Stimmen aus Palästina: Kann Diplomatie den Völkermord stoppen? Der Westen und die Anerkennung des palästinensischen Staates
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Einige Länder Europas sowie Australien und Kanada haben angekündigt, den palästinensischen Staat bei der nächsten Vollversammlung der UNO Ende September anzuerkennen. Dafür ernteten sie harsche Kritik Israels und der USA. Palästinensische Analysten stellen die Beweggründe und die mögliche Wirksamkeit dieses Vorhabens in Frage. Von María Landi.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Während die israelische Regierung auf die vollständige Vernichtung Gazas zusteuert und den Menschen dort unvorstellbares Leid zufügt, während sie gleichzeitig ihre Kampagne der Zerstörung, Vertreibung und Enteignung im Westjordanland fortsetzt, wächst weltweit die Empörung der Bevölkerungen über die Untätigkeit der Regierungen, die nichts unternehmen, um dies irgendwie zu stoppen.
Vielleicht um ein Zeichen zu setzen, das die Massen beruhigt – die nicht nur empört sind, sondern auch wählen gehen –, und um ihre Mitschuld an einem Völkermord zu schmälern, der als einer der schlimmsten des letzten Jahrhunderts in die Geschichte eingehen wird, haben einige Länder Europas sowie Australien und Kanada ihre Entscheidung bekannt gegeben, den palästinensischen Staat während der nächsten UN-Generalversammlung anzuerkennen.
Aber welche strategischen Interessen stehen hinter diesem Schritt? Welche Auswirkungen kann er tatsächlich haben? Welche Gefahren birgt er? Was sollte stattdessen oder zusätzlich getan werden?
Fünf palästinensische Analystinnen und Analysten beantworteten diese Fragen auf den Portalen der beiden wichtigsten palästinensischen Thinktanks: Noura Erakat und Shahd Hammouri auf Jadaliyya sowie Diana Buttu, Yara Hawari und Inès Abdel Razek auf Al-Shabaka. Im Folgenden eine Zusammenfassung ihrer Überlegungen.
Wie man sich der Verantwortung entzieht
Die Kampagne für die Anerkennung des palästinensischen Staates begann nicht erst 2024 als Reaktion auf den Völkermord, sondern reicht bis ins Jahr 2011 zurück. Nach dem Angriff Israels auf Gaza 2008/2009 und dem Zusammenbruch des Osloer „Friedensprozesses” war die Palästinensische Autonomiebehörde politisch entwaffnet. Ihr Präsident Mahmud Abbas startete die Anerkennungskampagne mit zwei Zielen: die Autonomiebehörde selbst zu stützen – deren Funktion als Übergangsorgan schon lange abgelaufen war – und politische Relevanz zu zeigen. Als Sicherheitsdienstleister des israelischen Regimes bloßgestellt, brauchte die Behörde dringend Legitimität.
Die Strategie kam 2024 wieder auf, da sie sowohl der Autonomiebehörde als auch den europäischen Staaten zugutekommt: Sie verschafft einer diskreditierten, zunehmend unpopulären und irrelevanten Instanz internationale Rückendeckung und bietet gleichzeitig den westlichen Mächten ein probates Mittel, sich ihrer Verantwortung zu entziehen.
Rekapitulieren wir: 1974 erkannte die UN-Generalversammlung die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) als legitime Vertretung des palästinensischen Volkes an. [1] Am 29. November 2012 wurde Palästina als „Beobachterstaat” in die Generalversammlung aufgenommen. Nur der UN-Sicherheitsrat kann es als Vollmitglied aufnehmen, aber das Veto der USA macht dies unmöglich (der letzte Versuch war im April 2024).
Doch obwohl 149 Länder (von 193) den palästinensischen Staat bereits anerkannt haben, bleibt er weiterhin eine Fiktion. Israel kontrolliert das gesamte Gebiet zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan sowie alle Aspekte des Lebens der dort lebenden palästinensischen Bevölkerung und auch derjenigen, die weiterhin im Exil lebt, weil Israel ihr die Rückkehr verweigert.
Die förmliche Anerkennung des palästinensischen Staates ist eine symbolische Geste, die keine Auswirkungen vor Ort hat und auch nicht haben wird, solange sie nicht mit wirksamen Maßnahmen und Sanktionen einhergeht, um Israel zu zwingen, seine Besetzung, Kolonisierung und den Raub palästinensischen Territoriums sowie das Apartheid-Regime zu beenden.
Noch weniger wird sie dazu beitragen, den Genozid an der Bevölkerung Gazas zu stoppen. Und genau das ist es, was diese Regierungen vermeiden zu tun. Sie haben sich darauf beschränkt, einige wenige gewalttätige Siedler zu sanktionieren und unerhebliche humanitäre Hilfe anzubieten.
Diana Buttu weist darauf hin, dass selbst diese symbolische Anerkennung noch immer in der Logik bilateraler Verhandlungen gefangen ist. Das heißt, sie basiert auf der Vorstellung, dass das palästinensische Volk über seine Rechte verhandeln muss, als ob die Befreiung immer durch seinen Kolonisator vermittelt, an Bedingungen geknüpft sein und schrittweise vor sich gehen müsste.
Und sie fügt hinzu: „Die europäischen Regierungen verhalten sich weiterhin wie neutrale Beobachter, als ob ihnen die Hände gebunden wären. Aber sie sind nicht neutral. Sie sind Drittstaaten mit verbindlichen Verpflichtungen aus dem Völkerrecht, die Besatzung als das anzuerkennen, was sie ist, nicht zu ihrer Fortsetzung beizutragen und auf ihre Beendigung hinzuarbeiten. Das sind Verpflichtungen, die sie ganz bewusst ignorieren.“
Laut Yara Hawari „dient die Anerkennung den europäischen Staaten dazu, von ihrer Komplizenschaft abzulenken. Diese Erklärungen gehen im Regelfall nicht mit Sanktionen, Waffenembargos oder irgendeiner konkreten Verpflichtung zur Beendigung der Besatzung oder der Apartheid einher. Im Gegenteil, sie dienen als symbolische Gesten im rechtlichen Bereich und schützen Israel zugleich vor seiner Verantwortung für Kriegsverbrechen und systematische Rechtsverletzungen.“
Hawari zufolge ist das Argument, dass die Anerkennung Palästina in internationalen Foren mehr diplomatisches Gewicht verleihen würde, naiv und irreführend: Es ignoriert das Ungleichgewicht der Macht in der bestehenden Weltordnung, in der das Veto der USA Israels Straffreiheit garantiert und Palästina niemals unter gleichberechtigten Bedingungen verhandeln kann.
„Wir sind kein souveräner Staat. Wir sind ein kolonisiertes, belagertes und besetztes Volk, das mit einem Genozid in Gaza konfrontiert ist. Jedes ernsthafte politische Engagement muss von dieser Realität ausgehen, nicht von der Illusion eines Staates, der nicht existiert. Anstatt den Völkermord und die erzwungene Hungersnot zu beenden – die zum großen Teil von denselben Staaten ermöglicht werden, die die Anerkennung anbieten –, sagen sie uns, wir sollen uns auf das Phantasiegebilde von einem Staat konzentrieren, das niemand bereit ist, zu verwirklichen.“
Darüber hinaus, erklären Noura Erakat und Shahd Hammouri, birgt diese diplomatische Initiative das Risiko, dass die eigentliche Ursache des Problems nicht angegangen wird: das zionistische Kolonialprojekt und seine suprematistische Ideologie, die die Auslöschung der palästinensischen Bevölkerung anstrebt, um die jüdische Souveränität in ganz Palästina durchzusetzen.
Das ist die Nakba, eine Struktur der Enteignung, Vertreibung und Auslöschung, die 1948 begann, nie endete und heute in Gaza auf brutalste Weise zum Ausdruck kommt.
Und sie fügen hinzu, dass „die falsche Gleichsetzung von Selbstbestimmung mit Staatlichkeit eine gefährliche Gleichung ist, die frühere Entkolonialisierungskämpfe überschattet hat und dem palästinensischen Kampf nicht gerecht wird”.
Die Verpflichtungen der Staaten gegenüber Palästina im Rahmen des Völkerrechts sind eindeutig. Im Januar 2024 entschied der Internationale Gerichtshof, dass ein Völkermord vorliegen könnte, den die Staaten verhindern müssten. Und im Juli 2024 urteilte er, dass die Besetzung des Gazastreifens, Ostjerusalems und des Westjordanlands illegal ist, was zu einem internationalen Boykott zwecks Beendigung dieser Besetzung verpflichtet. [2]
Die Drittstaaten müssen harte Sanktionen verhängen, um sicherzustellen, dass Völkermord, Apartheid und Besatzung nicht länger rentabel sind. Dies erfordert eine internationale Zusammenarbeit, um Israel sowohl vom Markt als auch von internationalen Foren auszuschließen, argumentieren palästinensische Juristen.
Das Mantra von den „zwei Staaten“
Die sogenannte internationale Gemeinschaft kräht seit Jahrzehnten, dass sie für die „Zweistaatenlösung” sei, hat aber keinen Finger gerührt, um sie zu verwirklichen. Diejenigen, die sie wiederholen, ignorieren offensichtlich, dass es sich um ein veraltetes und undurchführbares Paradigma handelt: Sie haben nie gesagt, wie sie Israel dazu zwingen wollen, die 300 jüdischen Siedlungen und ihre 800.000 Bewohner aus dem Westjordanland und Ostjerusalem abzuziehen, das gestohlene Land und Wasser an ihre palästinensischen Eigentümer zurückzugeben und die gesamte Infrastruktur der Apartheid abzubauen.
Dieses Mantra, das bis zum Überdruss wiederholt wird, ist zur politisch korrekten und unfehlbaren Formel geworden, um den Status quo beizubehalten, ohne dass sich etwas ändert.
Das Zweistaaten-Modell gemäß dem Konsens der UNO zementiert die Ungerechtigkeit, dass das palästinensische Volk einen Staat auf 22 Prozent seines historischen Territoriums vor der zionistischen Invasion haben soll.
Was fälschlicherweise „Grenzen von 1967” genannt wird, sind in Wirklichkeit die Linien des 1949 unterzeichneten Waffenstillstandsabkommens zwischen den besiegten arabischen Ländern und dem neu gegründeten Israel, das sich im Eroberungskrieg von 1948 78 Prozent des palästinensischen Territoriums angeeignet hatte (weit mehr als die ohnehin schon ungerechten 55 Prozent, di