Die Geschichte der Pille - Von der Befreiung zur Gefahr - radioWissen
Description
Mit der Antibabypille konnten Frauen ab den 60ern günstig selbstständig verhüten und freieren Sex haben. Gleichzeitig übernahmen sie das Risiko von Nebenwirkungen. Heute kritisieren immer mehr Menschen die Pille. 2023 löste das Kondom sie als Verhütungsmittel Nummer eins ab. Von Julia Fritzsche
Credits
Autorin dieser Folge: Julia Fritzsche
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Christian Baumann
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Karin Becker
Im Interview:
Prof. Dr. Mandy Mangler, Chefärztin der Klinik für Gynäkologie und Geburtsmedizin im Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum und Vivantes Klinikum Neukölln
Zeitzeugin Elisabeth Osigus
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-TON 1 Osigus verliebt aber Angst
Ich hab den Mann kennengelernt, den ich geliebt habe, (…) allerdings war da gleich die Angst, dass was passieren könnte, ne, dass man schwanger wird.
SPRECHERIN:
Schwanger werden – das muss sie verhindern. Elisabeth Osigus wird 1932 geboren. Als sie Anfang der 50er Jahre ihren späteren Mann kennenlernt und sie noch nicht verheiratet sind, stellt sich die Frage: wie ein Kind verhindern? Osigus notiert ihren Zyklus im Kalender.
O-TON 2 Osigus Kalender
Und wehe, wenn zwei Tage vorbei waren und die Periode kam nicht, da war die Angst groß.
SPRECHERIN:
Die Angst liegt damals bei vielen heterosexuellen Paaren mit im Bett, vor allem bei den Frauen.
O-TON 3 Mangler permanent schwanger
Da muss man wissen, dass wir heute einen sehr großen Luxus haben, dass wir Verhütung überhaupt haben, weil das über die meiste Zeit der Evolution eben nicht so war und Frauen dadurch eben permanent schwanger waren oder gestillt haben (…) und damit zu tun hatten.
SPRECHERIN:
Permanent schwanger. Mandy Mangler (Nachname dt. ausgesprochen) ist Chefärztin der Klinik für Gynäkologie und Geburtsmedizin im Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum und Vivantes Klinikum Neukölln.
O-TON 4 Mangler
Wenn man sich n bisschen früher in der Evolution das Mittelalter ungefähr anguckt, dann war da eben die Geburtenzahl sehr, sehr hoch, die lag über 10 pro Frau, und das ist schon ne ganze Menge.
SPRECHERIN:
Die ganze fruchtbare Zeit schwanger, also vier oder fünf Jahrzehnte. Natürlich konnten Frauen auf ihren Zyklus achten, aber Verhütungsmittel waren rar.
O-TON 5 Mangler Kondome und Nießen
Kondome oder so (…) hat man auch gemacht, aber nicht so gerne, die wurden früher aus Därmen hergestellt, also Tiergedärme. (…) Kondome hatten immer (…) einen anrüchigen Charakter, Kondome haben Sex-Workerinnen benutzt, deswegen war das stigmatisiert. Und dann hat man alle möglichen Dinge versucht, Vagina-Spülungen oder was in die Vagina reintun und so weiter und sofort. (…) Nießen hat man auch versucht, also da geht es ja darum, das Sperma eben aus der Vagina rauszubringen (…) oder so. Und ja, das hat alles ja nicht so richtig gewirkt.
SPRECHERIN:
Für Elisabeth Osigus und ihren Mann bleibt als Methode nur eins.
O-Ton 6 Osigus vorsehen und aufpassen
Dass er das vorsehen muss, dass nichts passiert. (…) So war das bei uns in der Familie, dass die Männer, jedenfalls bei mir mein Mann, aufpassen sollte, damit es nicht zu Dings kommt.
Undercover investigations red 0‘20
SPRECHERIN:
Bloß nicht „Dings“. Sex und Verhütung sind damals Tuschelthemen. Sexualberatungsstellen gibt es nicht, Eheberatung ist in der Bundesrepublik Sache der Kirchen. Elisabeth Osigus spricht nur mit ihrem Mann darüber, nicht mit Freundinnen.
O-TON 7 Osigus nicht geredet
Ne, ich hab nicht geredet, irgendwie kam mir das nicht so gut vor.
SPRECHERIN:
Das Leben vieler Frauen damals ist von den drei K geprägt: Kinder, Küche, Kirche. Sex ist Privatsache. Die meisten Frauen wissen nur, dass er gefährlich ist.
O-TON 8 Osigus aufgeklärt
Als Mädels im Dorf, wie es halt so ist, da hat die eine mehr gewusst als die anderen, wie was gemacht wird, aber da hieß es nur: Bloß Vorsicht vor den Jungs!
O-TON 9 Mangler lös das Problem
Und (…) zum Beispiel in einer Ehe, das war nicht das Problem des Mannes, wenn die Frau schwanger war, sondern das war ihr Problem. Der Mann hat (…) im Idealfall das Kind mitgroßgezogen, im Zweifel aber mit den Augen gerollt und gesagt: lös das Problem!
SPRECHERIN:
„Lös das Problem“ hieß: illegal abtreiben. Denn seit 1871 galt Paragraph 218 des Strafgesetzbuchs des Deutschen Kaiserreichs: Abtreibung verboten.
O-TON 10 Osigus schwarz abgetrieben
Ja, (…) da kenne ich eine aus der Nachbarschaft, die schwarz abgetrieben hat und danach gestorben ist. (…) Das war typisch. (…) Mit Stricknadeln und was nicht alles und sind dann verblutet.
SPRECHERIN:
Andere Methoden abzutreiben sind damals Chemikalien, giftige Laugen oder Tinkturen. Viele Frauen sterben. Viele kriegen ungewollte Kinder.
Emotional piano 1 0‘30
So auch die Mutter von Margaret Sanger, verfrüht gestorben nach 18 Schwangerschaften. Margaret ist eins von den 12 Kindern, die die ersten Jahre überlebt haben. Als sie in den 20er Jahren als Krankenschwester in einem New Yorker Arbeiterviertel anfängt, erlebt sie viele Frauen, denen es geht wie ihrer Mutter. Das will sie ändern.
O-TON 11 Mangler Sanger
Ja, Margaret Sanger (…) hat sich eben auseinandergesetzt mit, ja, weiblicher Verhütung (…). Und die war dann auch sehr erfolgreich und hat da die Entstehung der Pille gefördert und hat so an den richtigen Strippen gezogen.
Musik: Complex questions 0‘40
SPRECHERIN:
Margaret Sanger beginnt, Frauen in den USA über Verhütung aufzuklären, zum Beispiel über Pumpen, die das Sperma nach dem Sex aus der Vagina spülen sollen. Als sie dafür wegen „Pornografie“ verhaftet werden soll und nach Europa flieht, entdeckt sie das 1915 entwickelte Kunststoff-Diaphragma, eine Kunststoffklappe vor der Gebärmutter, und schafft es, 500 davon in die USA zu schleusen, wird aber dort nach 10 Tagen verhaftet. Ihr Engagement erhält jedoch immer mehr Aufsehen. Die Behörden geben schließlich nach und erlauben Ärzten in den USA, über Methoden der Verhütung aufzuklären. Die Frage bleibt allerdings: Wie richtig praktisch verhüten? Sanger träumt von einem ganz einfachen Verhütungsmittel für Frauen, einer Hormonpille.
Auf einer Dinner-Party fragt sie 1951 den Endokrinologen Gregory Pincus, wie viel Geld er bräuchte, um ein einfaches Mittel zur Verhütung in Form einer Pille zu entwickeln. Er schätzt: 125.000 Dollar.
Erste Ideen dazu gibt es damals schon, erklärt Gynäkologin Mandy Mangler.
O-TON 12 Mangler Entwicklung
So vor 100 Jahren ungefähr, als so die ersten Medikamente es gab, zum Beispiel Antibiotika und so, hat man auch die weiblichen Hormone künstlich herstellen können irgendwann. Und dann hat man sich natürlich gefragt, wie kann ich das jetzt so umsetzen, dass eine Verhütung daraus resultiert.
SPRECHERIN:
Die Idee ist also da, allein es fehlt der Wille, genauer gesagt: das Geld.
Musik: Original research (b) 0‘35
Doch Sanger ist nicht nur entschlossen, sondern auch Strategin.
Sie gewinnt die vermögende Frauenrechtlerin und Biologin Katharine McCormick. Beide haben das Anliegen, die gefährlichen illegalen Abtreibungen zu verhindern. Und McCormick stellt schließlich in den folgenden Jahren zwei Millionen Dollar für die Forschung an der Pille zur Verfügung. Gregory Pincus, der von der Dinner-Party, macht sich zusammen mit dem Chemiker Karl Djerassi an die Arbeit.
O-TON 13 Mangler Vater der Pille
Und dann hat man synthetisch Hormone hergestellt, die dem Körper also vorgaukeln, dass es Hormone gibt und dann eben als Verhütung dienen. Und da gab es mehrere Forscherinnengruppen und die Person, die dann die Pille eben erfunden hat, das war ja Karl Djerassi, der sich selber dann als „Mutter der Pille“ immer benannt hat.
SPRECHERIN:
Diese Forschung hatte leider große ethische Fehler. Die Tests erfolgten nicht in den USA, sondern in