Kristall, Monokel, Gleitsicht - Die Geschichte der Brille - radioWissen
Description
Von Kaiser Neros grünem Smaragd, den er sich bei Gladiatorenkämpfen vor die Augen hielt, über den Lesestein der mittelalterlichen Mönche bis hin zu computergeschliffenen Gleitsicht-Gläsern, von der Sehhilfe zum Mode-Accessoire: Die Geschichte der Brille erzählt über Jahrtausende hinweg vom Wandel der Gesellschaft. Von Florian Kummert
Credits
Autor dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Susanne Schroeder, Sebastian Fischer
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Dr. Florian Breitsameter, Kurator für Medizintechnik, Deutsches Museum München
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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Literatur:
Herbert Schwind: Brillengeschichten – grandios und kurios: Eine Zeitreise (Wagner Verlag, 2015)
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN
Die Geschichte der Brille, sie beginnt mit einem Verrückten: dem römischen Kaiser Nero.
Berühmt-berüchtigt dafür, dass er Rom anzünden ließ, und dazu die Leier spielte. Tolle Geschichte - aber eine, die eher ins Reich der Legenden gehört.
SOUND Ende
ERZÄHLERIN
Genauso wie die Idee zu Neros Brille.
evtl. MUSIK Hans Zimmer GLADIATOR
ERZÄHLERIN
Der Kaiser - so schreibt Plinius der Ältere - sah leidenschaftlich gerne Gladiatorenkämpfe (SOUND Schwerterkampf), auch an sommerlichen Tagen, wenn der Sand im Kolosseum hell erstrahlte. Und eben diese Kämpfe - verrät Plinius - habe Nero durch einen geschliffenen Smaragd betrachtet. Konnte er so das Spektakel schärfer sehen? Der grüne Edelstein als frühe antike Sehhilfe?
OTON Florian Breitsameter 1
Die Geschichte mit dem Smaragd, die mag stimmen. Das war allerdings gar kein Brilleneffekt, was man heute als Brille kennt, also zum Ausgleich einer Fehlsichtigkeit, sondern was er gemacht hat, war eigentlich sich zu schützen vor dem grellen Licht. Das war eher die Erfindung der Sonnenbrille, mit dem Smaragd.
ERZÄHLERIN
Sagt Dr. Florian Breitsameter. Er ist im Deutschen Museum München Kurator für Medizintechnik, und hat in der Ausstellung auch der Geschichte der Brille viel Raum gewidmet. Passend zum Thema ist Breitsameter Brillenträger, seit seinem neunten Lebensjahr.
OTON Florian Breitsameter 2
Wir sind jetzt in der Ausstellung Gesundheit im dritten Stock des Deutschen Museums. Und wir haben eine Vitrine, die hat ungefähr eine Höhe von 3,50 Meter und geht runter fast bis in Bodenhöhe und haben hier 25 Brillen, die wir hier präsentieren, die auch tatsächlich so einen Gang durch die Geschichte der Brille und die Entwicklung der Brille zeigt. Und das älteste Exponat, was den Ursprung zeigt, ist auf Augenhöhe hier die mittelalterliche Lederbrille.
ERZÄHLERIN
Denn die Brille als Sehhilfe ist eine Erfindung des Mittelalters. Kaiser Nero und andere antike Römer müssen sich ein paar Jahrhunderte vorher noch anders behelfen. So beklagt sich Cicero in einem Brief an seinen Freund Attikus, dass altersbedingt seine Sehkraft nachlasse und er nicht mehr lesen könne. Seine Lösung: er lässt sich alles von einem Sklaven vorlesen.
MUSIK z.B. Der Name der Rose - Main Titles, darüber:
ERZÄHLERIN
Mit dem Niedergang des Römischen Reichs verschwinden nicht nur die Vorlesesklaven, sondern auch in weiten Teilen der Gesellschaft das Interesse und die Fähigkeit zu lesen, auch im Adel und bei den Regenten. Das Mittelalter: eine Zeit der Analphabeten. Die Kunst des Lesens und Schreibens wird vor allem hinter dicken Klostermauern gepflegt, bei den Mönchen. Die hüten in ihren Bibliotheken wahre Wissensschätze und schaffen mit ihren Handschriften Kunstwerke.
Eine Arbeit, die die Augen anstrengt. Viele Mönche leiden mit zunehmendem Alter an Sehschwäche. Ihnen hilft ein so genannter Lesestein, aus einem besonderen Mineral.
OTON Florian Breitsameter 3
Das Wort Brille, das kommt eigentlich vom Mineral Beryll, schön klar, kann man gut verarbeiten auch, und daraus waren sogenannte Lesesteine gefertigt. Lesesteine sind eigentlich was relativ Einfaches: ovale Halbkugeln, die man auf etwas drauflegen kann und durch diesen optischen Effekt, wie beim Wassertropfen, vergrößert sich das, was drunter ist. Das kann man Zeile für Zeile abfahren, quasi ein Lupeneffekt.
ERZÄHLERIN
Experimentierfreudige Mönche finden heraus, dass der Lesestein nichts von seiner vergrößernden Wirkung einbüßt, wenn man ihn flacher schleift. Zudem kann man ihn bequem vors Auge halten, am besten in einem Rahmen aus Holz, Knochen oder Horn, mit einem kurzen Haltegriff versehen. So wird aus dem Lesestein das Einglas.
Es muss vor dem Jahr 1300 gewesen sein, vermutlich in Norditalien, als ein erfindungsreicher Geist auf die Idee kommt, zwei solcher Eingläser an den Enden der Haltegriffe zu vernieten. Daraus entsteht die erste Form der heutigen Brille, die Nietbrille. Allerdings kein Modell zum Aufsetzen, seitliche Bügel gibt es nicht.
OTON Florian Breitsameter 4
Sie war nicht dafür gedacht, dass man die auf die Nase klemmen konnte, sondern man musste die tatsächlich vor die Augen halten, wenn man was anschauen wollte. Man hat es selber so lange eingestellt, bis man einigermaßen wieder scharf sah. Natürlich mit allen Fehlern, die das Glas damals auch hatte, das heißt, es hatte Schlieren, es hatte im schlimmsten Fall Einschlüsse, war nicht sauber geschliffen, hat an dem Rand schon stark verzerrt, man hatte eigentlich bloß einen kleinen Ausschnitt, wo man wirklich einigermaßen scharf sehen konnte damit. Aber wie gesagt: besser als nichts.
MUSIK z.B. Der Name der Rose - End Titles, darüber:
ERZÄHLERIN
Die Nietbrille hilft vor allem Mönchen beim Lesen und Schreiben. So wird sie beim Volk und auch in der darstellenden Kunst zum Symbol für Bildung und Gelehrsamkeit. Bildhauer und Maler zeigen Propheten und Philosophen gern bebrillt, auch bei Petrus an der Himmelspforte darf die Nietbrille nicht fehlen. Die erste Darstellung einer Brille nördlich der Alpen findet sich 1403 auf dem Altar der Stadtkirche von Bad Wildungen. Der darauf abgebildete „Brillenapostel“ ziert heute noch das Siegel der Kirchengemeinde.
SOUND Knarzen, Buchdruck-Presse
ERZÄHLERIN
Weltliche Brillenträger außerhalb von Klostermauern finden sich erst mit dem Beginn der Neuzeit. Als Johannes Gutenberg 1450 den Buchdruck erfindet, revolutioniert er die abendländische Gesellschaft. Texte sind leicht und billig zu vervielfältigen, der Bildungsdurchschnitt steigt, immer mehr Menschen lernen lesen.
Die Nebenwirkung: der Bedarf an Brillen wächst.
Der Nürnberger Ratserlass für Brillenmacher von 1478 gibt erste schriftliche Hinweise auf die Herstellung von Brillen in der Stadt. 1535 wird in Nürnberg dann die erste Brillenmacher-Zunft gegründet, Regensburg, Augsburg und Fürth folgen. Die Technik wird immer weiter verfeinert: ab dem 16. Jahrhundert sind konkav geschliffene Gläser gegen Kurzsichtigkeit nachgewiesen.
Der im frühen 17. Jahrhundert lebende Philosoph und Naturwissenschaftler René Descartes schreibt über die Bedeutung der Brille:
ZITATOR
„Unsere gesamte Lebensführung hängt ab von unseren Sinnen, und die Tatsache, dass das Sehen der umfassendste und prächtigste von ihnen ist, lässt keine Zweifel daran, dass alle Erfindungen, die der Erweiterung seiner Kraft dienen, zu den nützlichsten gehören, die es gibt.“
ERZÄHLERIN
Abergläubische Menschen wiederum sehen keinen Nutzen in der Brille, sondern halten sie für Teufelszeug. Die Wirkung des geschliffenen Glases können sie sich nicht erklären, also müssen hier dämonische Zauberkräfte mit im Spiel sein. Für dieses Klientel entwickeln findige Wunderheiler die absonderlichsten Arzneien und Augenwässerchen.
Wie wäre es mit diesem Rezept aus dem 14. Jahrhundert?
ZITATOR
Eselsmilch, Majoran, Augentrost, Schöllkraut, Fenchel und Rosskümmel mischen und alles trinken.
ERZÄHLERIN
Und dann auf die heilende Wirkung warten. 300 Jahre später warnt der Dresdner Okulist Georg Bartisch:
ZITATOR
Lasst euch nicht auf eine „gefährliche“ Brille ein. Nehmet stattdessen meine Tropfen mit „gepülvert Gämsenleber“ und „gepülvert Rebhühnerherz“.
ERZÄHLERIN
Andere Arzneibücher empfehlen zur Verbesserung der Sehkraft, sich eine gedörrte Fuchszunge um den Hals zu hängen.
MUSIK, evtl. Sarabande Händel (für Welt des reichen Adels)
ERZÄHLERIN
Wer sich dennoch für die Brille entscheidet, hat die Qual der Wahl. Vom Billigglas bis zur Luxusvariante. Am teuersten und begehrtesten: reines, weißes Glas aus Venedig, von der Glasbläser-Insel Murano. Glas, das standesgemäß in ein exquisites, aufwändig verziertes Gestell eingepasst wird. Vor allem der Adel entdeckt mit der neu erwachten Lust aufs Lesen auch die Brille als modisches Accessoir