DiscoverScience on Player FMHomo Sovieticus – Utopie und Alltag - radioWissen
Homo Sovieticus – Utopie und Alltag - radioWissen

Homo Sovieticus – Utopie und Alltag - radioWissen

Update: 2025-01-24
Share

Description

Einen neuen sowjetischen Menschen wollte die junge UdSSR erschaffen, durch Wissenschaft, Bildung und - Umerziehung. Das Ergebnis ist jedoch umstritten: Kritiker sagen dem sogenannten Homo Sovieticus oft nach, politisch desinteressiert zu sein und nur noch Dienst nach Vorschrift zu machen. Wer war der Homo Sovieticus - und gibt es ihn noch heute? Von Fiona Rachel Fischer


Credits
Autorin dieser Folge: Fiona Rachel Fischer
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann, Sebastian Fischer
Technik:
Redaktion: Thomas Morawetz


Im Interview:
Maja Soboleva, Professorin am Institut für Philosophie an der Philipps-Universität Marburg
Klaus Gestwa, Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen



Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren:


Die Russische Welt aus Sicht des Kremls - Ruskij Mir
JETZT ENTDECKEN


Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:


Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN


Literatur:
Klaus Gestwa: „Der Sowjetmensch. Geschichte eines Kollektivsingulars“, in: Nackte Seelen. 68 (2018), S. 55-82. Ein informativer Artikel, der sowohl die Begriffsgeschichte des „Homo Sovieticus“ in historischen Kontext setzt, als auch den Begriff selbst kritisch beleuchtet.



Maja Soboleva: “The Concept of the ‘New Soviet Man’ and Its Short History”, in: Canadian-American Slavic Studies 51 (2017), S. 64-85. Soboleva diskutiert hier das sowjetische Moralverständnis hinter dem Neuen Sowjetischen Menschen.



Zitate aus Alexander Sinowjew: Homo sovieticus. Roman. Aus dem Russischen von G. von Halle. Zürich 1984.


Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
JETZT ENTDECKEN


Das vollständige Manuskript gibt es HER.


Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:


SPRECHERIN:


Man nehme: einen starken Körper, Sportlichkeit …. dazu einige Schöpfer Loyalität … und jetzt noch eine gute Handvoll Bildung …. Ahh, und eine Prise Leidenschaft. Dann ist er fertig – 


SPRECHER:


– der Neue Mensch.


O-TON 1 – Klaus Gestwa


Die Idee dass sich der Mensch neu erfinden kann, dass er sich selbst transformiert, ist ja in der Menschheitsgeschichte wiederholt vorgekommen. Und die Vision vom neuen Menschen gehört, glaube ich, ganz zentral zu den sozialen und politischen Obsessionen des zwanzigsten Jahrhunderts.


SPRECHERIN:


- sagt Klaus Gestwa, Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen. Spätestens seit der Verbreitung von Darwins Evolutionstheorie weiß man, dass sich der Mensch entwickelt und nicht gottgegeben ist. Also müsste man doch in diese Entwicklung eingreifen können.


SPRECHER:


Die junge Sowjetunion belässt es jedoch nicht nur beim Träumen; die kommunistische Partei macht sich ans Werk, einen Neuen Sozialistischen Menschen zu erschaffen. Denn damit das mit dem Kommunismus klappen kann, da ist man sich unter den Revolutionären sicher, braucht es im ehemaligen Zarenreich eigentlich eine ganz andere Art von Mensch.


SPRECHERIN:


Für eine Herrschaft des Proletariats, die nach der Marxschen Theorie der Revolution folgen soll, benötigt man erst einmal eine Arbeiterklasse. Die gibt es per Definition aber nur in einer Industriegesellschaft. Und das Zarenreich war keine. 


O-TON 2 – Klaus Gestwa 


Die neuen Moskauer Machthaber sahen sich natürlich auch vor die Herausforderung gestellt, dass sie einen Staat übernahmen, der im Wesentlichen bäuerlich geprägt gewesen ist, also im Januar 1917, stellten über 80 Prozent der Bevölkerung des Sowjetrusslands damals noch Bauern und Nomaden dar. Und dann ging es jetzt eben darum, auch eine soziale Machtbasis zu schaffen. Und diese soziale Machtbasis sollte ebenso durch die Formung eines neuen Menschen tatsächlich auch an Stabilität und auch an Festigkeit und Dauerhaftigkeit gewinnen.


SPRECHER:


Die Bewohner der Sowjetunion sollen eine schnelle Entwicklung durchlaufen und zu Menschen werden, die den Kommunismus errichten können.


O-TON 3 – Klaus Gestwa:


Und da gehört eben die Aufopferung für dieses sowjetische System ganz zentral dazu das Enthusiastische, das Kämpferische, was damit verbunden gewesen ist, auch immer wieder das Aufopferungsvolle. Dass man als Asket lebt, um eben seine ganze Kraft und seine ganze Energie einbringen zu können in diesen Aufbau des Sozialismus, der ja in den 20er und in den 30er-Jahren ganz oben auf der politischen Agenda stand.


SPRECHERIN:


Es geht also um einen Typus Mensch, den man bislang noch nicht in ausreichender Zahl und Ausprägung vorgefunden hatte. Es geht um die Utopie eines sozialen, moralischen und weltoffenen Menschtyps, die jetzt Wirklichkeit werden soll.


SPRECHER:


Lenin und anderen führenden Parteimitglieder wollen den Neuen Menschen so bald wie möglich und nötigenfalls auch künstlich erschaffen, um mit den Zielen der Revolution vorankommen. Die Methoden, mit denen sie diese gezielte Beeinflussung der Menschen, Social Engineering, betreiben, sind sowohl produktiv als auch repressiv. Ganz vorne bei den produktiven Maßnahmen stehen die Alphabetisierung der breiten Bevölkerungsmasse und enge Bildungswege für junge Menschen an neu eingerichteten Arbeiter- und Bauernfakultäten.


O-TON 4 Klaus Gestwa


Ende der 30er-Jahre gab es tatsächlich schon mehrere Millionen Industriearbeiter, die tatsächlich diesem neuen sowjetischen Regime eine feste soziale Basis gegeben haben und auch Hunderttausende von Spezialisten, die über diese stalinistischen Bildungsprogramme dann auch in Führungspositionen aufgestiegen sind.


SPRECHERIN


Auch die Kultur steht im Dienst der Erschaffung eines neuen Menschen. In Literatur, bildender Kunst und Theater stellt die neu erfundene Strömung des sozialistischen Realismus die Sowjetgesellschaft und ihre Bürger so dar, wie sie werden sollen. 


O-TON 5 – Maja Soboleva


Und sozialistische Propaganda war omnipräsent. […] Auch die öffentlichen Organisationen einschließlich der Organisationen für die Jugend, das waren so jugendliche kommunistische Organisationen wie Pioniere, Komsomol, und so weiter gab es auch für kleine Kinder eine Organisation für Kinder von sieben bis zehn Jahre. Das waren die sogenannten Oktjabrjate, die Kinder des Oktobers, also ganz junge Leninisten.


SPRECHER:


Maja Soboleva, außerplanmäßige Professorin am Institut für Philosophie an der Philipps-Universität Marburg, ist in den späten Jahren der Sowjetunion aufgewachsen und forscht seit ca. 20 Jahren in Deutschland.


SPRECHERIN:


Der sozialistischen Umformung kann niemand entrinnen. Auch nicht die, die die Partei eigentlich aus der neuen Gesellschaft ausschließt. Denn während sich die Sowjetbürger mit sozialistischer Literatur bilden und Massensportfeste auf dem roten Platz feiern, werden diese Ausgestoßenen in Arbeitslagern „umerzogen“ – den Gulags.


SPRECHER:


„Perekovka“, „Umschmiedung“ nennt die Propaganda euphemistisch diesen Prozess, der aus ehemaligen Großbauern, „Kulaken“, Verbrechern oder ganzen unerwünschten Ethnien neue Menschen, also rechtschaffene sowjetische Bürgerinnen und Bürger machen soll. Neben Zwangsarbeit sollen Bildungsmaßnahmen und Kulturprogramm die Umerziehung abrunden. Die Häftlinge verfassen Berichte oder veranstalten Theaterstücke, nachdem sie stundenlang schwerste körperliche Arbeit unter unmenschlichen Bedingungen verrichtet haben.


SPRECHERIN:


Ein Vorzeigeprojekt der Sowjetunion in den frühen 30er-Jahren ist der Bau des Belomor, ein 227 km langer Kanal von der baltischen zur weißen See, der tausende Todesopfer fordert und in nur 20 Monaten fertiggestellt wird.


SPRECHER:


Im Jahr 1933 reist eine Gruppe sowjetischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller unter der Leitung des Autors Maxim Gorkij in das Arbeitslager, um die Insassen zu befragen und über ihr Leben vor und in dem Lager zu schreiben. Der Sammelband, der sich in englischer Übersetzung auch an das Ausland richtet, schildert glühend die erstaunliche Umformung der Zwangsarbeiter zu guten Sozialisten: der Kulaken, Diebe und Prostituierten, die in der Arbeit und der Gemeinschaft einen neuen Sinn finden und zu Höchstleistungen beflügelt werden. Die literarische Gruppe zeichnet ein glänzendes Bild davon, was wir heute als ein System des Schreckens kennen.


O-TON 6 – Klaus Gestwa


Ich bezeichne des Gulag-System als den Hades der stalinistischen Industriezivilisation. Von 1928 bis 1956 mussten etwa 18 Millionen Menschen diesen Hades durchlaufen. Wir wissen anhand der Statistiken, dass vermutlich zwei Millionen Menschen ihre Zeit im Gulag nicht überlebt haben. Viele andere waren gesundheitlich und auch psychisch dauerhaft geschädigt durch ihre brutalen Lagererfahrungen. Und das ist etwas, was nat

Comments 
In Channel
loading
00:00
00:00
x

0.5x

0.8x

1.0x

1.25x

1.5x

2.0x

3.0x

Sleep Timer

Off

End of Episode

5 Minutes

10 Minutes

15 Minutes

30 Minutes

45 Minutes

60 Minutes

120 Minutes

Homo Sovieticus – Utopie und Alltag - radioWissen

Homo Sovieticus – Utopie und Alltag - radioWissen