Die Sanktmartiner - Auswanderer mit fränkischen Wurzeln - radioWissen
Description
Im Jahr 1724 machten sich dutzende Familien aus dem fränkischen Gerolzhofen auf in eine unbekannte Zukunft. Sie suchten ein besseres Leben in Sanktmartin, im Banat. Nach 300 Jahre kommen sie zurück, zu einem "Familientreffen". Von Lukas Grasberger
Credits
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Susanne Schroeder
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Elisabeth Illich, Mitglied der Heimatortsgemeinschaft Sanktmartin, Leverkusen;
Waldemar Lustig, Mitglied der Heimatortsgemeinschaft Sanktmartin, Bietigheim;
Prof. Katrin Boeckh, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg;
Bernhard Fackelmann, Vorsitzender der Heimatortsgemeinschaft Sanktmartin, München
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecher
Der Sommerhimmel ist gewittrig in Gerolzhofen. Dunkle Wolken sind aufgezogen über einem prächtigen Fachwerk-Gebäude im Zentrum des fränkischen Städtchens. Gleich wird es regnen. Das drohende Unwetter hat Elisabth Illich nicht abgehalten, in die Gerolzhofener Altstadt zu kommen. Besonders der Besuch des „Deutschhauses“ ist für die temperamentvolle Frau ein Herzensanliegen.
O-Ton 1 Elisabeth Illich
„Wir sind hier...das ist das Haus unserer Ahnen. Und da ist unser Ursprung, wir wissen genau, woher wir stammen: Das ist Gerolzhofen! Gucken Sie mal: Franz Deutsch, Buch- und Verlagsdruckerei. (…) Von hier sind die ausgezogen. Und sind von hier bis nach Ulm oder beziehungsweise nach Regensburg…. ...und sind in die Ungewissheit einfach geschippert. Und jetzt freuen wir uns so, dass wir diese Heimat hier nochmal in Gerolzhofen erleben und feiern können.“
Sprecher
Elisabeth Illich, geborene Deutsch, ist eine von rund 400 Besucherinnen und Besuchern , die an diesem Juliwochenende ins unterfränkische Gerolzhofen gekommen sind. Gäste, die wie sie durch die malerische Altstadt bummeln – oder durch das weitläufige Gelände des nahegelegenen Schwimmbades flanieren; Besucher, die auf Bierbänken essen und trinken, während hinter ihnen im Festzelt eine Musikkapelle zum Tanz aufspielt.
Atmo Fest „Sanktmartiner“, Bierzelt, Blasmusik kurz hoch
Auf den ersten Blick wirkt es, als würde hier eine fränkische Gemeinde ihre traditionelle „Kerwa“ feiern. Die Besucher sind auch von hier – und doch nicht von hier. Sie sind von nah und fern, aus allen Teilen Deutschlands, sogar aus Ungarn nach Unterfranken gekommen.
Sprecherin
Doch eigentlich ist dieser Besuch Teil einer viel längeren Reise: Die Menschen, die sich hier zusammengefunden haben, nennen sich „Sanktmartiner“ - und die Fahrt nach Gerolzhofen ist für sie eine Reise in die eigene Vergangenheit. Denn jeder Einzelne von ihnen hat einen Vorfahren, der sich vor 300 Jahren, am 20. Mai 1724, am Platz vor der Kirche der Stadt eingefunden hatte – um von dort aus in ein neues Leben aufzubrechen.
O-Ton 2 Waldemar Lustig Teil 1
„Der Hauptbezug ist eigentlich diese Abreise von diesen über 300 Personen von Gerolzhofen.“
Sprecherin
...sagt Waldemar Lustig.
O-Ton 2 Lustig Teil 2
„Mein Name ist jetzt Lustig, den gab´s vielleicht zehnmal im Ort. Gerolzhofen ist jetzt der Ort, wo die Leute weg sind. Das ist wohl auch dokumentiert in den Stadtbüchern, man kann das nachvollziehen. Wir haben das unglaubliche dankbare Glück, dass wir die Dokumentation auch dieser Abreise, dass man das richtig nachvollziehen kann.
Sprecherin
Ausgereist sind seinerzeit mehrere hundert Menschen - von Gerolzhofen und Umgebung nach Sankt Martin: Dieser Ort lag damals, im 18. Jahrhundert, weit im Osten des Herrschaftsgebietes der römisch-deutschen Kaiser. Zur Auswanderung aufgerufen hatte die Gerolzhofener Bewohner Johann Georg Harruckern. Der Baron Harruckern bekam nach den Türkenkriegen von den siegreichen Habsburgern Ländereien zugesprochen. Diese Ländereien lagen in der Tiefebene des damaligen Ungarnlandes. Das Problem: Das Gebiet war verwildert, verödet - und fast menschenleer. Harruckern suchte nun Siedler, um sein brachliegendes Land zu bestellen. Und die Obrigkeit unterstützte das Werben des Barons.
ZITATOR
Seine Hoch Geheiligte Majestät wird gütig erlauben, dass freie Personen jeder Art ins Land gerufen werden, die von jeder öffentlichen Steuer für sechs Jahre zu befreien sind und dass diese Freiheit im ganzen Land verkündet werden kann'
Sprecherin
Arbeitskräfte in großem Stil anzuwerben, um verlassene, kriegsverwüstete Regionen zu besiedeln und zu kultivieren: Das war für die Herrscher des 18. Jahrhunderts ein durchaus übliches Vorgehen, sagt die Professorin Katrin Boeckh. Sie forscht am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropa-Forschung in Regensburg.
O-Ton 3 Boeckh
„Also Österreich-Ungarn, aber auch Preußen und auch Russland haben in dieser Zeit eben versucht, Siedler ins Land zu holen.“
Sprecherin
Doch: Was trieb diese Menschen an, ihre Heimat, ihre Verwandtschaft, ihr traditionelles Leben hinter sich zu lassen? In einer Zeit, in der jede Reise ein beschwerliches, wenn nicht gar gefährliches Unterfangen war?
O-Ton 4 Boeckh
„Diese Sanktmartiner werden genauso wie die vielen anderen Kolonisten aus Deutschland, die gekommen sind, aus der Pfalz, aus Bayern, aus Schwaben, aus Franken, aus Elsass, Lothringen...und so weiter: Die werden alle dieselben Gründe gehabt haben, weil: Freiwillig geht natürlich keiner. Es ist mit Sicherheit zu sehen in den wirtschaftlichen Verhältnissen ihrer Herkunftsregionen. Da war eben zu beobachten, dass im 18. Jahrhundert die Zahl der bäuerlichen Unterschichten immer größer geworden ist. Also die Zahl der Kleinbauern, die keine Möglichkeit hatten, für sich und ihre Familie ein Auskommen zu finden. Das war das eine. Das andere war steigende Getreide- und Abgabenpreise. Also das war quasi der Druck zu gehen.
Sprecherin
Eine immer größere Nachkommenschaft hatte in der Heimat nur wenig Chancen, ein eigenes Auskommen zu finden: So fasst es Katrin Boeckh zusammen. Denn nur der Erstgeborene erbte seinerzeit den elterlichen Hof. Seine Geschwister wurden lediglich ausbezahlt. Und: Je mehr sie waren, umso weniger gab es zu verteilen. So richteten sich schließlich die Hoffnungen auf ein Leben jenseits der Heimat.
O-Ton 5 Boeckh
„Und diese Hoffnung war gar nicht so illusorisch. Also diese Hoffnung hat bestanden darin, dass man einen sozialen Aufstieg schafft. Also es gibt die Möglichkeit, die Chance zu sozialer Mobilität nach oben. Und das war eben gegeben dadurch, dass man als Bauer auf einem eigenen Flecken Erde arbeiten kann. Man ist jetzt nicht mehr der Schneider - oder wie auch immer - in einer Stadt, sondern kann über das eigene Stück Land verfügen. Man erhält als Kolonist Land in Erbpacht. Und man ist auch einige Jahre lang befreit von Steuern. Also das ist ein wichtiges Privileg.“
Sprecherin
Waren diese Siedler Unternehmer ihrer selbst, oder „Macher“, wie man heutzutage sagen würde? So weit würde Katrin Boeckh nicht gehen. Doch die Bereitschaft, den Ruf der Freiheit auch zu hören, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen – die war diesem Menschenschlag schon zu eigen, sagt die Regensburger Professorin.
O-Ton 6 Boeckh
„Das Recht auf Freizügigkeit, das man genossen hat als Kolonist. (...)Also Eigeninitiative, Hoffnung auf freies Leben, das war durchaus bestimmend