Die Kalorie - wie eine Maßeinheit die Gesellschaft verändert hat - radioWissen
Description
Arme Menschen sind selbst schuld, wenn sie hungern! Sie müssen nur richtig essen. Mit dieser Überzeugung führen Wissenschaftler im 19. Jahrhundert eine Maßeinheit für Ernährung ein: die Kalorie. Von Stefan Foag
Credits
Autor dieser Folge: Stefan Foag
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Karin Schumacher, Peter Weiß
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Nina Mackert, Universität Leipzig
Prof. Bernhard Watzl, DGE
Prof. Thomas Skurk, TU München
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Literatur:
Wilbur Atwater, „Experiments on the metabolism of matter and energy in the human body“ – direkter Einblick in Atwaters Ernährungsforschung Ende des 19. Jahrhunderts
Nina Mackert, „The Career of the Calorie“ – Habilitationsschrift über die Geschichte der Kalorie
Weiterführende Links:
Wie ernähren wir uns in Zukunft gesund?
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Test zur Planetary Health Diet in der ARD Mediathek HIER
Erläuterung der Planetary Health Diet HIER
Bilder zu Atwaters Experimenten HIER
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Schon drei Tage lebt er in einer Kabine mit zweieinhalb Quadratmetern. Ein Mann tritt auf einem Fahrradergometer. Neben ihm Klappstuhl, Tisch und Feldbett. Außerhalb: Schläuche, Kabel, große Kessel, Ventilatoren. Die Kabine steht in einem Labor. Essen bekommt der Mann nur über eine Luke. Und das nach genauen Vorgaben:
ZITATOR:
„Zum Frühstück: 20 Gramm gebratener Schinken; 55 Gramm gekochte Eier, 20 Gramm Butter, 20 Gramm Brot, etwa 300 Gramm Kaffee…“
SPRECHERIN:
Der Amerikaner Wilbur Atwater leitet das Experiment. Er arbeitet in Middeltown, 160 Kilometer von New York entfernt, und hat in dieser Woche im Jahr 1897 eine Testperson in die Kammer geschickt – für vier Tage. Wilbur Atwater lässt ihn acht Stunden pro Tag strampeln.
ZSP 02 Kalorie Atmo Schlafen
SPRECHERIN:
Lässt ihn in der Kabine schlafen. Wiegt ihn, misst regelmäßig die Temperatur in der Kammer. Der Versuchsaufbau ist ein sogenannter „Kalorimeter“:
ZSP 03 Kalorie Mackert
Also der Kalorimeter war dazu gedacht, zu untersuchen, wie viel Wärme bei verschiedensten Tätigkeiten entsteht der Testpersonen und das dann in Bezug zu setzen zum Energiegehalt von Nahrung, der mit Kalorien gemessen wurde.
SPRECHERIN:
Sagt die Historikerin Nina Mackert von der Universität Leipzig, die sich mit der Geschichte der Kalorie beschäftigt hat.
Musik: Climate change more red 0‘28
Die Maßeinheit gibt an, wie viel Energie nötig ist, um ein Gramm Wasser um ein Grad Celsius zu erhitzen. Eingeführt haben sie Physiker. Wilbur Atwater ist Ende des 19. Jahrhunderts einer der Ersten, der Kalorien auf die menschliche Ernährung anwendet. Er will wissen, wie viel Essen man für eine bestimmte Arbeit braucht…
ZSP 04 Kalorie Mackert
Und er klassifizierte die Arbeit in unterschiedlich schwere Arbeit und versuchte, da Standards zu etablieren, wie viele Kalorien Menschen bei unterschiedlich schweren Tätigkeiten benötigen.
ZSP 05 Kalorie Atmo Kanalisation - Feuer / Flamme knistert
SPRECHERIN:
Wilbur Atwater verbrennt kleine Mengen Lebensmittel und misst wie viel Energie nötig ist, bis sie vollständig zu Asche verwandelt sind. Das gibt er in Kalorie bzw. Kilokalorie an.
ZSP 06 Kalorie Atmo Essen - Kauen 15 Schmatzen / Schlucken
SPRECHERIN:
So weiß er genau wie viel Energie er seinen Probanden mit dem Essen verabreicht. Er lässt sie Gewichte stemmen
ZSP 07 Kalorie Atmo Gewichtestemmen
SPRECHERIN:
Misst aber auch geistige Tätigkeiten wie Lesen…
ZSP 08 Kalorie Atmo Buch - aufschlagen, blättern, schnell und langsam
SPRECHERIN:
Ein Ergebnis: Wer sich nicht bewegt, braucht etwa 1400 Kilokalorien weniger als eine Person, die Sport macht. Wilbur Atwater führt etliche solcher Experimente durch. Schon lange glaubt er:
ZITATOR:
„Es ist unbestreitbar wahr, dass viel Geld für den Kauf von Lebensmitteln verschwendet wird.“
SPRECHERIN:
Wer hungert, ist also selbst schuld, behauptet Wilbur Atwater. Das ist Ende des 19. Jahrhunderts die Antwort auf die vielleicht drängendste Frage dieser Zeit.
ZSP 09 Kalorie Demonstration 05 Rufe / Geschrei / Schläge
SPRECHERIN:
Die Arbeitsbevölkerung leidet unter langen Arbeitszeiten, mangelndem Wohnraum, niedrigen Löhnen. Es bilden sich Arbeiterbewegungen. Streiks, Proteste, Straßenkämpfe folgen. Nina Mackert:
ZSP 10 Kalorie Mackert
Viele Menschen haben sich gefragt, ob nicht angesichts der schärfer werdenden sozialen Widersprüche eine andere Zukunft notwendig sei, eine nicht-kapitalistische Zukunft. Das heißt, es waren Arbeitsunruhen und Arbeitskämpfe mit großem sozialen Sprengstoff.
SPRECHERIN:
Und da kommt Wilbur Atwaters Blick auf die Ernährung gelegen. Zusammen mit Unternehmern und anderen Forschenden will er die Lage der Arbeiterklasse verbessern, ohne die Systemfrage zu stellen. Mithilfe der Kalorie…
ZSP 11 Kalorie OT NINA Mackert
Die Kalorie transportiert das Versprechen, eine wissenschaftlich objektive, genauestens messbare Lösung für gesellschaftliche Probleme zu liefern.
Sie ist wissenschaftlich autorisiert, aber sie ist ebenso politisch.
Musik: Take off 0‘30
SPRECHERIN:
Willibur Atwater wird vom US-amerikanischen Landwirtschaftsministerium beauftragt, zu erforschen, wie sich die Menschen ernähren. Nach damaligem Forschungsstand legt er fest: Ein Mann, der sich sehr viel bewegt, braucht maximal 3500 Kilokalorien am Tag. Andere deutlich weniger. Mit diesem Wissen lässt er in den Armenvierteln von New York forschen:
Im April 1895 sind die Forschenden bei einem arbeitslosen Mechaniker. Er, seine Frau und ihre drei Kinder leben zusammen. Ihre Lebensmittel werden genau aufgeschrieben: nach Gramm, Nährwert und Kosten. 30 Dollar im Monat geben sie aus. Und verbrauchen am Tag umgerechnet 3.900 Kilokalorien pro Kopf – also zu „viel“.
ZITATOR:
„Bei richtiger Verwendung ihres Geldes hätte die New Yorker Familie ihre Lebensmittel für 15 bis 20 Dollar statt für 30 Dollar pro Monat kaufen können.“
SPRECHERIN:
Folgert Wilbur Atwater in der Studie. Er kritisiert nicht nur, dass die Familie zu viel isst. Sondern auch das Falsche:
ZITATOR:
„Mehr als die Hälfte der Kosten für tierische Lebensmittel entfallen auf Rind-, Kalb- und Hammelfleisch und Fisch. Die hohen Kosten für pflanzliche Lebensmittel erklären sich durch die Verwendung von teurem Fertigmehl, 5 bis 7 Cent pro Pfund, Brötchen für 5 Cent pro Pfund, während Weizenmehl 2 Cent pro Pfund kostete.“
SPRECHERIN:
Es entstehen genaue Vorstellungen, was arme Menschen – mit Blick auf ihren Geldbeutel - essen sollen, erzählt die Historikerin Nina Mackert:
ZSP 13 Kalorie Mackert
Salat galt als besonders ökonomisch ineffizientes Lebensmittel und die ArbeiterInnen wurden tatsächlich aufgefordert, kein Salat und kein grünes Gemüse zu kaufen, weil das zu teuer sei und zu wenig Kalorien liefern würde. Also Bohnen und Haferflocken waren immer die klassischen Empfehlungen gegen Hunger und für eine hohe Kalorienzahl bei geringen Preisen.
Musik: Secret proofs red 0‘16
SPRECHERIN:
Die Kalorie ermöglicht also das perfide Argument: Arme Menschen verdienen nicht zu wenig Geld, sie verhalten sich nur falsch und sind für ihr Schicksal