DLF Essay&Diskurs - Eine Anleitung für das digitale Leben: Mehr Ratlosigkeit wagen

DLF Essay&Diskurs - Eine Anleitung für das digitale Leben: Mehr Ratlosigkeit wagen

Update: 2018-07-22
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Die Beschleunigung der digitalen Welt überfordert immer mehr Menschen. Das Leben erscheint unübersichtlicher und komplexer als jemals zuvor. Doch die Flucht in ein vermeintlich besseres Gestern hilft nicht weiter, so Dirk von Gehlen.

Von Dirk von Gehlen

Wäre es nicht viel zielführender, gar nicht mehr nach der einen einfachen Lösung zu suchen? Vielleicht sollten wir uns der eigenen Ratlosigkeit stellen und sie konstruktiv zu nutzen versuchen: Überforderungsbewältigungskompetenz wäre dann die zentrale zu entwickelnde Fähigkeit für eine komplexe Gegenwart. Das perfekte Symbol dafür ist ein Emoticon aus dem Internet: der schulterzuckende 'Shruggie', der sich aus Zeichen des japanischen Katakana-Alphabets zusammensetzt. Dirk von Gehlen entwickelt am Beispiel des 'Shruggie' die Grundzüge seiner Emoji-Philosophie als Ratgeber zur Ratlosigkeit für einen gelassenen Umgang mit dem Neuen.

Dirk von Gehlen, geboren 1975, ist Journalist, Buchautor und Crowdfunding-Pionier. Er war Chefredakteur von jetzt.de und leitet heute bei der "Süddeutschen Zeitung" die Abteilung Social Media/Innovation. Auf digitale-notizen.de bloggt er über die Veränderungen der Medienlandschaft.

Horst Seehofer weiß Bescheid. Zweifel sind dem CSU-Innenminister fremd. Er kennt sich aus. Denn: Horst Seehofer hat einen Masterplan. Der Begriff stammt aus dem Englischen und beschreibt das perfekte Vorgehen in einer komplizierten Situation: die eine richtige Antwort, der Königsweg, die optimale Lösung - das alles meint "Masterplan". Und Seehofer hat diesen Masterplan. Jedenfalls sagt er das. "Masterplan Migration" haben seine Kommunikationsleute die Ideen genannt, die der Innenminister Mitte Juni im Streit mit der Schwesterpartei präsentierte. In dem Krach, den er damit auslöste, ist ein Aspekt etwas untergegangen, der aber sehr hilfreich ist, um sich in der komplizierten Gegenwart zurecht zu finden: der Begriff Masterplan selber.

Wer diesen Begriff wählt, will damit deutlich machen: "Ich weiß Bescheid, Zweifel sind mir fremd. Ich kenne mich aus." Es gibt Menschen, die sich genau diese Haltung von Politikerinnen und Politikern wünschen. Gerade in einer unübersichtlichen Zeit vermittelt ihnen das Masterplan-Auftreten ein Gefühl der Sicherheit, der Struktur und der Übersicht. Sie denken: "Man muss nur dem Masterplan folgen, dann verschwindet die Unübersichtlichkeit schon wieder." Und wenn die Dinge noch nicht so sind wie gewünscht, dann kann das nur daran liegen, dass der Masterplan nicht richtig umgesetzt wurde.

So einfach ist das.

An dieser Stelle möchte ich ein Schulterzucken einfügen, das Sie nicht hören können. Aber vielleicht kennen Sie das Symbol fürs Schulterzucken aus dem Internet. Ein kleines Emoticon, elf Zeichen aus dem japanischen Katakana-Alphabet. Zusammengesetzt zu einer fröhlichen kleinen Figur, die ratlos mit den Schultern zuckt: der Shruggie.

Der Shruggie glaubt nicht, dass es so einfach ist. Denn wie auch beim Unionstheater diesen Sommer gehen die groß angekündigten Masterpläne meist nicht auf. Nicht selten gibt es für Probleme nämlich nicht die eine einfache Lösung, nicht den Masterplan. Vielleicht sollten wir stattdessen anerkennen,

"dass häufig mehr Faktoren auf eine Situation einwirken, als wir kontrollieren können."

So jedenfalls definiert der Soziologe Armin Nassehi Komplexität - und fordert: In einer komplexen Welt brauchen wir andere Fähigkeiten, eine neue Haltung.

Wir müssen lernen, dass ein vermeintlich zupackendes Aufbauen mit den Händen bei der nächsten Drehung dazu führt, dass man mit dem Hinterteil Dinge wieder umwirft, die man sich vorher mühsam zusammengefügt hatte. Und dass sie umfallen, liegt keineswegs daran, dass man sich so ungeschickt angestellt hat. Es gibt schlicht Verbindungen und Zusammenhänge, die man vorher nicht bedacht hat und die dann kurz vor der Verkündung des Masterplans zu Tage treten. Wer dies auf weltpolitischer Ebene beobachten will, sollte sich mal die Brexit-Verhandlungen anschauen. Aus dem Masterplan "Nur raus aus der EU" ist ein komplexes Puzzlespiel geworden, von dem sich einige der Hauptprotagonisten schon genervt zurückgezogen haben.

Vielleicht doch alles nicht so einfach.

Auch hier denken Sie sich bitte das schulterzuckende Emoticon hinzu: Shruggie.

Die Welt scheint nicht nur immer komplizierter zu werden, sie ist vor allem immer komplexer. Es bestehen Abhängigkeiten, die man vorab nicht erkennen kann. Es gibt Mehrdeutigkeiten, die einfache Lösungen unmöglich machen. Der Wissenschaftsautor und Kabarettist Vince Ebert stellt dazu sehr trocken fest:

"Komplexe Systeme haben keinen Masterplan. Viele von uns sehen das als Nachteil. Doch in Wirklichkeit ist das toll."

Wieder ein Schulterzucken. Aus voller Zustimmung.
Wir glauben, dass es diese eine gute Lösung geben kann

Denn wenn wir akzeptieren, dass es den einen Masterplan nicht gibt, kann das auch befreiend sein. Wir lösen uns dann von der gesellschaftlichen Sehnsucht nach der einfachen Antwort. Denn insgeheim glauben wir bei aller Mehrdeutigkeit dann immer noch zu gerne daran, dass es diese eine gute Lösung geben kann. Unabhängig von politischer Prägung und von gesellschaftlichem Thema kann man diese Masterplanisierung der Debatte in unzähligen Bereichen beobachten. Man erhebt seinen eigenen Ansatz zur einzigen Lösung. Es folgt: eine konfrontative Polarisierung und ein emotionaler Streit, der kaum zu einem Kompromiss führen kann.

Ein Beispiel abseits der politisch instrumentalisierten Schicksale flüchtender Menschen gewünscht? Dann fragen Sie mal bei einem Grundschulelternabend, ob die Kinder Smartphones nutzen sollen. Zur Antwort bekommen Sie zunächst die Bestseller befeuerte Vollablehnung: "Macht uns alle dumm und abhängig." Und dann im Gegenzug die euphorische Technikumarmung, die Tablet-Koffer für jede Klasse fordert. Oder Sie fragen auf einer Schriftstellertagung, ob es nicht geschlechtergerechter wäre, künftig von Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu sprechen - statt stets nur die männliche Form zu wählen. Auch hier werden Sie Emotionen von beiden Seiten zur Antwort erhalten, wenn auch mit völlig entgegengesetztem Inhalt. Der Niedergang der deutschen Sprache wird Ihnen von der einen Seite prognostiziert - und von der anderen werden Sie hören, dass die Unterdrückung der Frau durch das generische Maskulinum auch im 21. Jahrhundert zementiert wird.

Beides schlimm, beides dringend, alles konfrontativ.

Keine Sorge, ich werde Ihnen jetzt zu keiner der genannten Fragen die eine richtige Antwort vorgeben. Nicht mal ein weiches "Lösung liegt sicher irgendwo in der Mitte" werden Sie von mir hören. Denn ich befürchte etwas viel Schlimmeres: Vielleicht haben gar beide Seiten Recht, die sich da so polarisierend widersprechen Denn das ist das Quälende an der Komplexität: dass es viele Wege geben kann. Die Wissenschaft spricht von Ambiguität, was Mehrdeutigkeit heißt.

Auch hier denken Sie sich nochmal einen schulterzuckenden Shruggie hinzu.

Vielleicht müssen wir nicht nur akzeptieren, dass die Welt komplexer und unübersichtlicher geworden ist. Vielleicht müssen wir dabei auch lernen, die Mehrdeutigkeit in möglichen Antworten auszuhalten. Ambiguitätstoleranz nennt man das. Die Fähigkeit, nicht mehr verzweifelt nach dem Masterplan zu suchen - und nach dem beruhigendem Gefühl, Recht zu haben, das damit einhergeht. In der Sprache des Internets könnte man das schwierige Wort Ambiguitätstoleranz mit den schon zitierten Zeichen aus dem japanischen Katakana-Alphabet übersetzen: mit dem fröhlichen Schulterzucken des Shruggie.
Emoticon hat das Zeug, eine Haltung für die komplexe digitale Gegenwart zu prägen

Der Shruggie ist fröhlich und gelassen - aber niemals gleichgültig. Die Zeichen in der Mitte des Emoticons zeigen ein freundliches Lächeln. Der Shruggie ist nicht nur die Vermenschlichung von Schriftzeichen, er ist auch auf der Seite der Menschen. Keine Wahrheit ist ihm wertvoller als die Humanität. Niemals würde er für eine Überzeugung Gewalt oder Hass rechtfertigen. Er zuckt nicht mit den Schultern, wenn Menschen leiden. Er versucht dann, aktiv zu werden. Aber nicht nach dem einfachen Muster der Alternativlosigkeit, sondern mit dem steten Zweifel, dass auch das Gegenteil richtig sein könnte. Hätte es den Shruggie schon gegeben, als Karl Popper seine Theorie vom kritischen Rationalismus formulierte, Popper hätte das Emoticon vielleicht sogar aufs Cover drucken lassen.

Ich habe Sie gebeten, sich den Shruggie hinzuzudenken, weil ich glaube, dass das Emoticon das Zeug dazu hat, eine Haltung für die komplexe digitale Gegenwart zu prägen. Nicht nur als Gegenentwurf für die Masterplan-Macher der Politik, sondern auch in zahlreichen anderen gesellschaftlichen Bereichen. In der Arbeitswelt, im Umgang mit den Herausforderungen der Digitalisierung und womöglich sehr grundsätzlich mit allem, was neu und fremd ist. Sascha Lobo hat die Shruggie‑Haltung sogar mal als die vielleicht erste Emoji-Philosophie beschrieben. Der Shruggie wagt einen Blick auf die Welt, der pluralistisch und offen ist. Und vor allem: digital. Das Emoticon ist Kind des Internets. Irgendjemand hat dort sogar mal geschrieben, der Shruggie drücke das Grundgefühl des digitalen Zeitalters aus, das Default-Internet-Feeling. Das Internet ist ein weltweites Netzwerk, das Länder-, Sprach- und Religionsgrenzen überwindet. Allein dass es das Internet gibt, kann man als Beweis dafür lesen, dass Rassismus und Ausgrenzung überholt sind. Wenn man so will, zeigt das Netzwerk der Netze, dass Brücken stärker sind als Mauern, dass Multi-Kulti wirksamer ist als Abschottung. Menschheitshistorisch ist das ein Geschenk - und eine Herausforderung. Denn diejenigen, die in Debatten im Web ihren Masterplan verbreiten wollen, nutzen die neuen Kommunikationsmöglichkeiten nicht selten, um Abgrenzung und Hass zu predigen. Der Shruggie als Kind des Netzes kann sie und uns daran erinnern, wie die Idee einer freien und toleranten Gesellschaft funktioniert - gerade im Internet. Das fröhliche Schulterzuc
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