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Die Vereinnahmung der Eliten und die Selbstzerstörung Europas – Teil 2/4

Die Vereinnahmung der Eliten und die Selbstzerstörung Europas – Teil 2/4

Update: 2025-09-07
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Von dem Schweigen zur Sabotage der Nord-Stream-Pipelines bis zur wirtschaftlich und politisch ruinösen NATO-Aufrüstung: Viele Menschen in Deutschland fragen sich, warum unsere „Eliten“ in Medien und Politik so häufig die geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen der USA über die der eigenen Bevölkerung zu stellen scheinen. Unsere neue Gastautorin Nel Bonilla analysiert in einer Reihe von vier Artikeln die verborgene Architektur der transatlantischen Hegemonie und die Netzwerke hinter dem transatlantischen Wahnsinn. Ein Artikel von Nel Bonilla.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Architektur der Hegemonie: Wie Elitenvereinnahmung funktioniert

Die liberale Ordnung präsentiert sich als universell. Doch wer ihr beitritt, muss ein unausgesprochenes Regelwerk akzeptieren. Wer sich dem verweigert, wird durch eine dauerhafte US-Militärpräsenz eingekesselt und in Schach gehalten. Mit anderen Worten: Der imperiale Kern sichert seine Stellung, indem er fremde Eliten in seine Weltsicht einbindet – nicht nur, indem er sie zwingt. Im Folgenden werfen wir daher einen genaueren Blick auf diese Apparate zur Elitenintegration, insbesondere auf die transatlantischen Verflechtungen Deutschlands und seiner Funktionseliten.

Eine kurze Geschichte der Denkfabriken: Von Chatham House zur DGAP

Die Macht der Denkfabriken begann in London mit dem Royal United Services Institute (1831), das vom Herzog von Wellington als unabhängige Fachinstitution zur Untersuchung militärischer und strategischer Fragen gegründet wurde. Nach 1919 weitete sich dieser Einfluss aus, als Chatham House und die Carnegie Endowment die Debatten der Eliten institutionell verankerten (Roberts 2015). Auf der anderen Seite des Atlantiks verband der Council on Foreign Relations (CFR, 1921) das Kapital der Wall Street mit der akademischen Autorität der Ivy-League-Universitäten, wobei die Ford und Rockefeller Foundation für dauerhafte Finanzierung sorgten. Schließlich war es Unternehmensgeld, das diese Einrichtungen trug. Tatsächlich waren die Gründer oft selbst einflussreiche Eliten, die ihre Politik in den Bereichen Verteidigung und strategisches Denken zunächst innerhalb des Britischen Empires und später mit dem aufstrebenden amerikanischen Hegemonen koordinieren wollten.

Nach 1945 wurde diese Architektur ins zerstörte Europa exportiert. Die privat finanzierte Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP, 1955) übernahm das Vorbild des CFR in Bonn. Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP, 1962) war gewissermaßen der regierungsnähere Ableger und lieferte ihre Weißbücher direkt ins Kanzleramt. Wichtig ist jedoch: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die angloamerikanischen Denkfabriken und ihr Personal zum Zentrum der Politikformulierung und langfristigen Planung. Denkfabriken, die sich auf internationale Fragen spezialisierten, galten allgemein als unverzichtbare Ergänzung bei der Gestaltung der Außenpolitik. Sie dienten zugleich als Foren, in denen Politiker und Beamte mit Vertretern aus Wissenschaft, Medien und Wirtschaft sowie mit potenziellen Unterstützern oder künftigen Regierungsmitarbeitern zusammenkommen konnten.

In den 1960er-Jahren stärkten der German Marshall Fund, das Atlantic Institute und die Atlantik-Brücke den sozialen Zusammenhalt der transatlantischen Elite, mit Galadinners, Young-Leader-Treffen und Medienstudienreisen. Gleichzeitig beeinflussten sie die politische Elite Westdeutschlands. Zetsche (2021) zeigt, wie die Brücke und ihre amerikanische Schwesterorganisation, der American Council on Germany (ACG), dafür sorgten, dass Willy Brandts SPD von einer neutralistischen Haltung dazu überging, die NATO nicht aufzugeben, indem sie einflussreiche Parteistrategen in vertraulichen Seminaren gezielt bearbeiteten.

In den 1970er- und 1980er-Jahren spürten US-Denkfabriken bereits einen „amerikanischen Niedergang“ in einer zunehmend globalisierten Welt. In dieser Zeit entstanden neue institutionelle Konkurrenten um Einfluss, darunter Denkfabriken mit meist konservativer Ausrichtung, allen voran das American Enterprise Institute und die Heritage Foundation. (Zur Erinnerung: Die Heritage Foundation hat das Project 2025 finanziert; ein Schlüsseltext für die heutige US-Politik.)

In den 1990er-Jahren unterhielt jede deutsche Parteistiftung ein eigenes „Transatlantik-Referat“. Mitarbeiter der SWP waren auf der Münchner Sicherheitskonferenz präsent; DGAP-Stipendiaten saßen in der Auswahljury des German Marshall Fund; und Redakteure von Der Spiegel und Die Zeit sammelten Anstecknadeln der Atlantik-Brücke. Das Netzwerk entwickelte sich zu einer geschlossenen Karrierepipeline: vom Universitätsseminar über die Parteizentrale bis in die Vorstandsetagen und zu NATO-Sitzungen außerhalb des Hauptquartiers. Letztlich gilt: Sobald die Anerkennung durch die USA zum Maßstab für berufliches Ansehen wird, kommt Abweichung einem Akt der Selbstschädigung gleich.

Warum die Geschichte der Denkfabriken heute wichtig ist

Diese Architektur normalisiert Entscheidungen, die auf den ersten Blick selbstmörderisch wirken. Die Stilllegung des billigen russischen Pipeline-Gases ist für BASF schmerzhaft, doch sie erhält das symbolische Kapital all jener, die ein Atlantik-Stipendium vorweisen können. Dieser interne Anreiz wiegt oft schwerer als die nüchterne nationale Bilanzlogik.

Mehr noch: Denkfabriken repräsentieren die Kräfte, die die globale politische Ökonomie antreiben, zumindest in ihrer westlichen Ausprägung. Dennoch neigt die geopolitische Analyse bis heute dazu, einseitig auf Nationalstaaten und deren politische Akteure fixiert zu bleiben. Oft sind es jedoch gerade solche privat finanzierten und beeinflussten Steuerungsnetzwerke, die die Lücke zwischen Nationalstaat und globalen Märkten füllen (Heemskerk & Takes 2016).

Denkfabriken als Motor der Drehtür

Die Karte der Institutionen, die wir bisher skizziert haben, wäre bedeutungslos ohne einen zirkulierenden Kader von Fachleuten, die mühelos zwischen Stiftungsbüros, Fernsehstudios und Regierungsämtern hin und her wechseln. Genährt durch Unternehmensspenden und philanthropische Zuschüsse, fungieren US-amerikanische und europäische Denkfabriken sowohl als Ideenschmieden wie auch als Talentschmieden: Sie legen das Paradigma im Voraus fest und entsenden anschließend ihr eigenes Personal in die Ministerien, die es in die Praxis umsetzen.

Die Politökonomen Nano de Graaff und Bastiaan van Apeldoorn (2021) bezeichnen dies als „Policy-Planning-Netzwerk“, ein Geflecht, das Finanzmittel aus den Fortune-500-Konzernen, ehemalige Kongressabgeordnete und Ivy-League-Abschlüsse zu einer einzigen Karriereleiter verbindet:

  • Konsens-Workshops – Rundtischgespräche in Denkfabriken ermöglichen es Eliten, ihre Positionen hinter verschlossenen Türen abzugleichen, bevor sie in der Öffentlichkeit als „überparteiliches Fachwissen“ präsentiert werden.
  • Rekrutierungspool – Dieselben Institute helfen Präsidenten und Kabinettsmitgliedern bei der Besetzung von Posten in der Exekutive (McGann, 2007).
  • Drehtür-Einfluss – Wie Joseph Nye (US-Politikwissenschaftler, bekannt für das Konzept der „Soft Power“) es formuliert: Der mächtigste Einfluss entsteht dann, wenn man „selbst die Hand am Hebel hat“, nachdem man den Bericht mitverfasst hat (Conversations with History, 1998).

Zusammengenommen fungieren diese Knotenpunkte wie eine transatlantische Personalabteilung für die bestehende Ordnung – und bereiten Nachfolger vor, die das Banner weitertragen werden.

Elitenvereinnahmung auf biografischer Ebene

Die Maschinerie der Elitenvereinnahmung funktioniert sowohl auf der Ebene sozialer Gruppen als auch auf der individuellen Biografie. Und sie ist zugleich einfach und wirksam: eine einzige Prestige-Pipeline, die sich durch das gesamte Leben und die gesamte Karriere zieht – vom Fulbright-Stipendium über ein Stipendium des German Marshall Fund bis hin zur Mitgliedschaft bei der Atlantik-Brücke oder in Denkfabriken. Eine solche Karriereleiter hat das symbolische Kapital monopolisiert, das für den Aufstieg in die außenpolitische Elite Berlins notwendig ist. Die erste Kohorte trat in den 1960er-Jahren in dieses System ein, doch erst nach der Wiedervereinigung erreichte es die vollständige Selbstreplikation.

Heute können viele Mitglieder von Merz’ Kabinett US-staatlich finanziert

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Redaktion NachDenkSeiten