Discovernetzpolitik.orgHungrig nach Daten: Das geheimnisvolle KI-Programm von Europol
Hungrig nach Daten: Das geheimnisvolle KI-Programm von Europol

Hungrig nach Daten: Das geheimnisvolle KI-Programm von Europol

Update: 2025-11-12
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Die EU-Polizeiagentur Europol ist nicht nur an immer mehr Daten interessiert, sondern experimentiert auch mit KI-Tools, um sie zu verarbeiten. Ob automatische Einstufung von Missbrauchsdarstellungen oder Gesichtserkennung – den KI-Ambitionen stehen nur schwache Kontrollmechanismen gegenüber.


<figure class="wp-caption entry-thumbnail">Vorn: Europol-Gebäude in schwarz-weiß, hinten Platine in rot.<figcaption class="wp-caption-text">Europol hat in den letzten Jahren vermehrt KI-Tools getestet. – Alle Rechte vorbehalten Gebäude: Europol, Platine: lazycreekimages/unsplash.com, Bearbeitung: netzpolitik.org</figcaption></figure>

Kritiker bezeichnen es als Strategie zur Datenbeschaffung und Überwachung. Europol nennt es in seinem Arbeitsprogramm „Strategisches Ziel Nr. 1“: durch eine Strategie der massenhaften Datenbeschaffung zum „Kriminalinformationszentrum“ der EU zu werden.


Die Beamt*innen von Europol haben keinen Hehl daraus gemacht, dass sie Zugang zu so vielen Daten wie möglich bekommen wollen. Im Zentrum von Europols Hunger nach personenbezogenen Daten stehen wachsende KI-Ambitionen.


Diese Ambitionen werden in einem Strategiepapier der Behörde aus dem Jahr 2023 offen beschrieben. Unendlich viele Daten aus EU-Datenbanken, die fast alle Daten über EU-Bürger*innen und Migrant*innen enthalten, gehen Hand in Hand mit der Möglichkeit, KI-Tools zu nutzen.


Seit 2021 hat sich die in Den Haag ansässige EU-Polizeibehörde einer immer ehrgeizigeren, aber weitgehend geheimen Mission verschrieben, automatisierte Modelle zu entwickeln. Sie sollen die Polizeiarbeit in allen EU-Mitgliedstaaten verändern.


Diese Recherche basiert auf internen Dokumenten der Behörde, die Datenschutz- und KI-Experten analysiert haben, und wirft ernsthafte Fragen auf – nicht nur zu den Auswirkungen von Europols KI-Programms auf die Privatsphäre der Bürger*innen. Sondern auch dazu, wie sich automatisierte Prozesse ohne eine angemessene Aufsicht auf den europäischen Polizeialltag auswirken werden.


Europol teilte dem Recherche-Team auf Anfrage mit, dass es „gegenüber allen Beteiligten eine unvoreingenommene Haltung einnimmt, um sein Mandat zu erfüllen – nämlich die nationalen Behörden bei der Bekämpfung von schwerer und organisierter Kriminalität sowie Terrorismus zu unterstützen“ – und dass die Behörde „an der Spitze der Innovation und Forschung im Bereich der Strafverfolgung stehen wird“.


Massendaten bringen neue Möglichkeiten


Europol hat bei drei Hacking-Operationen der letzten Jahre eine entscheidende Rolle gespielt. 2020 und 2021 zerschlug die Behörde gemeinsam mit anderen internationalen Partnern die vermeintlich sicheren, verschlüsselten Kommunikationssysteme EncroChat, SkyECC und ANOM. Das bescherte Europol eine riesige Menge an Daten. In verschiedenen Ländern führte der Hack der Anbieter zu unzähligen Ermittlungsverfahren und Verurteilungen, viele davon wegen Drogenhandels.


Bei den Operationen agierte Europol hauptsächlich als Übergabestelle und Vermittler für Daten: von den Behörden, die diese erhielten, zu den Behörden der betroffenen Länder. Es kopierte ohne großes Aufsehen die Datensätze aus den drei Operationen in seine Datenbestände und beauftragte seine Analysten, das Material zu untersuchen. Bei EncroChat ging es dabei um mehr als 60 Millionen, bei ANOM um mehr als 27 Millionen ausgetauschte Nachrichten – eine schier unmöglich auszuwertende Menge an Material.


Diese Datendimensionen verstärkten das Interesse der Behörde, KI-Tools zu trainieren, um die Arbeit der Analysten zu beschleunigen. Die Motivation war klar: Es ging um flüchtige Kriminelle und um Menschenleben.


Im September 2021 kamen zehn Mitarbeitende der Europäischen Datenschutzbehörde nach Den Haag zum Hauptsitz von Europol. Sie sollten Europols erste Schritte beim Algorithmen-Training untersuchen. Wie sie im Oktober 2020 herausfanden, hatte Europol bereits Pläne, die EncroChat-Daten für maschinelles Lernen zu nutzen. „Das Ziel von Europol war es, sieben Machine-Learning-Modelle zu entwickeln, die einmal über den gesamten EncroChat-Datensatz laufen sollten“. Das sollte Analysten helfen, die Menge der händisch zu prüfenden Nachrichten zu reduzieren.


Bereits im Februar 2021 hatte Europol das ambitionierte Programm wieder eingestellt, als es die EU-Datenschutzbehörde nicht davon überzeugen konnte, dass es nicht notwendig sei, seine Versuche im Bereich des maschinellen Lernens zu überwachen.


Kein Grund zur Beunruhigung


Dennoch brachte die Untersuchung ans Licht, dass Europol Datenschutzvorkehrungen missachtet hatte. Die Behörde versuchte, die Entwicklung eigener KI-Modelle abzukürzen. Fast keine Unterlagen zur Überwachung des Trainings „wurden während der Zeit, in der die Modelle entwickelt wurden, erstellt“. Weiter heißt es, die Dokumente „spiegeln nur teilweise die Entwicklungspraktiken der Abteilung für Daten und KI wider”, stellten die EDSB-Mitarbeitenden fest. Der EDSB erwähnt auch, dass „Risiken im Zusammenhang von Verzerrungen beim Training und der Verwendung von ML-Modellen oder statistischer Genauigkeit nicht berücksichtigt wurden”.


Für die Analysten von Europol schien es jedoch keinen Grund zur Beunruhigung zu geben. Das geht aus Abschnitten des EDBS-Untersuchungsberichtes zu Europols frühen Machine-Learning-Tests aus dem Dezember 2022 hervor. Sie schätzten das Risiko als minimal ein, dass durch die automatisierten Verfahren eine Person fälschlicherweise in den Fokus von strafrechtlichen Ermittlungen gelangen könnte. Die in dieser Zeit entwickelten Modelle wurden aus operativen Gründen nie eingesetzt. Der Rechtsrahmen der Behörde sah kein ausdrückliches Mandat für die Entwicklung und den Einsatz von KI für Ermittlungen vor.


Das änderte sich bald, im Juni 2022 erhielt Europol neue Befugnisse. Bis dahin hatten sich die Vorhaben zur KI und die Bedeutung des Datenzugangs hin zu sexualisierten Missbrauchsdarstellungen von Minderjährigen (CSAM) verlagert. Im Mai 2022 hatte die Europäischen Kommission einen Gesetzesvorschlag zur sogenannten Chatkontrolle vorgelegt, um Inhalte von Nutzer*innen auf Missbrauchsdarstellungen zu scannen. Dieses Thema rückte in den Vordergrund der politischen Agenda und löste eine polarisierende Debatte über Pläne zur Aufhebung von Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und die Gefahren der Massenüberwachung aus.


Diejenigen, die Europols Kapazitäten ausbauen wollten, sahen in der potenziellen Nutzung von KI zum Scannen digitaler Kommunikationsgeräte aller EU-Bürger*innen eine neue Chance. Bei einem Treffen mit einem Direktor der Generaldirektion Inneres der EU-Kommission legten Europol-Vertreter nach. Sie schlugen vor, die Technologie so anzupassen, dass sie auch für andere Zwecke als zur Erkennung von Missbrauchsdarstellungen genutzt werden könne: „Alle Daten sind nützlich und sollten an die Strafverfolgungsbehörden weitergegeben werden”.


Sie forderten von der Kommission außerdem, dass Strafverfolgungsbehörden wie Europol „KI-Tools für Ermittlungen nutzen können” sollten. Beschränkungen in der damals diskutierten KI-Verordnung zur Nutzung invasiver und riskanter KI-Systeme sollten vermieden werden.


Privater Rückkanal


Die Bedenken von Europol zu Beschränkungen durch die KI-Verordnung spiegelten die Bedenken großer privatwirtschaftlicher Akteure. Es ist kein Geheimnis, dass die Vorstellungen von Europol und Unternehmen zu Innovation und Entwicklung von KI-Modellen zusammenpassen. Im Gegenteil, in Dokumenten der Behörde wird oft erwähnt, dass enge Kontakte zur Wirtschaft als strategisch wichtig angesehen werden.


Ein relevanter Ansprechpartner für Europol war Thorn – eine US-amerikanische Non-Profit-Organisation und Entwickler eines KI-gestützten CSAM-Erkennungssystems. Strafverfolgungsbehörden können das Programm nutzen, um neue und unbekannte Missbrauchsdarstellungen zu suchen.


Seit 2022 steht Thorn an der Spitze einer Kampagne zur Unterstützung des Chatkontrolle-Vorschlags in Brüssel. Der Vorschlag würde Anbietern von Kommunikationsdiensten auf Anordnung vorschreiben, KI-Klassifikatoren wie den von Thorn entwickelten zu nutzen, um Inhalte zu durchsuchen.


Weniger bekannt ist jedoch die enge Zusammenarbeit zwischen Thorn und Europol. Eine Reihe von E-Mails zwischen dem Unternehmen und Europol zwischen September 2022 und Mai 2025 wurden durch Informationsfreiheitsanfragen öffentlich. Sie zeigen, wie eng Europols Pläne zur Entwicklung eines Erkennungsprogramms mit den Empfehlungen von Thorn verknüpft waren.


Im April 2022, kurz vor Inkrafttreten der neuen Europol-Verordnung, schickte ein Europol-Beamter eine E-Mail an Thorn, um „die Möglichkeit zu prüfen, dass die Europol-Mitarbeiter, die im Bereich Kindesmissbrauch arbeiten (das Analyseprojekt-Team „Twins”), Zugang erhalten” – zu einem Zweck, der weiterhin unklar ist. Thorn schickte ein Dokument zurück und informierte Europol darüber, welche weiteren Informationen erforderlich wären, um fortzufahren. „Ich muss betonen, dass dieses Dokument

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