Giacomo Puccini - Superstar der Oper - radioWissen
Description
Kitsch oder Kult? Kolportage oder Kunst? Wie auch immer: Giacomo Puccinis "La Boheme", "Tosca" und "Turandot" ziehen bis heute die Menschen in die Opernhäuser der Welt. Puccini war Weltstar, Schwermütiger, Auto- und Techniknarr, eine vielseitige, oft widersprüchliche, immer aber faszinierende Figur. Von Christian Schuler
Credits
Autor dieser Folge: Christian Schuler
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Hemma Michl, Jerzy May, Florian Schwarz
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Karin Becker
Im Interview:
Jörg handstein, Autor und Kritiker
Volkmar Fischer, Musikjournalist (BR Klassik)
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Literatur:
Richard Erkens (Hg.): Puccini-Handbuch, Gemeinschaftsausgabe der Verlage Metzler, Stuttgart, und Bärenreiter, Kassel, © Springer-Verlag GmbH, Stuttgart 2017.
Giuseppe Adami (Hg.): Puccini. Ein Musikerleben, mit 240 eigenen Briefen, Berlin o.J. (vermutlich 1930er Jahre).
Clemens Höslinger: Puccini. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1984.
Dieter Schickling: Puccini. Biographie. München 2017.
Arthur M. Abell: Gespräche mit berühmten Musikern, Artha Buchdienst, Oy-Mittelberg, 1973.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZSP 1 Fischer
Es ist einfach so, dass Puccini mit bestimmten Tricks arbeitet. Und da würde ich vor allem die Oktavierung der Gesangslinie nennen. Das heißt eine bestimmte Melodie, die gesungen wird, wird gleichzeitig im Orchester aufgegriffen und eben in Oktaven, in Oktavparallelen verstärkt.
Musik hoch
(Forts. ZSP 1 Fischer) Und man kann einfach sagen, dadurch wird das Gefühlspedal voll durchgetreten in einer Form, wie es das bisher nicht gab in der Operngeschichte.
Sprecherin
Sagt ein Kenner und Liebhaber von Giacomo Puccini, der Journalist Volkmar Fischer. Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem italienischen Komponisten, seinen Stilmitteln, seinen Kniffen – und ist dennoch immer wieder hingerissen.
ZSP 2 Fischer
Ja, man ist da eigentlich klüger als die Musik. Vielleicht liegt es daran, dass er halt im ganzen einen Tonfall ... kreiert, der am gesprochenen Wort angelehnt ist ... Er hat seine Librettisten da schon haben wollen, dass das dann praktisch so wirkt, als würden die sich mehr oder weniger ganz normal unterhalten, diese Leute. Und vor diesem Hintergrund ..., mit der die Boheme zum Beispiel losgeht, eine halbe Stunde lang, wirkt es umso stärker, wenn dann eben (auf das Gefühlspedal getreten wird, indem) sich Melodien plötzlich groß ausbreiten und das Orchester sich drauf setzt ... man erliegt dem, selbst wenn man durchschaut, wie es konstruiert ist.
Sprecherin
Genau aus diesem Grund hat Igor Strawinsky Puccini als ein „Genie der Sentimentalität“ bezeichnet.
Musik 2: Nessun dorma! 53 Sek
ZSP 3 Fischer
Und selbst ein Anton Webern, der atonal komponierte, zwölftönig, der hat gesagt: Nein, Puccini, das ist kein Kitsch. Das ist höchste Kunst, wie er den Bogen spannt, von ungeheuer zarten Farben bis zu exzessiven Eruptionen, immer bezogen auf, sagen wir mal: Liebesschmerz. Es ist für ihn ganz zentral, dass Liebe mit Schmerz verbunden ist und auch mit Tod. Und da ist er eigentlich Extremist. Also ich wüsste nicht, wer das sonst so bis zum Geht-nicht-mehr ausgelotet hätte.
Musikwechsel in Musik 3: „End titles“ – 54 sek
Sprecherin
An dieser „genialen Sentimentalität“ scheiden sich die Geister. Und daran schieden sie sich schon zu Puccinis Lebzeiten.
Zitator 2
„Eine vergängliche Kunst, wie schlechter Journalismus, wie minderwertige Literatur.“
Sprecherin
So der Schriftsteller Fausto Torrefranca im Jahr 1912. Und der Kritiker der Turiner Zeitung „Stampa“ schrieb nach der Uraufführung der Oper „La Bohème“:
Zitator 2
„So wie die Bohème keinen tiefen Eindruck auf das Gemüt der Zuhörer hinterlässt, so wird sie auch keine große Spur in der Geschichte unseres Operntheaters hinterlassen, und es wird gut sein, wenn sie der Autor wie den Irrtum eines Augenblicks betrachtet ...“
Musik 4: Sì, mi chiamano Mimì. Arie der Mimì – 55 sek
Sprecherin
Ausgerechnet „La Bohéme“, eines der meistaufgeführten Werke der Operngeschichte. Überhaupt die Kritiker, die sogenannten Fachleute, sie wurden regelrecht überrollt von der Wucht dieser Musik und ihres Erfolgs. Dass Puccinis Opern gelegentlich zur Rührseligkeit neigen, zum Seichten und Süßlichen, bestreiten nicht einmal seine glühendsten Anhänger. Aber könnte etwas, was künstlerisch wertlos ist, so dauerhaft und langlebig sein? Können die Millionen von Opernfans irren, die bis heute die Säle füllen, wenn „La Bohème“, „Tosca“ oder „Madama Butterfly“ gespielt werden? Der Puccini-Biograph Dieter Schickling:
Zitator 2
„Puccini hat nie behauptet, dass er ein bedeutender Komponist sei. Er sagte stattdessen wieder und wieder, er wolle nur, dass seine Werke dem Publikum gefallen. Beides ist bekanntlich nicht das gleiche. Bei Puccini denkt man manchmal, hier sei das der Fall.“ (Schickling)
Musik5 : Puccini auf der Orgel: – 35 Sek
Sprecherin
Giacomo Puccini stammte aus einer Musikerfamilie und war eigentlich Giacomo der Zweite. Seine Ahnenreihe lässt sich vier Generationen zurückverfolgen, bis zu Giacomo dem Ersten, der aus einem toskanischen Bergdorf stammte und sich später in Lucca niederließ. Die Puccinis prägten als Organisten, Komponisten, Kapellmeister und Musiklehrer das musikalische Leben dieser kleinen, aber stolzen Stadt, die musikalisch einiges zu bieten hatte.
ZSP 4 Handstein
Er sollte ja wirklich in die Fußstapfen seines Vaters treten, als Organist und Kapellmeister und hat sehr früh angefangen an der Orgel. Ich glaube, mit fünf oder sechs Jahren hat ihn der Vater schon an die Orgel gesetzt ... Und er hat gelernt, wie man halt das Handwerk lernt, also Orgelspiel, Choräle später dirigieren. In Lucca gab es eine sehr gute Musikschule, fast eine Art Konservatorium, und da hat er auch das volle Programm gelernt. Und er war eigentlich dann auch fit für die Kirchenmusik ... Aber in Lucca gab es auch eine Oper, ein Opernhaus sogar, und da hat ihn einfach auch ja das Bühnengeschehen angefixt und die Geschichten, die dort erzählt wurden...
Sprecherin
Der Musikschriftsteller Jörg Handstein.
Das Maß aller Dinge in Sachen Oper war zur Zeit von Puccinis Jugend Giuseppe Verdi. Puccini wurde auf Verdi durch seinen Lehrer am Konservatorium in Lucca aufmerksam gemacht und studierte als junger Mann angeblich fleißig die Partituren von „La Traviata“, „Rigoletto“ und „Il Trovatore“. Dann kam das Frühjahr 1876.
Musik 6: Verdis „Aida“, Triumphmarsch, ab 0:23 – 26 Sekunden
Sprecherin
In Pisa, hieß es, werde „Aida“ gegeben. Der 17-jährige Puccini machte sich auf den Weg, zu Fuß. Gut vier Stunden braucht man von Lucca nach Pisa. Der Eindruck, den Aida auf Puccini machte, scheint überwältigend gewesen zu sein.
Zitator 1
„Es war, als ob sich mir die musikalische Pforte eröffnet hätte.“
(Zitat kommt bei Höslinger vor, als Quelle gibt er das Buch von Torrefranca von 1912 an)
Sprecherin
Und spätestens seit diesem Abend soll er sich über seine Bestimmung im Klaren gewesen sein: er wollte Opernkomponist werden. Oder in den Worten des über 60-Jährigen an seinen Librettisten Giuseppe Adami:
Zitator 1
„Ich kam vor langer Zeit auf die Welt, vor gar zu langer Zeit, es mag ein Jahrhundert her sein ... und Gott berührte mich mit dem kleinen Finger und sprach: ‚Schreibe fürs Theater; hüte dich: nur fürs Theater‘ – und ich habe den höchsten Rat befolgt.“ (zitiert nach Adami)
Musik 7: 2. Aufzug aus Parsifal – 47 Sekunden
Sprecherin
Auch wenn schon bald nicht mehr Verdi sein Idol war, sondern Richard Wagner. Er galt dem jungen Studenten als Inbegriff musikalischer Modernität. Wagner stand für die Überwindung des Belcanto und der alten Nummernoper, ihrer formalen Enge, ihrer inhaltlichen Klischees. Eine von Puccinis ersten Anschaffungen nach dem Wechsel ans Konservatorium von Mailand soll eine Partitur von Wagners Oper „Parsifal“ gewesen sein, die er sich im wahrsten Sinne vom Mund abgespart hatte.
ZSP 5 Handstein
Die Familie ist ja verarmt, weil sein Vater sehr früh gestorben ist. Und es war eine große Familie mit fünf bis sieben Kindern. Und die Mutter konnte die Familie schon kaum durchbringen, und das Studium hätte sie niemals bezahlen können. Und er hat es eigentlich nur geschafft, weil er von der Königin höchstpersönlich ein Stipendium bekommen hat. Und das ist aber nach einem Jahr ausgelaufen, und er musste wirklich von der Hand in den Mund leben.