ihnen beim Abendmahl sagt, einer von ihnen werde ihn verraten. Einer nach dem anderen fragt: „Bin ich es etwa, Herr?“ Jetzt ahnte jeder, dass die Möglichkeit des Verrates auch in ihm steckte.
Als Jesus später ankündigt, dass alle an ihm Anstoß nehmen und ihn verlassen würden, bricht aus Petrus der alte Übermut ein letztes Mal heraus: „Wenn auch alle – ich nicht!“ Und Jesus sagt ihm, dass er ihn noch vor dem Hahnenschrei dreimal verleugnen werde. Als wenig später Jesus verhaftet wird, fliehen die Jünger. Alle. Auch Petrus. Und als er sich später nochmal in die Nähe Jesu traut, wird er auf ihn angesprochen und verleugnet ihn: „Ich kenne diesen Menschen nicht!“
Warum hat Philipp von Boeselager sich ausgerechnet dieses Wort als Lebensmotto gewählt? Wenn Petrus selbst sich offensichtlich überschätzt und Jesus wenig später eben doch verlassen hat – genau wie alle anderen auch. Als ich mit Boeselager einmal über den Druck auf Menschen im Widerstand gegen übermächtiges Unrecht sprach, sagte er, wir könnten uns unserer selbst halt niemals sicher sein. Auch er war sich seiner selbst nicht sicher: Weil er fürchtete, unter der Folter sofort zusammenzubrechen, trug er bis Kriegsende für den Fall seiner Verhaftung immer eine Zyankali-Kapsel bei sich. Bei Vorträgen pflegte er zu sagen: „Die Überlebenden einer Tragödie sind niemals deren Helden.“
Wenn andere vor großen Herausforderungen ängstlich werden, dann muss ich mich immer erinnern, dass ich nicht an ihrer Stelle bin. Ich weiß nicht, ob ich den Heldenmut gehabt hätte, den ich von ihnen erwarte. Petrus wollte ein Held sein und für Jesus sterben. Doch am Vorabend von Ostern kehrt sich für ihn die Geschichte um: Nicht er stirbt für die Liebe. Zuerst stirbt die Liebe für ihn. Und sie siegt ein für alle Mal dort, wo sie auch am Kreuz und im Hass die Liebe bleibt.
Der Glaube an diese vorausgehende Liebe Gottes hat seither unzähligen Menschen den Mut gegeben, beides zu tun: sich ihrer Schwachheit zu stellen – und diese Entscheidung zu wagen: „Wenn auch alle – ich nicht.“
Fra' Georg Lengerke
„Sie küssten und sie schlugen ihn.“ So lautet der deutsche Titel eines preisgekrönten Films von Francois Truffaut aus dem Jahr 1959. Er handelt von einem 14jährigen Jungen in Paris, der in zerrütteten Familienverhältnissen aufwächst, und abwechselnd die Zuwendung und Ablehnung der Erwachsenen erfährt.
Auch wenn die Geschichte eine ganz andere ist – „Sie küssten und sie schlugen ihn“ wäre auch eine passende Überschrift über den Ereignissen der letzten Tage Jesu. Das wird besonders am gestrigen Palmsonntag deutlich, an dem die Kirche sich diese letzten Tage in Erinnerung ruft: Da wird Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem mit dem begeisterten Jubelruf der Menge empfangen. Doch schon wenige Tage später folgt der Karfreitag, an dem Jesus von der aufgepeitschten Menge verworfen und schließlich qualvoll hingerichtet wird.
Es muss eine geradezu volksfestliche Stimmung gewesen sein, als Jesus am Palmsonntag auf einem Esel in die Stadt einzog. Die Bibel erzählt, die Menschen hätten die Straße mit ihren Kleidern und mit Zweigen bedeckt. Sie singen Psalmen über den kommenden Messias, und die Augenzeugen erinnert das Ganze an den Propheten Jesaja, der dem Volk Israel, der „Tochter Zion“, ausrichten lässt, dass sein sanftmütiger König auf einer Eselin in Jerusalem einziehen wird.
Mir ist an der Stelle immer etwas weihnachtlich zumute. Der Evangelist Matthäus zitiert aus dem Alten Testament dieselben Texte, die wir heute noch in dem Weihnachtslied „Tochter Zion“ von Georg Friedrich Händel singen: „Tochter Zion, freue dich! / Jauchze laut, Jerusalem! / Sieh, dein König kommt zu dir! / Ja, er kommt, der Friedensfürst.“ Die Freude in dieser Szene hat wirklich etwas Weihnachtliches. An Weihnachten kommt Gott als Mensch in die Geschichte der Welt und jedes Menschen, der ihn aufnehmen will. Am Palmsonntag zieht derselbe in die heilige Stadt ein und wird von den Menschen als der erkannt, willkommen geheißen und gefeiert, der ihr Leben wenden kann.
In den folgenden Tagen spitzt sich die Lage um Jesus zu – bis er nach der Feier des Abendmahls in einem Garten am Ölberg außerhalb der Stadtmauer verhaftet wird.
Während des öffentlichen Prozesses hat sich das Blatt komplett gewendet. Die aufgehetzte Menge fordert seinen Tod, und will den am Kreuz sterben sehen, den sie gerade noch als messianischen König bejubelt haben. Wie viele davon waren wohl dieselben, die am einen Tag ihre Mäntel vor Jesus auf die Straße gebreitet und aus voller Kehle den Jubelruf Hosanna angestimmt haben – und wenig später wutschnaubend seinen Tod forderten?
Ich frage mich, wo ich in diesen Tagen gewesen wäre. Auch die Jünger haben ja im Laufe dieser Tage alle die Flucht ergriffen, ihn verleugnet oder verraten. Wo hätte ich gestanden, wenn selbst seine Nächsten nicht geblieben sind?
Vor einigen Jahren hatte ich in der Zeit vor Ostern eine unruhige Zeit. Es stellte sich die Frage, wie es mit mir weitergehen sollte. Irgendwie war ich „dünnhäutig“ und sensibler als sonst – auch im Hören der Lesungen der Woche vor Ostern. Mir ging alles reichlich nahe: das „Hosanna dem Sohne Davids!“ wie das „Ans Kreuz mit ihm!“
Am Karfreitag bei der Verehrung des Kreuzes sah ich dann den nackten Jesus am Kreuz hängen. Die Arme weit ausgebreitet. Als wollte er mich und die ganze Menschheit umarmen. Sie hatten ihn geküsst und geschlagen. Und nun kam es mir so vor, als wäre er es, der mich willkommen heißt. Als wäre an diesem tiefsten Punkt seines und unseres Lebens er derjenige, der uns erwartet und ankommen lässt bei ihm, um uns in die Arme zu schließen und uns mitzunehmen in jenes Leben, über das der Tod keine Macht mehr hat.
Fra' Georg Lengerke
„Na, du alter Esel?“ sagte unser Vater manchmal zu mir oder einem meiner Brüder als wir Kinder waren. In der Regel war das eine Art Versöhnungsangebot nach einem Knatsch. „Gehts wieder?“ sollte das heißen, oder: „Wollen wir uns wieder vertragen?“
Warum „alter Esel“? Vielleicht wegen der Sturheit einerseits und der Treue und Friedfertigkeit andererseits, die dem Esel zugeschrieben werden. „Alter Esel“ war für mich eine Art Kosename. Und einer, den ich nicht ungern hatte.
Vielleicht ist das der Grund, warum es mir der Esel im Evangelium vom Einzug Jesu nach Jerusalem angetan hat. In der euphorischen Menge, die Jesus heute zujubelt und ihn morgen verflucht, fühle ich mich unwohl. Aber beim Esel bin ich gerne. Mit dem Esel beginnt eine Geschichte, die mir einen Vorgeschmack auf den Neuanfang gibt, den die Jünger nach Ostern erleben werden.
Drei Evangelisten berichten, dass Jesus auf dem Weg nach Jerusalem zwei Jünger vorausschickt, um für ihn einen bestimmten Esel (bzw. eine Eselin) als Reittier zu holen, auf dem noch nie jemand gesessen hat.
„Bindet ihn los!“ sagt Jesus den beiden Boten. Die Abholung geht nicht einfach so. Es braucht eine Loslösung, eine Entbindung, ja eine Erlösung aus alten, fremden und nicht länger gültigen Ansprüchen und Bindungen.
In diesem kleinen Wort „Bindet ihn los“ wird die ganze Dramatik späterer Nachfolgewege angedeutet. Menschen werden entbunden, herausgelöst aus der alten, knechtenden Herrschaft von Menschen und Mächten zum neuen Leben in der befreienden Herrschaft Gottes.
Übrigens wurde das gleiche Wort für „lösen“ am vergangenen Sonntag schon einmal gebraucht: Bei der Auferweckung des Lazarus steht dieser in der Graböffnung. Wie eine lebendige Mumie. Von oben bis unten eingewickelt in die Banden und Binden des Todes. Löst ihm die Binden! – Bindet ihn los! sagt Jesus zu den Umstehenden, damit Lazarus ins Leben kommt (Joh 11,44).
Die Loslösung dessen, den Jesus ruft, bleibt nicht ohne Widerspruch. Es werden Ansprüche angemeldet. Auch vom Besitzer des Esels. Die Antwort der Boten Jesu ist einfach und von schmerzlicher Autorität: „Der Herr braucht ihn!“ Hier und jetzt hat ein Anderer einen größeren Anspruch als der bisherige Besitzer. Aber der wird nicht leer ausgehen: Der Herr „lässt ihn bald zurückbringen“, lässt Jesus die Jünger ausrichten.
Dann heißt es, die Jünger legten ihre Kleider auf den Esel. Es ist, als zögen sie ihm ihr Kleid an. Als wäre er einer von ihnen. Und stimmt das nicht irgendwie auch? Freund und Jünger Jesu sein heißt ja auch: Jesus tragen. Christsein heißt: Christus tragen. Hinein in die Heilige Stadt im Festzug für den erwarteten König, zugleich aber auch hinein in die Höhle des Löwen, hinein in den Streit und in den Hass der Welt.
Der Esel beim Einzug in Jerusalem erinnert mich an den hl. Christophorus, den „Christus-Träger“, der, indem er unversehens das göttliche Jesuskind durch einen Fluss trägt, den Herrn der Welt gefunden hat, dem er von nun an dienen und den er sein Leben lang zu den Menschen tragen wird.
Heute sagt mein Vater nur noch selten: „Na, du alter Esel?“. Vielleicht, weil die Notwendigkeit der Versöhnung nicht mehr so häufig ist. Vielleicht auch deshalb, weil er die Lektion dessen gelernt hat, der zulassen muss, das sein „alter Esel“ losgebunden wird und geht, um ihn später auf neue Weise wieder zu bekommen.
Wie wird das nach Ostern sein? Alle Jünger hatten Jesus ja verlassen, alle waren von einer geradezu eselhaften Sturheit gewesen. Aber mit jedem will Jesus wieder neu anfangen, jedem will er möglich machen, dass er sich wieder mit ihm versöhnt.
Und wer weiß? Vielleicht wird Jesus dem einen oder anderen augenzwinkernd zulächeln, und ihm zum Neuanfang sagen: „Na, du alter Esel?“
Fra' Georg Lengerke
Wenn man von Osten kommend den letzten Weg Jesu nach Jerusalem geht, dann ist die letzte Höhe, die man überwinden muss, der Ölberg. Von ihm aus hat man einen berühmt schönen Blick auf die Heilige Stadt und den Tempelberg, bis hinunter in das Tal, wo am Fuß des Ölbergs der Garten Getsemani liegt.
Auf der Bergseite, die der Stadt zugewandt ist, befindet sich der älteste und bedeutendste jüdische Friedhof der Welt. Zwischen zwei- und dreihunderttausend Grabplatten bedecken den Hang. Alle sind in Ost-West-Richtung auf den Tempelberg hin ausgerichtet. Wer einmal hier war, dem kommt sofort die Ähnlichkeit zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin in den Sinn.
Die rabbinische Tradition geht davon aus, dass hier die Auferstehung der Toten beginnt, wenn der Messias kommt und mit den Auferstandenen vom Ölberg durch das bis dahin verschlossene Goldene Tor zum Tempelberg in die Stadt einzieht.
Wenn ich mit Pilgern diesen Friedhof besuche, ist einer der Texte, die wir dort lesen, immer die heutige Lesung aus dem Propheten Ezechiel: „Siehe, ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf.“ (Ez 37,12b)
In der antiken Synagoge von Dura Europos im Osten Syriens gibt es einen Bilder-Zyklus des Buches Ezechiel, wo unsere Lesung mit einer Stelle aus dem Buch Sacharia verbunden wird: Wenn der Messias kommt, zerbricht der Ölberg und gibt die Toten heraus, die mit ihm in die Stadt ziehen.
Für den modernen Menschen ist die Vorstellung geöffneter Gräber und hervorgeholter Toter schwer erträglich. Zu schnell stellen sich Nachrichtenbilder von Exhumierungen oder Erinnerungen an Filme mit halbverwesten Untoten ein.
Aber dennoch rührt mich dieses Bild der Gräber gegenüber dem Tempelberg und das Zeugnis der Auferstehungshoffnung Israels an. Es ist, als hätten dort die Frommen ihre Toten in Wartestellung beerdigt. Auch ist die so konkrete Vorstellung der Auferstehung dem christlichen Dogma von der „Auferstehung des Fleisches“ ja nicht völlig fremd. Auf wenn wir glauben, dass unser Leib als „verklärter Leib“ auferstehen wird.
Nicht weit vom Ölberg, ein wenig weiter im Osten, liegt Betanien. Das ist der Heimatort des Lazarus, den Jesus im heutigen Evangelium von den Toten auferweckt hat. Denen, die dabei waren, offenbarte sich Jesus schon hier als Herr über Leben und Tod, als der, der sich selbst „die Auferstehung und das Leben“ nennt.
Er wird sterben. Der Hass der Welt wird sich an ihm austoben. Und in alledem bleibt er der ganz mit dem Vater in der Liebe Verbundene. Und in dieser Verbundenheit mit Gott dem Vater besiegt er den Tod – für alle und zusammen mit allen, zu denen er gegangen ist.
Ich glaube, dass der, auf den die Toten am Ölberg warten, schon gekommen ist. Und noch immer im Kommen ist – auch zu ihnen. Dass er den Tod schon überwunden hat und noch immer überwindet – auch um ihretwillen. Dass er hineinführt und hineinführen wird in die Heilige Stadt und das Gelobte Land – die Toten zusammen mit uns.
In jene Stadt und jenes Land, die nicht mehr verteidigt werden müssen und uns nicht mehr genommen werden können, weil selbst der Tod keine Macht mehr hat über sie.
Wenn ich – so Gott will – im Herbst wieder am Ölberg stehe, dann werde ich mitten unter den Gräbern mit den Toten und für sie um diese Ankunft bitten und ihnen sagen, dass ich mich auf sie freue in der Heiligen Stadt, die der Himmel ist.
Fra' Georg Lengerke
Oft überrascht mich die Aktualität eines
uralten Wortes aus der Heiligen Schrift für unsere Zeit. Zum Beispiel das
Bußgebet des Daniel, das in der Fastenzeit häufiger gelesen wird: „Ach, HERR,
wir sind geringer geworden als alle Völker. In aller Welt sind wir heute wegen
unserer Sünden erniedrigt. Wir haben in dieser Zeit weder Vorsteher noch
Propheten und keinen, der uns anführt.“ (Daniel 3,37.38)
Das beschreibt für mich gut, wie es gerade um
die Kirche steht. Wir sind überall wegen unserer Sünden erniedrigt. Und wir
haben einen eklatanten charismatischen Führungskräftemangel. Übrigens nicht nur
in der katholischen Kirche, sondern auch in Kirchen und Gemeinschaften, die
andere Zulassungsbedingungen zu ihren anders verstandenen Ämtern haben.
Ich weiß, es gibt eine gefährliche Sehnsucht
nach dem „starken Mann“. Auch in der Kirche. In der Politik zeigt die sich
häufig am Vorabend von Terrorregimen. Der erhoffte messianische Heilsbringer
entpuppt sich als Verderber.
Vielleicht ist es die Angst vor solcher
Überhöhung und Verderbnis, die Menschen misstrauisch werden lässt. Manchmal so
sehr, dass sie jede Macht des Missbrauchs, jede Weisheit der Besserwisserei,
jede Weisung der Übergriffigkeit verdächtigen und jeden Unterschied in der
Begabung letztlich für Ungerechtigkeit halten.
Diese Angst mag auch der Grund dafür sein,
den Mangel an prophetischen und vollmächtigen, weisen und glaubwürdigen Frauen
und Männern, an vertrauenswürdigen Vater- und Mutterfiguren gar nicht erst zu
benennen oder zu beklagen, und nicht auszusprechen, dass wir „in dieser Zeit
weder Vorsteher noch Propheten [haben] und keinen, der uns anführt“.
In einer vergleichbaren Not schickt Gott im
Ersten Buch Samuel (16,1-13) den gleichnamigen Propheten in das Haus des Bethlehemiters
Isai, um denjenigen seiner Söhne zum König zu salben, den der Herr dem
Propheten zeigen würde. Nacheinander treten die Söhne, einer schöner und
stattlicher als der andere, vor ihn hin. Keiner ist der Erwählte. Bis der
jüngste, aus dem Blick geratene Sohn David von der Weide und den Schafen
herbeigeholt ist und Samuel Gott sagen hört: „Auf, salbe ihn! Denn er ist es.“
Woher weiß Samuel das? Weil die Kriterien
Gottes andere sind: „Gott sieht nämlich nicht auf das, worauf der Mensch sieht.
Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der HERR aber sieht das Herz.“
„Man sieht den Leuten nur vor den Kopf“, sagt
der Volksmund. Vielleicht aber auch deshalb, weil das einfacher und
schmerzloser ist, weil wir mehr nicht sehen wollen. Nelly Sachs schreibt:
„Samuel sahhinter der Blindenbinde des Horizonts –Samuel sah –im Entscheidungsbereichwo die Gestirne entbrennen, versinken,David den Hirtendurcheilt von Sphärenmusik.“
Je mehr wir in Parteien und Lagern denken und
darauf schauen, woher einer kommt, zu wem einer gehört, wie einer „sich macht“
– umso schmerzlicher werden uns jene fehlen, die mit uns die Wege Gottes für
die Kirche in dieser Zeit finden, wählen und gehen können.
Um die auszumachen, braucht es Leute wie
Samuel, die mit Gott „das Herz sehen“. Also die Mitte der Person, die Reinheit
ihrer Absicht, ihre Offenheit für Wort und Wirken Gottes und für die Führung
des Heiligen Geistes, ihre Güte und Wahrhaftigkeit.
Darum bete ich in dieser Fastenzeit: um Menschen,
die hinter die „Blindenbinde des Horizonts“ sehen und auf die abgelegenen
Weiden der Kirche, um jene zu finden, deren Herzen begabt und bereit sind, zu
raten und zu erziehen, zu leiten und zu lehren –
und vor allem in alledem zu lieben.
Fra' Georg Lengerke
Als Kinder konnten wir – wie die meisten Kinder –unausstehlich sein. Vor allem auf längeren Autofahrten. Quengelnd und maulend, nichts war recht. Auch bei uns gab es die bald völlig unglaubwürdige Drohung: „Gleich steigt Ihr aus!“ Neulich erzählte der Kabarettist Johann König, dass seine Schwester und er dieselbe Drohung auf Autofahrten auch nicht ernstgenommen hätten – bis seine Mutter eines Tages sagte: „Wir hatten vor Euch schon mal zwei Kinder…!“
Die heutige erste Lesung erzählt von der Durststrecke des Volkes Gottes durch die Wüste nach dem Auszug aus Ägypten. Gott sorgt für sein Volk. Aber das Volk murrt. Es ist unausstehlich. Es murrt gegen Gott und gegen Mose. Es murrt, weil das Essen fehlt oder sie langweilt, es murrt, weil sie Durst haben, weil die Sonne heiß und der Weg lang ist.
Nicht, dass Hunger, Durst und Hitze Lappalien wären. Der Weg durch die Wüste war beschwerlich, gefährlich und schwer erträglich. Aber so ist das mit unseren Wegen in die Freiheit.
Das Schlimme am Murren ist, dass es mit der Verhärtung der Herzen einhergeht. Mit einer Vergesslichkeit in Bezug auf das gewesene Gute, einer Unempfänglichkeit für das gegenwärtige Gute und dem Desinteresse am verheißenen, kommenden Guten. Vergessen war das Leiden in Ägypten. Nur die dortigen Fleischtöpfe flimmern noch vor den Augen. Vergessen war die wunderbare Befreiung und die Sorge Gottes in der Wüste. Der ganze Auszug schien nur noch Irrtum und List gewesen zu sein, um sie letztlich doch in der Wüste umzubringen.
Das Murren ist eine Versuchung bis heute. Auch in der Kirche. Und zwar in allen Lagern. Man kann mitunter gar den Eindruck bekommen, das Murren gehöre zum guten Ton. Wer nicht murrt, verkennt den Ernst der Lage und verharmlost die Krise. Murren tritt an die Stelle von Gespräch und Gebet. Murren wird zur Kirchenpflicht des kritischen Christenmenschen.
Im 85. Psalm ruft der Beter: „Würdet ihr doch heute auf seine Stimme hören!“ Und er lässt Gott sagen: „Verhärtet euer Herz nicht wie in Meríba, wie in der Wüste am Tag von Massa! Dort haben eure Väter mich versucht, sie stellten mich auf die Probe und hatten doch mein Tun gesehen.“
„Mein Tun“ – was ist das? Dass Gott in der Wüste für sein Volk sorgt. Über Brot und Wasser hinaus. Manchmal auch so, dass erst der Mangel an Brot und Wasser hilft, wieder zu entdecken, dass der Mensch von mehr lebt als bloß von Brot und Wasser (Dtn 8,3-6).
Neulich sprach ich mit jungen Eltern über längere Autofahrten mit ihren Kindern. Sie fanden Hörbücher gut. Filme weniger. Kinderproviant helfe, hieß es, und anderes mehr. Aber alle waren sich einig: Die Kinder müssen auch lernen, mit Durststrecken umzugehen.
Auch darum geht es auf den Durststrecken durch die Wüste: um die Einübung von Glaube, Hoffnung und Liebe in der Krise. Um geistliche Widerstandskraft. Um die Bereitschaft, an Schwierigkeiten zu wachsen. Um ein Vertrauen, dass sich in der Not bewährt und dem, der treu war, auch in der Not glaubt, dass er treu sein wird. Um eine Wiederentdeckung des Gottes, der mit seiner Kirche durch die Wüste zieht.
Der heilige Paulus schafft im Ersten Korintherbrief eine Verbindung zwischen der Erzählung von Massa und Meriba und dem heutigen Gespräch Jesu mit der Frau am Jakobsbrunnen (Joh 4, 5–42). Er sagt: Der Fels, aus dem Mose das Wasser schlägt, bedeutet Christus, der mit seinem Volk durch die Wüste zieht (1 Kor 10,4).
Wo wir aufhören zu murren, und wieder mit Christus verbundene Menschen werden, da werden wir uns auf der Durststrecke bewähren. Und er gibt Wasser, das den Lebensdurst stillt und die Menschen, die davon trinken, zur Lebensquelle für andere macht.
Fra' Georg Lengerke
Meine Großmutter hatte einen rauen Daumen. Als Kind spürte ich, wie der mich kratzte, wenn sie mir damit ein Kreuz auf die Stirn machte. Einen Segen stellt man sich vielleicht irgendwie zart vor. Aber ich mochte das. Der Segensdaumen meiner Großmutter war liebevoll, aber eben etwas rau. Und das passte zu ihr. Vielleicht auch deshalb, weil ihr eigenes Leben sehr, sehr rau gewesen war.
In der Kirche ist der Segen in letzter Zeit zum Zankapfel geworden. Weil sich an ihm der Streit entzündet hat, wo und wofür Vertreter der Kirche stehen, was sie billigen, gutheißen, fördern und also „absegnen“.
Beim Segen Abrahams geht es nicht darum, dass Gott etwas „absegnet“, sanktioniert oder gutheißt. Bei der Segensverheißung an Abraham geht es um eine Veränderung, eine Transformation seines ganzen Lebens.
Es beginnt mit einem Abschied. „Geh fort aus deinem Land“, sagt Gott zu Abraham. Ich habe das in der Kirche schon oft zitiert gehört. Meistens als Forderung an die jeweils Anderen, sie mögen ihre alten Gewohnheiten, Traditionen oder Überzeugungen verlassen. Es stimmt sogar, dass das manchmal dringend notwendig ist. Aber nur, wenn sich eine Überzeugung als falsch oder eine Tradition als unangemessen für die Erreichung eines göttlichen Zweckes erweist.
Abraham jedoch soll gar nicht weggehen, weil es Zuhause falsch oder schlecht gewesen wäre. Er soll gehen, weil es richtiger und besser ist, woanders zu sein – dort, wo Gott ihn mehr braucht: in dem versprochenen Land. Und zwar nicht bloß um Abrahams Willen, sondern für die ganze Welt, für „alle Sippen der Erde“.
Ich denke an meine Aufbrüche, meine Abschiede. Auch, um Priester und Malteser zu werden. Und dass ich für die Anderen gesegnet worden und losgegangen bin. Und dass ich an der einen oder anderen Stelle müde und träge geworden bin und mich gewöhnt habe.
Ein altes deutsches Sprichwort sagt: „An Gottes Segen ist alles gelegen“. Das will ich mir in dieser Fastenzeit wieder sagen lassen, dass mir an Gottes Segen liegen soll. Nicht allein in der Liturgie, sondern auch durch Mutter und Vater, durch die Schwestern und Brüder im Glauben, durch betende Hingabe. Und nicht als Bestätigung meines status quo, sondern als Sendung dahin, wo Gott mich mehr braucht.
Wir sollen mit Abraham segnen und „ein Segen sein“. Aber der Segen ist mehr als ich bin, kann mehr als ich kann, sagt und tut mehr, als ich sagen und tun kann.
Wenn ich letzte Woche durch die Stadt ging und die Gesichter der Menschen sah – frohe und traurige, freundliche und missmutige, bemalte und unbemalte – habe ich oft daran gedacht, dass es darum geht: dass ich ihnen mit Gott gut bin.
Und das heißt: sie liebe und segne. Der Segen ist ja das „Plus der Liebe Gottes“ über alles hinaus, was ich selbst tun kann. Dass ich sie als Geliebter liebe und als Gesegneter segne – schon bevor ich sie kenne und ohne vertraut oder einverstanden sein zu müssen mit dem, was sie denken, sagen und tun.
Die Segensverheißung an Abraham beginnt mit einem Abschied. Am Tag nach meiner Priesterweihe verabschiede ich mich von meiner Mutter. Sie küsst mich rechts und links, hebt dann ihre Hand Richtung meiner Stirn, um mir wie immer (und wie ihre Mutter mit dem rauen Daumen) den Segen zu geben. Dann hält sie inne und sagt – halb im Scherz: „Darf ich Dich jetzt eigentlich noch segnen?“
Da wusste ich wieder, dass der „Muttersegen“ – der raue wie der zarte – eine ganz eigene Gnade birgt. Vielleicht auch deshalb, weil Gott uns zuallererst unseren Müttern anvertraut. Weil sie die erste Heimat sind. Und weil vielleicht kein anderer Mensch uns so sehr loslassen und so segnend senden soll, wie sie…
Fra' Georg Lengerke
Der Kleiderschrank meiner Eltern war kein besonders gutes Versteck für die Weihnachtsgeschenke. Aber ich hätte auch nicht nach ihnen suchen sollen. Als ich sie fand, hatte ich das Weihnachtsfest versaut. Später verstand ich, dass so die Geschichte vom Sündenfall geht.
Ich höre oft, das Nehmen und Essen der Frucht der Erkenntnis von Gut und Böse durch Eva und Adam sei eine Emanzipation gewesen, ein Schritt in die Freiheit aus der Unmündigkeit des Gefangenseins in Gott.
Die Geschichte vom Sündenfall beschreibt und deutet jenen Moment in der Geschichte, in dem sich zum ersten Mal ein Mensch wissentlich und willentlich gegen das erkannte Gute entscheidet. Ist er davon freier geworden? Nein. Vielmehr hat er sich aus jener Urbeziehung verabschiedet, die ihn frei sein ließ.
Es ist ja nicht so, als hätten Adam und Eva vorher nicht gewusst, was gut und was böse ist. Das wussten sie sogar genau. Ihnen war gesagt worden, dass sie an den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse nicht rühren durften und dass sich an ihm zu vergreifen, sie das Leben kosten würde.
Als sie das Misstrauen schlangengleich anschleicht, beginnt es mit einer Lüge: Gott meint es nicht gut mit Euch. Er gönnt Euch die Fülle nicht. Er hat Angst um sich und sein Gottsein und dass Ihr es ihm nehmen könntet. Bedient Euch, esst und ihr werdet frei. Frei wie nur Gott es ist.
Aber wie die ganze Schöpfung ursprünglich Gabe und Geschenk ist, ist auch die Freiheit und die Unterscheidungsgabe von Gut und Böse ein Geschenk. Adam und Eva wussten schon, was gut und böse war, weil sie es von Gott erfahren und in seiner Gegenwart erkannt hatten. Sie sollten sich die Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse nicht nehmen, weil ihnen die Erkenntnis von Gut und Böse geschenkt werden sollte – in der Liebe, im Gewissen und im Gebot.
Als Eva und Adam aßen, lernten sie nicht Gut und Böse zu unterscheiden, sondern verlernten es. Sie nahmen sich die Erkenntnis, und sahen fortan Gut und Böse, sich selbst, einander und die Welt nicht mehr im Licht Gottes, sondern nur noch im Dämmerlicht ihres eigenen unerleuchteten, letztinstanzlichen Urteils.
Als der Mensch nicht mehr empfangen, sondern sich nehmen will, verändert sich die Welt: Aus der Schöpfung wird eine Verfügungsmasse und aus der Gabe eine Ware ohne Geber. Und die wird nicht mehr geschenkt und angenommen, sondern begrapscht, an sich gerissen und sich einverleibt.
Der Sündenfall war kein Befreiungsschlag. Er war eine Gefangennahme durch jene Stimme, die uns misstrauisch und missgünstig, unbeschenkbar, unerleuchtbar und undankbar macht und die Welt zum umkämpften Selbstbedienungsladen im Weltenschlussverkauf werden lässt.
Heute taufe ich einen kleinen Konrad. In der Taufe gehören wir zu Jesus Christus, in dem Gott diese „gefallene“ Welt aufs Neue mit sich verbindet und den Riss überbrückt, der uns seit Eva und Adam von Gott entfremdet und getrennt hat. Von Jesus sagt Paulus, dass er der neue Adam ist. Der weiß um seine Würde und Freiheit als „Gottes Sohn“ und um unsere Würde und Freiheit als Kinder Gottes.
Jesus bezeugt uns in der Wüste, dass diese Freiheit nicht darin besteht, sich der Welt zu bemächtigen oder sich ihr zu unterwerfen, sondern sie von Gott zu empfangen. Er erinnert uns, dass wir nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort leben, das aus Gottes Mund kommt und das wir selbst uns nicht ausdenken können.
Auch wenn sie als Anfrage und Versuchung gegenwärtig bleibt: die Gefangenschaft des Sündenfalls hat in der Taufe ein Ende. Die erneuert in uns jene Freiheit, mit Gott lieben zu können, die nur Gott selbst uns schenken kann.
Wie dem Jungen, der nicht an den Kleiderschrank der Eltern rührt, damit er am Geburtsfest des göttlichen Kindes erfährt, dass er ein geliebtes Kind ist.
Fra' Georg Lengerke
„All dies gehört Mia“, pflegte der alte Herr in Westfalen zu sagen, wenn er über das stattliche Klostergut schritt. Das klang, als wäre es seins. In Wirklichkeit hatte es seine Frau Mia geerbt, die diesen Kalauer regelmäßig geduldig ertrug.
„Alles gehört euch“, schreibt Paulus den Christen in Korinth, „Paulus, Apóllos, Kephas, Welt, Leben, Tod, Gegenwart und Zukunft: Alles gehört euch.“ Das ist zuerst gegen die Spaltungen in der Gemeinde gemeint, in der man sagt: „Ich gehöre zu Paulus - ich zu Apollos - ich zu Kephas“ (1 Kor 1,12). Paulus, Apollos und Kephas sind für Euch da, nicht Ihr für sie, will Paulus sagen.
Aber es geht hier nicht nur um Parteiungen, sondern um unser Verhältnis zur Welt überhaupt. Alles soll Euch zu Diensten sein. Oder wie Ignatius von Loyola sagt: Alles soll uns helfen, miteinander zu Gott zu kommen. Alles sollen wir wählen oder ablehnen, je nachdem, ob es uns dazu hilft oder daran hindert.
Als Kinder haben wir Geschwister um „meins“ und „deins“ gekämpft. Später dann habe ich mich gefragt: „Gehören die Dinge eigentlich mir? Oder gehöre ich den Dingen?“ Besonders in der Zeit der Klärung meiner Berufung war das eine entscheidende Frage: Besitze ich wirklich, was mir gehört? Oder gehöre ich eigentlich längst dem und werde von dem besessen, wovon ich behaupte, dass es mir gehört?
Irgendwann ging es dann nicht mehr bloß um Dinge, sondern auch um Gefühle und Launen, um Leidenschaften und Anhänglichkeiten, um Menschen und Meinungen. Gehe ich mit ihnen um? Verstehe ich sie? Verhalte ich mich zu ihnen? Oder agiere ich nur noch innerhalb ihrer, ohne mir ihrer bewusst zu sein? Helfen sie mir, oder haben sie mich?
In unserer Zeit hat sich das Problem noch verschärft, weil die Technik immer tiefer in unsere Lebensvollzüge hineinwirkt. Das ist gut, solange sie uns gehört und uns hilft. Das wird tödlich, sobald wir ihr gehören und sie uns hat. Und das geschieht dort, wo die Grenzen zwischen Mensch und Maschine, zwischen jemand und etwas, zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz immer mehr verwischt und anschließend verschoben werden.
Auch hier sind die Grenzen fließend, aber es gibt sie. Ich will mir helfen lassen. Aber ich bin nicht bereit, mir die Bewegung, den geographischen oder moralischen Orientierungssinn, das Ringen um Entscheidungen, die Sprachfähigkeit und irgendwann das Denken abgewöhnen und nehmen zu lassen – so anstrengend und mühsam all das sein mag. Die moderne Sklaverei ist bequem und gemütlich. Die Freiheit ist anstrengend und mühsam.
Donnerstagmorgen im Zug war das Telefon eine Weile im Flugmodus. Anschließend fand ich diese Nachricht von einer Freundin: „Ich freue mich immer, wenn Dein Handy aus ist […] Mir scheint die richtige Handynutzung zu den Grundlagen des religiösen Lebens zu gehören.“
„Ihr aber gehört Christus“, fährt Paulus fort. Es ist also nicht so, dass wir niemandem gehörten. Aber Christus ist nicht eine Macht unter vielen. Er ist die Macht, die uns gemacht hat und uns unbedingt liebt, von der her wir sind, wer wir in Wirklichkeit sind – und wer zu sein wir ein Leben lang suchen und verwirklichen sollen. Er ist die Macht, von der ich mich empfange, die mich mir gönnt und die allein wirkliche Freiheit schenkt. Freiheit von dem, was das Leben und die Liebe hindert, und Freiheit für das, was Leben und Liebe eigentlich sind.
Wer nicht den Dingen der Welt, sondern Christus gehört, der empfängt sich selbst und gehört sich selbst; der weiß, dass alles ihm zu Diensten ist, und lernt, in Freiheit zu dienen, wo Christus dient; der kann im Ernst sagen, worüber der Ehemann von Mia in Westfalen witzelte: All dies gehört mir.
Fra' Georg Lengerke
Nichts Neues! Das ist eine gute Nachricht bei der Krebs-Nachsorge. Und eine schlechte Nachricht für die Verschütteten im Erdbebengebiet.
„Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, sagt der Prediger im Buch Kohelet (1,9). Stimmt das?
Natürlich sehen und erfahren wir Neues. Aber dieses „Neue“ gab es schon zuvor – nur kannten wir es nicht. Jeder Mensch ist „neu“, aber rein naturwissenschaftlich betrachtet besteht er doch aus den gleichen Elementen wie alle Menschen vor ihm – nur halt in jeweils neuer Kombination. Menschen denken sich „Neues“ aus – aber nur mithilfe von schon Vorhandenem. Es gibt also „Neues“ aus „Altem“. Aber wirklich vollkommen Neues?
Paulus spricht im Ersten Korintherbrief über den Inhalt der christlichen Botschaft. Die besteht nicht in Informationen über Gott und die Welt, nicht in Verhaltensweisen oder Lebensweisheiten. Sie kommt aus der Begegnung mit etwas völlig Neuem, mit etwas, „was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was in keines Menschen Herz gedrungen ist“. Es ist die Begegnung mit dem „Geheimnis der verborgenen Weisheit Gottes“.
„Geheimnis“ ist für Paulus nicht eine zurückgehaltene Information oder ein verborgener Sachverhalt. Das griechische Wort ist „mysterion“. Und dieses „Mysterium der verborgenen Weisheit Gottes“ beginnt sich im Leben und Sterben Jesu zu „enthüllen“.
Das Mysterium bleibt unbegreiflich. Aber es ist nicht unverständlich. Der Mensch kann es nicht umfänglich erfassen. Aber es spricht den Menschen dennoch als geistiges und vernunftbegabtes Wesen an. Warum? Um ihn zu „verherrlichen“, sagt Paulus. Um ihn also im Lichte Gottes in seiner ganzen noch unbekannten Schönheit und Größe zum Vorschein zu bringen.
Mit dem Mysterium ist es wie mit einer Quelle. Etwas schenkt sich, was anders als geschenkt nicht zu haben ist. Wer versucht, sie mitzunehmen, hat nur eine Pfütze in der Hand (Jörg Splett).
In der Begegnung mit Jesus „enthüllt“ sich die Weisheit Gottes. Und an der scheiden sich die Geister, sagt Paulus. Die „Machthaber dieser Welt“ haben sie nicht erkannt. Sie halten den Bereich des Machbaren für die ganze Wirklichkeit. Und ihr Gemachtes für das einzig Neue. Jesus ist für sie „nichts Neues“. Nur irgendein weiterer Aufrührer, Gotteslästerer und Abtrünniger. Hätten sie ihn als „Herrn der Herrlichkeit“ erkannt, hält Paulus ihnen zugute, dann hätten sie ihn nicht gekreuzigt.
Jesus ist die Stelle, an der etwas völlig Neues, etwas nie Dagewesenes, nie Gehörtes, nie Gesehenes in die Welt kommt. Gott selbst, der ganz Andere, kommt als Mensch in die Welt. Der neue Mensch in der Leiblichkeit des alten Menschen. Auf Gott kann man nicht kommen. Gott kommt auf uns und uns entgegen.
Hier zeigt sich das Neue, von dem Paulus sagt, dass Gott es „denen bereitet hat, die ihn lieben“. Und damit sind wir an dem Punkt, von dem zu reden den Christen häufig ein wenig peinlich ist: Es kommt darauf an, dass wir miteinander über das ungehörte und ungesehene Neue staunen, das er uns bereitet hat, - und dass wir Gott lieben.
Wenn wir mit dem Leben Christi leben, mit seinem Wort reden und seinem Wirken wirken, dann kommen wir mit ihm an kein Ende und aus dem Staunen nicht raus.
Und wenn wir ihn lieben, dann geht uns auch seine Liebe zu uns auf – und zu unseren Nächsten. Stofflich gesehen sind unsere Nächsten nicht etwas Neues. Aber geistlich gesehen sind sie jemand Neuer.
Sie sind Neues von Gott.
Fra' Georg Lengerke