Gerhart Baum zu Bürgerrechten in der Jamaika-Koalition: „Es wird in jedem Fall besser.“

Gerhart Baum zu Bürgerrechten in der Jamaika-Koalition: „Es wird in jedem Fall besser.“

Update: 2017-10-24
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Gerade beginnen die Sondierungsgespräche für eine mögliche Jamaika-Koalition aus CDU, CSU, Grünen und Liberalen. Nachdem die FDP nun wieder im Bundestag vertreten ist, läuft es also auf eine Regierungsbeteiligung der Liberalen zu. In einem Gespräch mit dem ehemaligen Bundesinnenminister Gerhart Baum wollten wir seine Bewertung des politischen Zeitgeists erfahren und blicken zum einen zurück auf die letzten Jahre und die Beschlüsse der Großen Koalition in Sachen Überwachung und zum anderen in die Zukunft: Was kann eine Jamaika-Koalition mit Grünen und Liberalen für die Freiheitsrechte bringen? Wir sprechen außerdem über Geheimdienste und den Rechtsstaat, bewerten die politische Leistung einiger Spitzenpolitiker der letzten Legislaturperiode und orakeln über die Koalitionsverhandlungen.

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Das Gespräch zwischen Gerhart Baum, Frank Rieger und Constanze Kurz ist als Podcast (mp3) verfügbar. Alternativ gibt es auch eine ogg-Version. Das Transkript ist nicht wortgenau, sondern eine leicht gekürzte Fassung. Die Musik im Podcast ist aus Finnland von Antti Luode: Anttis Instrumentals, CC BY 3.0.

Bürgerrechte in der Politik

Constanze Kurz: Im netzpolitik.org-Podcast sind wir heute zu dritt und haben einen besonderen Gast, den wir kurz vorstellen wollen: Gerhart Baum, den viele kennen, besonders durch sein Engagement bei den Bürgerrechten. Er ist ehemaliger Innenminister und mischt sich bis heute in den öffentlichen Diskurs ein. Außerdem ist Frank Rieger heute dabei, Hacker und Netzaktivist.

Wir wollen zum einen über die Überwachungsbilanz der Großen Koalition sprechen und natürlich zum anderen über die Zukunft reden. Denn immerhin steht uns möglicherweise eine Jamaika-Koalition ins Haus. Die Liberalen sind wieder im Bundestag. Da ist sicherlich die Hoffnung von vielen Menschen, dass vielleicht für die Bürgerrechte, aber auch für den öffentlichen Diskurs über die Überwachung eine neue Zeit anbricht.

Wir beginnen mit der Vergangenheit und der Großen Koalition: Herr Baum, wie ist denn Ihr Empfinden über die letzten Jahre und die verabschiedeten Überwachungsgesetze?

Die Regierungsbank der Großen Koalition im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, 2013.Foto: Deutscher Bundestag, Achim Melde.Gerhart Baum: Also die Bürgerrechte hatten in der Großen Koalition keinen Anwalt: Der Innenminister sowieso nicht, aber auch nicht der Justizminister. Der Justizminister hätte ein Gegengewicht sein müssen, aber er hat voll mitgemacht, und die Bilanz ist erschreckend. Ich habe in meinem doch relativ langen Politikerleben keine vergleichbare Serie von Sicherheitsgesetzen erlebt – nicht einmal in der RAF-Zeit –, wie sie jetzt in der Großen Koalition stattgefunden hat, vor allen Dingen in der Endphase. Es ist eine lange Liste von Veränderungen, teilweise spektakulärer, sichtbarer Art, zum Teil aber auch schleichend kleine Veränderungen, die aber in der Summe gesehen eine Erosion der Freiheit bedeuten.

Frank Rieger: Was glauben Sie, was die Motivation ist?

Gerhart Baum: Die Motivation ist, dass man glaubt, einem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung nachgeben zu müssen. Ich bin inzwischen soweit, dass ich die Bevölkerung eher vor den Politikern in Schutz nehme. Nehmen Sie mal den Fall Anis Amri in Berlin: Ich stelle nämlich fest, dass eine öffentliche Reaktion zwar da war – verständlicherweise –, aber nicht angehalten hat. Meinungsforscher sprechen von Abstumpfung, aber das ist mir zu negativ. Ich bin der Meinung, dass doch ein gewisser Prozess der Einsicht stattfindet. Der Einsicht nämlich, dass wir mit Risiken leben, die aber nicht fundamental unsere Gesellschaft in Frage stellen.

Die Politiker sind noch lang nicht so weit. Sie glauben, mit immer neuen Freiheitseinschränkungen reagieren zu müssen, mit Symbolhandlungen, die für die Sicherheit meistens gar nichts bringen und in einer unverhältnismäßigen Weise die Freiheit einschränken. Der Hintergrund ist die Angst. Die Angst ist ein Dämon, der im Grunde unsere tolerante und weltoffene Gesellschaft bedroht. Und statt dass die Politiker gegen die Angst arbeiten, die Angst moderieren, nutzen sie sie zu ihren eigenen Zwecken.

Gerhart Baum bei einer Rede im Deutschen Bundestag im Jahr 1983.Foto: Deutscher Bundestag, Presse-Service Steponaitis.Und das ist jahrzehntelang geschehen. Wir haben seit der RAF-Zeit eine permanente sicherheitspolitische Aufrüstung, die nur zum Teil revidiert und nie richtig kontrolliert worden ist. Das heißt: Die Evidenzkontrolle hat nie stattgefunden, sondern eine Maßnahme ist auf die andere raufgeschichtet worden. Das, was wirklich notwendig wäre angesichts der Datenverarbeitung, ist, dass wir diesen Prozess bändigen. Denn die Datenverarbeitung ist ein vollkommen neues Phänomen – auch für die Verbrechensbekämpfung, für die Sicherheitsdienste. Sie sind ja darauf angewiesen, Daten zu sammeln, und sehen sich nun in einem Paradies der Datensammlung. Das heißt: Sie neigen dazu, die Datensammlung immer weiter auszudehnen nach dem Motto: Wir könnten das ja mal brauchen.

Und der Widerstand der Bevölkerung ist nicht stark genug. Das Thema hat auch im Wahlkampf keine Rolle gespielt. Das ist sehr bedauerlich, und man fragt sich: Was war denn da früher, als wir die Diskussionen um die informationelle Selbstbestimmung hatten, um die Urteile des Verfassungsgerichts aufgrund der Volkszählung, die absolut harmlos war, verglichen mit dem, was heute passiert. Was ist da los? Warum wehrt sich die junge Generation nicht? Oder ist das so attraktiv, bietet das so viele Möglichkeiten, die berauschend sind, verführend sind? Die absolut neue Qualität sind die Kommunikationstechniken, die verbunden mit den angeblichen Bedürfnissen der Sicherheitsorgane eine ganz große Gefahr sind – mal abgesehen von den privaten Datensammlern.

Die Bilanz der Großen Koalition

Constanze Kurz: Neben diese Bilanz, die unsere deutschen Politiker zu verantworten haben, möchte ich die Schiene der Snowden-Veröffentlichungen stellen. Die Große Koalition war ja auch von den Snowden-Berichten geprägt, denn sie hatten im Juli 2013 gerade begonnen. Wir hatten über die Wahlperiode hinweg die Problematik des NSA-BND-Untersuchungsausschusses. Trotz der vielen Veröffentlichungen hat sich interessanterweise – neben den strafrechtlichen Veränderungen beim Staatstrojaner, bei der Vorratsdatenspeicherung, aber auch beim Biometrieabgriff – bei den Geheimdiensten nach diesen ganzen Skandalen und dem Einräumen im Untersuchungsausschuss, dass vieles bei unseren Geheimdiensten rechtswidrig war, eine Erweiterung von deren technischen Möglichkeiten, eine Legalisierung ihres Handelns, aber auch eine Aufstockung ihrer Gelder ergeben. Das heißt: Da war nicht nur wenig Widerstand in der Bevölkerung, sondern auch eine gewisse gesetzgeberische Dreistigkeit, nicht wahr?

Gerhart Baum: Das hat ja schon am Ende der Legislaturperiode vor der Großen Koalition begonnen, also vor 2013. Das war das Jahr von Snowden, und das wurde runtergespielt. Ich bin ja immer unterwegs mit der Feststellung „im Jahr drei oder vier nach Snowden“. Für mich ist das eine neue Qualität, nämlich des Zusammenspiels der privaten Datensammler mit der NSA und anderen. Mich wundert, dass die Deutschen bis heute ohne weiteres darüber hinweggegangen sind, dass tief in ihre Souveränität eingegriffen wird.

Constanze Kurz: Also trotz der Merkel-Anomalie mit dem Telefon …

Unter großer Medienaufmerksamkeit besucht Angela Merkel den NSA-BND-Untersuchungsausschuss als Zeugin. Links Patrick Sensburg, Ausschussvorsitzender. 16. Februar 2017.Foto: Deutscher Bundestag, Achim Melde.Gerhart Baum: Das haben die Leute, nachdem sie gelesen haben, dass das Thema vorbei ist, ad acta gelegt. Im Grunde findet ein Einbruch in unsere Souveränität statt, und fremde Geheimdienste benutzen uns als rechtsfreien Raum. Das heißt also: Wir, die wir einige Urteile in Karlsruhe erzielt haben, sehen, dass diese Urteile einfach unterlaufen werden. Da gibt es keine richterliche Kontrolle mehr, sondern die NSA, die Briten und möglicherweise andere …

Frank Rieger: … und auch die Deutschen.

Gerhart Baum: Und die Deutschen selber. Die Deutschen selber haben verfassungswidrig gehandelt. Der NSA-Untersuchungsausschuss hat ja auch verfassungswidrige Praktiken zu Tage gebracht. Und im Grunde haben sie die Praktiken dann nicht kritisiert, weil sie beteiligt waren. Sie waren Komplizen.

Sie sagen immer, sie seien angewiesen auf die Informationen. Das sind sie auch, aber nicht um jeden Preis. Das heißt: Sie haben doch gewusst, wo die Leitungen angezapft worden sind. Und dann haben sie ein neues Gesetz gemacht und sich angepasst. Das heißt: Dinge, die rechtswidrig waren, haben sie jetzt unter das Recht gestellt – aber damit werden sie nicht besser.

Frank Rieger: Ich habe das Gefühl, dass alles, was im Untersuchungsausschuss zutage kam, für die Dienste der rhetorische Kniff war, um zu sagen: Jetzt seht ihr mal, was geht. Das heißt, es wurde der Raum der technischen Möglichkeiten offenbart. Und das hätten wir jetzt auch gern. Denn offensichtlich ist es ja notwendig, wenn die Amerikaner und Briten das machen, die ja die Industrieführer in diesem Gebiet sind, dann wollen wir das auch haben. Und dieser Kniff, zu sagen, ja, das war vielleicht alles ein bisschen illegal, aber wir brauchen eigentlich mehr, dass der auf so wenig politischen Widerstand getroffen ist, das hat mich wirklich sehr erstaunt – auch in der SPD, die einfach dabei zugeguckt hat. Ich fand es wirklich frappierend, dass dieses Erpresstwerden von diesem Geheimdienstdenken so völlig widerstandslos über die Bühne ging.

Das Gebäude des Bundesnachrichtendienstes in Berlin-Mitte, links eine als Palme getarnte technische Überwachungseinrichtung. Foto: CC BY 2.0, Ralf Kothe.Gerhart Baum: Wir haben jetzt eine Legalisierung eines Zustandes, den wir zunächst bei den Amerikanern kritisiert haben: dass sie zwar in gewisser Hinsicht ihre eigenen Staatsangehörigen schützen mit Verf
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