Gaza: Entmenschlichung als Voraussetzung für eine unmenschliche Politik
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Die in Gaza beobachtete Strategie des Aushungerns wäre ohne Entmenschlichung der Opfer kaum durchführbar. Wer ein Volk als minderwertig oder pauschal gefährlich betrachtet, kann es eher kollektiven Straf- und Tötungsmaßnahmen unterwerfen. Feindbilder und fehlende Sanktionen ergeben einen Teufelskreis: Wer den Gegner als weniger wert ansieht und keine Konsequenzen fürchten muss, neigt eher zu extremer Härte. Von Detlef Koch.
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Die humanitäre Lage im Gazastreifen hat sich seit Oktober 2023 dramatisch verschärft. Nach dem Hamas-Angriff und dem folgenden Krieg verhängte Israel eine totale Blockade über das dicht besiedelte Gebiet. Über 62.000 Palästinenser wurden seither durch Bombardierungen getötet und rund 159.000 verletzt – 18.400 der Getöteten waren Kinder. Zugleich rutschte Gaza in eine menschengemachte Hungerkrise historischen Ausmaßes: Bis Juli 2025 wurden rund 150 Hungertote dokumentiert – etwa 60 Prozent davon Kleinkinder.
Experten sprechen von einer erstmals vollständig vom Menschen verursachten Hungersnot des 21. Jahrhunderts, ausgelöst nicht durch Dürre, sondern durch systematische Versorgungssperren. Im August 2025 stufte die Integrated Food Security Phase Classification IPC-Analyse große Teile Gazas als „Katastrophe“ (5-Famine (with solid evidence)) ein, was einer offiziellen Hungersnot gleichkommt.
Zudem wurde die Bevölkerung fast vollständig aus ihren Wohnorten vertrieben: Bis Anfang 2024 waren laut UN-Angaben etwa 85 Prozent aller Gazaner mindestens einmal auf der Flucht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie bedingen sich Entmenschlichung und Hunger in diesem Konflikt – wie kann eine solche humanitäre Katastrophe bewusst herbeigeführt und hingenommen werden?
Psychologische und institutionelle Mechanismen der Entmenschlichung
Israels Vorgehen in Gaza beruht auf Mechanismen der Entmenschlichung, wie sie Albert Bandura, Philip Zimbardo und Hannah Arendt beschrieben haben. Banduras Konzept des „moral disengagement“ erklärt, wie Täter Gewalt durch Rechtfertigungen und Euphemismen vor sich legitimieren – etwa mit dem Verweis auf höhere Ziele (Sicherheit) oder Schuldumkehr. Zimbardo zeigte, wie Hierarchie, Uniform und Gruppendruck normale Rekruten zu brutalen Handlungen befähigen können. Arendt erinnerte daran, dass bürokratische Routine-Verbrechen oft von durchschnittlichen Menschen ohne großes Unrechtsbewusstsein verübt werden. Das Wort von der Banalität des Bösen kommt uns in den Sinn.
Im Kontext der israelischen Armee (IDF) sind all diese Dynamiken erkennbar. Palästinenser gelten als gefährliche, minderwertige „Andere“; Empathie wird in der Ausbildung kaum gefördert. Interne Sprachcodes entwürdigen die Besetzten – Soldaten berichten, man nenne Palästinenser „Dreck“ oder „Tiere“[1]. Ein Unteroffizier schilderte es so: „In unseren Augen sind sie Untermenschen. Man darf mit ihnen alles machen, was wir mit Juden niemals machen würden[2]“. Auch offizielle Rhetorik trägt zur Verrohung bei: Verteidigungsminister Yoav Gallant bezeichnete Gazaner als „menschliche Tiere“. Solche Worte senken die Hemmschwelle zur Gewalt.
Hinzu kommt Straffreiheit als institutioneller Verstärker. Israels Militärjustiz ahndet Übergriffe gegen Palästinenser nur selten, was den Soldaten faktisch Narrenfreiheit signalisiert. „Es herrschte völlige Handlungsfreiheit“, sagte B., ein weiterer Soldat, der monatelang in den regulären Streitkräften in Gaza diente, unter anderem in der Kommandozentrale seines Bataillons. „Wenn auch nur das geringste Gefühl der Bedrohung aufkommt, braucht man keine Erklärungen – man schießt einfach.“ Wenn Soldaten jemanden auf sich zukommen sehen, „darf man auf seinen Körper schießen, nicht in die Luft“, fuhr B. fort. „Es ist erlaubt, auf jeden zu schießen, auf ein junges Mädchen, eine alte Frau[3]“.
Feindbild, Konformitätsdruck und fehlende Sanktionen ergeben einen Teufelskreis: Wer den Gegner als weniger wert ansieht und keine Konsequenzen fürchten muss, neigt eher zu extremer Härte.
Manifestation der Gewalt an den Ausgabestellen
Die wenigen Ausgabestellen für Lebensmittel in Gaza sind zu Brennpunkten von Chaos und Gewalt geworden. Täglich stürmen Tausende verzweifelte Menschen die Verteilungen – oft kommt es zu Gedränge, Panik und Tragödien. Dabei setzen sich häufig die Stärksten durch, während Schwächere (Frauen, Kinder, Ältere) zurückgedrängt oder niedergetrampelt werden. „Die, die am meisten Hilfe benötigen, gehen oft leer aus“, stellt die Organisation Save the Children 2025 fest. Zugleich hat Israel ein militarisiertes Verteilungssystem eingerichtet, bewacht von IDF-Truppen und privaten Sicherheitsleuten. Dort kam es zu regelrechten Blutbädern. Médecins Sans Frontières spricht von „orchestrierten Tötungen“ an diesen Orten – es sei sowohl gezielt (etwa auf Beine) als auch wahllos in die Menge geschossen worden. „Wir sahen Schüsse, Töten, Tod – und wofür? Nur um etwas Essen zu bekommen“, berichtet ein Augenzeuge (Al Jazeera, 2025).
Human Rights Watch (HRW) dokumentierte allein von Ende Mai bis Ende Juli 2025 mindestens 859 getötete Palästinenser an den neuen Ausgabestellen (HRW, August 2025) – eine schockierende Bilanz. HRW spricht von schweren Verstößen gegen das Kriegsrecht: Israel nutze Aushungerung als Waffe und lasse seine Kräfte „beinahe täglich“ auf hungernde Zivilisten schießen (HRW, August 2025). UN-Experten berichteten zudem von Fällen, in denen Menschen auf dem Weg zu Hilfsorten „verschwanden“ – offenbar inhaftiert –, was als gezielte Schreckensstrategie gewertet wird (UN, 2025).
Hungerdynamik und Vulnerabilität
Die Hungerkrise trifft Gaza in extremer Verwundbarkeit. Von 2,2 Millionen Einwohnern sind rund die Hälfte Kinder; schon vor 2023 lebten über zwei Drittel der Menschen in Armut und rund 80 Prozent waren auf Hilfslieferungen angewiesen (The Guardian, 2023). Unter der Blockade brach die Versorgung dann weitgehend zusammen. Statt ca. 500 LKW-Ladungen täglich vor dem Krieg erreichten 2024 oft nur wenige Dutzend Laster am Tag Gaza – zeitweise wochenlang gar keiner (OCHA, 2024). Entsprechend fiel die verfügbare Lebensmittelmenge pro Kopf teils auf unter 70 Prozent des Mindestbedarfs (rund 2.100 kcal) – ähnlich dramatisch sah es bei der Verfügbarkeit von Wasser zum Trinken, Kochen und Waschen aus (oft weniger als 4 Liter pro Tag statt rund 15 Liter[4]). Bis Mitte 2025 waren praktisch alle Haushalte akut ernährungsunsicher. Im August 2025 stufte die UN Gaza erstmals offiziell als Hungersnot ein (IPC, August 2025): Rund 640.000 Menschen – etwa 20 Prozent der Bevölkerung – stehen an der Schwelle zum Verhungern. Gaza liegt damit auf dem Niveau der schlimmsten Hungersnöte (Somalia 2011 u.a.), jedoch vollständig vom Menschen verursacht.
Die Indikatoren untermauern das Ausmaß: Der Anteil akut unterernährter unter 5-Jähriger stieg von unter 1 Prozent vor dem Krieg auf über 15 Prozent im Sommer 2025. Allein im Juli 2025 wurden über 12.000 neu mangelernährte Kinder erfasst – und mehrere Dutzend verhungerten in diesem Monat. Anfangs starben vor allem Babys und Kleinkinder, die am anfälligsten sind. Doch nach etwa neun Monaten begannen auch immer mehr ältere Menschen zu sterben, da ihre letzten Reserven aufgebraucht waren und viele zugunsten der Jüngeren auf Essen verzichtet hatten. Gaza erlebte damit den typischen Verlauf: Zunächst Kinder, dann zunehmend auch Alte und Kranke fallen dem Hunger zum Opfer.
Synergien zwischen Hunger und Krankheit
Hunger und Seuchen treiben sich in Gaza gegenseitig an. Schwere Unterernährung schwächt das Immunsystem so stark, dass Kinder an eigentlich banalen Infektionen sterben. Bereits 2024 registrierte die WHO hunderttausende Durchfall- und Atemwegsinfektionen – Folgen von verschmutztem Wasser, Überbevölkerung und hungerbedingter Immunschwäche. Unterernährte Kleinkinder trocknen bei Durchfall schnell aus; viele vermeintliche „Hungertote“ sind letztlich an Dehydrierung oder Infektionen gestorben. Akute Atemwegsinfekte (etwa Lungenentzündungen) wurden zur häufigsten Todesursache bei Kindern, da ihre Abwehrkräfte kollabiert sind. Auch andere Seuchen breiten sich aus: 2024 kam es zu einem Hepatitis-A-Ausbruch mit über 100.000 Erkrankten binnen eines Jahres. Experten warnten zudem, ein Cholera-Ausbruch könnte in kürzester Zeit tausende Todesopfer fordern.
Für das medizinische Personal vor Ort ist diese Lage seelisch verheerend. Ärzte berichten, wie sie täglich ausgemergelte Kinder verlieren und oft machtlos zusehen müssen. Eine Ärztin beschreibt den Anblick verhungernder Kleinkinder als „nur noch schwer zu ertragende Grausamkeit“ und sagt:
„Als Ärztin und Mutter ist es eine moralische Verletzung, diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitansehen zu müssen“.
Viele Helfer sind traumatisiert und ausgebrannt – sie müssen mit ihren knappen Mitteln oft entscheiden, welchem Patienten sie noch helfen können, während andere unversorgt sterben.
Entmenschlichung als Katalysator des Hungers
Ohne Entmenschlichung der Opfer wäre die in Gaza beobachtete Strategie des Aushungerns kaum durchführbar. Wer ein Volk als minderwertig oder pauschal gefährlich betrachtet, kann es eher kollektiven Straf- und Tötungsmaßnahmen unterwerfen. Historische Parallelen zeigen das deutlich: Im Vietnamkrieg erklärten US-Kommandeure ganze Regionen zu „Free-Fire-Zones“ – nach dem Motto „tötet alles, was sich bewegt“. Dörfer wurden niedergebrannt und entvölkert, weil die Zivilbevölkerung pauschal als feindlich galt.