80 Jahre Nürnberger Prozesse – Interview mit russischem Generalkonsul Krasnitskiy: Moskau vermisst Anerkennung der sowjetischen Rolle
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Anlässlich des 80. Jahrestages der Nürnberger Prozesse kritisiert der russische Generalkonsul Oleg Krasnitskiy die mangelnde Anerkennung der sowjetischen Rolle und fordert die internationale Anerkennung des Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion als Völkermord. Im Gespräch mit den NachDenkSeiten beschreibt Krasnitskiy die deutsch-russischen Beziehungen offen als „hybriden Kriegszustand“ und beklagt Versuche, die Gedenkkultur zu verändern. Er appelliert an die deutsche Zivilgesellschaft, den Dialog trotz der offiziellen Konfrontationslinie fortzusetzen. Das Interview mit Oleg Krasnitskiy führte Éva Péli.
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Am 20. November 1945 begann im Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes ein historisches Kapitel: Der Prozess gegen die führenden deutschen Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärtribunal. Unter Beteiligung der vier alliierten Siegermächte Sowjetunion, USA, Frankreich und Großbritannien wurde hier das Fundament des modernen Völkerstrafrechts gelegt. Die Urteile vom 30. September und 1. Oktober 1946 sollten ein Signal setzen: Verbrechen gegen den Frieden und die Menschheit sind ohne Verjährungsfrist strafbar.
80 Jahre später wird dieses Erbe in Deutschland vor dem Hintergrund tiefgreifender geopolitischer Konflikte in Frage gestellt. Russland, als Rechtsnachfolger der Sowjetunion und Mitinitiator des Tribunals, sieht die eigene historische Rolle zunehmend umgeschrieben und vernachlässigt. Diese Kritik gipfelt in der Forderung, den faschistischen Vernichtungskrieg gegen das Sowjetvolk von 1941 bis 1945 endlich international als Völkermord (Genozid) anzuerkennen – ein Tatbestand, der in Nürnberg selbst kein gesonderter Anklagepunkt war.
Anlässlich des Gedenkens organisierte die Regionalgruppe Bayern der Gesellschaft für Deutsch-Russische Freundschaft (GDRF) in Nürnberg am Samstag eine vielschichtige Veranstaltung, initiiert und geleitet von Catrin Heidecker. Das Programm umfasste eine Kranzniederlegung an den Gräbern der mehr als 5.000 sowjetischen Kriegsgefangenen auf dem Nürnberger Südfriedhof sowie die Vorführung des russischen Spielfilms „Nürnberg“ (2023).
Quelle: Tilo Gräser
Die offizielle russische Perspektive wurde durch den Generalkonsul Oleg Krasnitskiy sowie durch einen Vertreter der russischen Botschaft unterstrichen. Letzterer verlas eine Grußbotschaft des Botschafters und präsentierte eine Ausstellung der Botschaft zum Völkermord an den Völkern der Sowjetunion.
Bei dieser Gedenkfeier bezog der Generalkonsul Oleg Krasnitskiy in einem Gespräch mit den NachDenkSeiten Stellung zu diesen schmerzhaften historischen und erinnerungspolitischen Diskrepanzen. Er beschreibt die gegenwärtigen deutsch-russländischen Beziehungen offen als „hybriden Kriegszustand“ seitens der Bundesregierung und beleuchtet die Konsequenzen, die dieser Konfrontationskurs für die Gedenkkultur und die Zukunft des Dialogs hat.
Éva Péli: Herr Generalkonsul, welche Bedeutung hat der 80. Jahrestag des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses für Russland heute?
Oleg Krasnitskiy: Russland ist Nachfolgerstaat der ehemaligen Sowjetunion, die eine der Siegermächte im Zweiten Weltkrieg und Mitinitiatorin dieses Prozesses war. Die damalige sowjetische Führung legte großen Wert darauf, dass nach dem Sieg die Gerechtigkeit Oberhand gewinnt und die Verantwortlichen für die Entfesselung des Angriffskrieges zur Rechenschaft gezogen werden.
Das war keine Selbstjustiz oder Siegerjustiz, sondern verlief nach dem Statut des Nürnberger Internationalen Tribunals. Dieses Statut ist ein Bestandteil des modernen Völkerrechts, und das moderne Strafvölkerrecht nimmt seinen Anfang mit diesem Prozess. Im Rahmen unseres Gedenkjahres 2025 in Russland sind die 80 Jahre Nürnberger Prozesse eine wichtige Veranstaltung in einer Kette von Gedenkfeiern. Für uns ist es sehr wichtig, dass die Idee von Nürnberg, die Bestrafung der nationalsozialistischen Kriegsverbrecher, weiterlebt.
Wir erleben in Deutschland, dass bei der Erinnerung an die Nürnberger Prozesse vor allem die Judenvernichtung im Vordergrund steht, während der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion mit 27 Millionen Opfern kaum eine Rolle spielt.
Das haben wir auch beim Besuch im Memorium des Nürnberger Tribunals bemerkt. Es muss weiter über die Erinnerungskultur diskutiert werden. Wir wollen die Bedeutung des Holocaust als Verbrechen keineswegs schmälern. Aber ich habe auch heute bei meiner Ansprache am Friedhof, wo wir der sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter gedacht haben, betont, dass sie Opfer des Genozids gewesen sind. Das waren sowjetische Menschen, die massenhaft durch die Nazis vernichtet wurden – auf dem Gebiet der UdSSR, in Polen und in Deutschland. Hier in Deutschland sind bis zu einer Million Tote begraben. Das mahnt uns, ihrer als Opfer des Genozids zu gedenken. Es geht um die Anerkennung dieses Genozids durch Deutschland und die internationale Gemeinschaft insgesamt.
Wie erleben Sie als offizieller Vertreter Russlands die gegenwärtige deutsche Politik gegenüber Russland, die ja auch Folgen für das Gedenken hat?
Wir erleben leider eine sehr schlechte Periode in unseren bilateralen Beziehungen. Sie sind nicht besser als zu Zeiten der Nationalsozialisten – damals gab es den offenen Krieg, jetzt erleben wir diesen hybriden Kriegszustand, der von der Bundesregierung erklärt wurde. Wir sind der Überzeugung, dass dies nicht den Realitäten in Europa entspricht und geändert werden muss. Wir brauchen Voraussetzungen für die Wiederherstellung des Dialogs und der Kontakte.
Dieser Zustand hat Konsequenzen für die Gedenkkultur. Es gibt jetzt Versuche, die Gedenkkultur in Bezug auf die sowjetischen Kriegsgräber hier zu verändern, in erster Linie durch eine Art ‚Ukrainisierung‘ dieser Denkmäler. Oder man will den Sinn des Gedenkens verändern: Die sowjetischen Toten werden genutzt, um die westliche Interpretation des Ukraine-Krieges damit in Verbindung zu bringen. Wir sind für die Erhaltung der Gräber als Zeitzeugen der Geschichte, die Mahner für zukünftige Generationen sind.
Sowohl der ehemalige Kanzler Olaf Scholz als auch der jetzige Kanzler Friedrich Merz positionieren sich als antifaschistisch. Dem müssen auch Taten folgen, und die Nazivergangenheit darf nicht für die politische Auseinandersetzung mit anderen politischen Gruppierungen genutzt werden, um diese zu diskreditieren.
Quelle: Tilo Gräser
Wie erleben Sie die Reaktion der deutschen Gesellschaft?
Es gibt offizielle Stellen, die zurzeit keine Kontakte pflegen. Und es gibt die Zivilgesellschaft, die ganz anderer Meinung ist, die viel unabhängiger von ideologischen Grundsätzen ist. Wir danken allen, die den Mut haben, sich trotz der Gegenarbeit der Presse an diesem Gedenken zu beteiligen. Der Wiederaufbau der Beziehungen kann nur profitieren, wenn diese Kontakte weiter existieren und gepflegt werden.
Wie wichtig sind solche Kontakte der Zivilgesellschaft für Sie?
Der Dialog mit Friedensforen und der Friedensbewegung insgesamt, die vor dem Hintergrund der Linie der Bundesregierung auf Remilitarisierung lebendiger wird, ist für uns sehr wichtig. Dort werden Sachen realistisch besprochen, unabhängig von Feindbildern und Propaganda. Ich hoffe, dass solche Veranstaltungen öfter möglich sein werden. Wir müssen darauf achten, dass den Initiatoren keine negativen Folgen wie Verfolgungen im medialen Raum entstehen.
Was würden Sie normalen deutschen Bürgern sagen, die diese Brücken erhalten wollen?
Ich möchte den deutschen Bürgern empfehlen, offen zu sein und Kontakte sowie den Dialog mit Russland zu suchen. Wenn man nach Russland fährt, sieht man, dass die Bilder der deutschen oder westlichen Propaganda über die angebliche Krise infolge der Sanktionen sowie massive Repressalien und Menschenrechtsverletzungen und so weiter einfach nicht stimmen und nicht den Realitäten entsprechen.
Der Wiederaufbau der Beziehungen erfolgt als Anknüpfung an die bereits bestehenden breiten zwischenmenschlichen Kontakte zwischen Russland und Deutschland. Das bleibt die Grundlage. Wir spüren hier kein feindliches Empfinden einer breiteren Bevölkerungsmehrheit, sondern weiterhin Interesse an Russland. Die Leute stellen fest, dass man miteinander reden kann. Dieser Konfrontationskurs ist künstlich aufgezwungen.
Was ist eine weitere Voraussetzung für ein besseres Verhältnis?
Eine weitere Voraussetzung ist, dass uns feindlich gesinnte Regierungen die Bereitschaft zeigen, mit Russland Verhandlungen zu führen, so wie es die US-amerikanische Administration macht. Es gab immer Gegensätze zwischen Russland und den USA, aber es gibt jetzt die Bereitschaft des US-amerikanischen Präsidenten, etwas für die Normalisierung der Beziehungen zu tun, ausgehend von den eigenen Interessen.
Europa will sich nicht in diesen Prozess einbringen und beharrt auf alten Positionen, etwa dass Putin gehen oder Russland eine Niederlage erleiden müsse. Dies entspricht nicht den Realitäten der Sicherheitslage in Europa. Eine verlässliche Sicherheitsarchitektur in Europa kann nicht gegen Russland funktionieren. Das bedeutet





