Verkehrsberuhigte Stadt - Wie sie gelingen kann
Description
Unsere Innenstädte sind im ständigen Wandel. In der Nachkriegszeit sollten sie noch möglichst autogerecht sein, seitdem fand ein Umdenken statt, das immer wieder für Konflikte sorgt. Oft heißt es zum Beispiel, Verkehrsberuhigung schade dem Einzelhandel. Doch stimmt das überhaupt? Von Andreas Strobel
Credits
Autor dieser Folge: Andreas Strobel
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Katja Amberger, Benjamin Stedler, Jenny Güzel
Technik: Stephan Oberle
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Tamina Schelter, Polizistin in Rosenheim
Benedikt Boucsein [‘Bucksein], Professor für Urban Design, TUM
Valentina Orioli [Valen‘tina Ori‘oli], ehem. Verkehrsdezernentin Bologna
Cleto Carlini, Leiter der Abteilung für nachhaltige Mobilität Bologna
Bernd Ohlmann, Pressesprecher Handelsverband Bayern
Oliver May-Beckmann, Leiter MCube TUM
Tim von Winning, Bürgermeister für Stadtentwicklung, Bau und Umwelt Ulm
Andreas März, Oberbürgermeister Rosenheim
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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
“CUT – Das Virus, das uns trennt”. In dem Storytelling-Podcast vom WDR geht es um das Virus, das alles verändert hat: Corona. Vor fünf Jahren hat die WHO die Verbreitung des Virus als Pandemie eingestuft. Und mit der Pandemie ging auch ein Riss durch unsere Gesellschaft. Fast in jeder zweiten Familie oder Freundeskreis gab es ernsthafte Konflikte wegen Corona. Das zeigen aktuelle Zahlen aus dem ARD Deutschlandtrend, die CUT exklusiv für den Podcast erhoben hat.
“CUT – Das Virus, das uns trennt” findet ihr jetzt in der ARD Audiothek und überall da, wo es Podcasts gibt oder gleich HIER
Literatur:
Hans Dollinger, „Die totale Autogesellschaft“ (1972): Dollinger beschreibt in klarer Sprache die Probleme der autogerechten Stadt vor dem Hintergrund unwirtlicher Städte und zunehmenden Autoverkehrs
Klaus von Beyme, „Der Wiederaufbau“ (1987): Ein Standardwerk, das die Unterschiede und Ähnlichkeiten im Städtebau in BRD und DDR aufzeigt
Jane Jacobs, Tod und Leben großer amerikanischer Städte (1961): Große Kritik an der Stadtplanung amerikanischer Großstädte
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecher 1
Verkehrskontrolle in der Rosenheimer Innenstadt, an einem Wochentag im Januar. Polizistin Tamina Schelter und ihr Kollege Robert Maurer beobachten ein Auto, das langsam in ihre Richtung fährt.
ZSP 02 OT Schelter Ah
Ah, da kommt einer. – Ja!
Sprecher 1
Das Team der Rosenheimer Polizei steht in der Münchener Straße, die seit kurzem eine Fußgängerzone ist. Doch dort, wo eigentlich Menschen gehen sollten, fährt ein schwarzer Kombi entlang. Tamina Schelter hält die Fahrerin an.
ZSP 03 OT Schelter Bollern
Sie befahren grad eine Fußgängerzone. Ab da vorne, wo diese schönen Bollern stehen, bis hier hinten, ist Fußgängerzone.
Sprecher 1
Die Autofahrerin will für diese Sendung nicht aufgenommen werden. Sie habe, sagt sie, die Schilder übersehen, die die Fußgängerzone ankündigen. Polizistin Tamina Schelter ist nachsichtig:
ZSP 04 OT Schelter Verwarnung
Ich würds heute bei ner mündlichen Verwarnung belassen, ausnahmsweise, normalerweise kostets 50 Euro.
Sprecher 1
Die Autofahrerin bedankt sich und kehrt um. Sie wird nicht die Einzige bleiben, die die Polizistin und ihr Kollege heute auf die neue Fußgängerzone hinweisen müssen – stündlich fahren hier noch Dutzende Autos unerlaubt entlang. Das kann gefährlich werden, wenn sich Passantinnen und Passanten auf die Verkehrsberuhigung verlassen:
ZSP 05 OT Schelter Unfall
Deswegen kann es durchaus zum Verkehrsunfall kommen. Und das wäre natürlich alles andere als gut. Deswegen wäre unser Wunsch, dass die Verkehrszeichen beachtet werden und hier einfach kein Fahrzeugverkehr mehr durchfährt.
Sprecher 1
Rosenheim will mit der neuen Fußgängerzone seine Innenstadt beleben, dem Handel helfen und Aufenthaltsqualität schaffen. Was muss die Stadt tun, damit das funktioniert?
MUSIK
Sprecherin 2
Es ist ein Konflikt, wie es ihn überall in Deutschland gibt: Wer Auto fährt, ist es gewohnt, direkt zu seinem Ziel fahren zu können. Seit der Nachkriegszeit sind Städte autofreundlich gestaltet. Inzwischen gibt es ein Umdenken. Doch was bedeutet der Wandel für die Menschen, die in den Städten wohnen? Was für die Besucherinnen und Besucher? Und stimmt es, dass der Einzelhandel leidet, wenn Autos draußen bleiben müssen? [[In deutschen und europäischen Städten lässt sich der unterschiedliche Umgang mit dem Autoverkehr direkt beobachten.]]
Doch zunächst ein Blick ganz an den Anfang der motorisierten Zeit.
MUSIK ENDE
ZSP 06 Atmo England 1900
ATMO Take: C1064590 004 / Straße in England um 1900
Sprecher 1
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreiten sich nach und nach die Dampfkraftwagen als Vorläufer des Autos. Im Vereinigten Königreich ist man skeptisch, fürchtet Unfälle in den Städten – und schreibt 1865 ein Gesetz. Motorbetriebene Fahrzeuge dürfen fortan innerorts nur noch mit 2 Meilen pro Stunde fahren, also gut 3 km/h, und ihre Betreiber müssen Sicherheitsmaßnahmen treffen:
MUSIK
Vorschlag: Take: ZE021640 102 / Greensleeves
Zitator:
Historischer Sprecher Zitat Red Flag Act
„Eine der Personen soll, während sich das Fahrzeug bewegt, diesem mit mindestens sechzig Yards Abstand vorausgehen und dabei ständig eine rote Flagge tragen.“
MUSIK ENDE
Sprecher 1
Eine rote Flagge, um die Stadtbevölkerung vor Fahrzeugen zu warnen, die sich nicht einmal mit Schrittgeschwindigkeit fortbewegen? Sicher, zur Anfangszeit des Motorverkehrs sind sich viele Menschen der potenziellen Gefahren nicht bewusst, sind sie doch eher Pferdekutschen auf den Straßen gewohnt. Doch der so genannte Red Flag Act, das Rote-Flaggen-Gesetz, setzt sich am Ende nicht durch und wird nach gut 30 Jahren wieder abgeschafft. Zu seiner Anfangszeit hat es der motorisierte Verkehr also gar nicht so leicht. Das wandelt sich aber bis zur Mitte des 20 Jahrhunderts deutlich.
MUSIK
Langsam beginnende, ruhige Musik, die leichte Spannung aufbaut
Sprecherin 2
Nach dem zweiten Weltkrieg sind viele deutsche Städte zu großen Teilen zerstört. Der Wiederaufbau ermöglicht aber auch, die Innenstädte komplett neu zu gestalten. Viele Verantwortliche verfolgen ein Ziel:
Musik Ende
Die autogerechte Stadt.
ZSP 07 OT Boucsein autogerechte Stadt
Das Leitbild der autogerechten Stadt ist aus der Moderne heraus entstanden, aus der modernistischen Stadtplanung, die auf einen starken Fortschrittsgedanken hin zu Technologie hingearbeitet hat.
Sprecherin 2
… erklärt Benedikt Boucsein. Als Professor für Urban Design an der Technischen Universität München erforscht er Architektur und Infrastruktur von Städten. Und diese autogerechte Stadt malte man sich folgendermaßen aus.
ZSP 08 OT Boucsein Quartiere
Man hat eigentlich gesagt, wir haben in den Städten ein Wohnquartier, ein Arbeitsquartier, ein Quartier zum Einkaufen und Erholung und die sind voneinander getrennt.
ZSP 09 Atmo Seidlstraße
Take: G0036620 002 / München Unterführung an der Seidlstraße
Sprecherin 2
Möglichst einfach und unabhängig soll man seitdem in die Innenstädte kommen, vielerorts entstehen mehrspurige Fahrbahnen für den Autoverkehr. [[München baut ab den 1950er-Jahren den Mittleren Ring …
ZSP 10 Atmo Berlin
Sprecherin 2
Und West-Berlin eine Stadtautobahn. Und schon zur Einweihung im Jahr 1964 ist sich der dortige Baudirektor sicher: Dabei wird es nicht bleiben, der Ausbau muss weiter vorangehen.
ZSP 11 OT Baudirektor Klotz stolz
Stadtautobahn Berlin(1)
Der Berliner ist wohl mit Recht in den letzten Jahrzehnten auf sein Stadtstraßennetz stolz gewesen. Was wollen wir Straßenbauer nun heute tun? Wir sind uns darüber klar, dass wir Straßen erstellen müssen, die ebenfalls in 20, 30 Jahren dem dann entstehenden Verkehr gerecht werden.
Sprecherin 2
Schon damals war also absehbar, dass die Zahl der Autos in den Städten weiter zunehmen wird, wie auch der Sprecher einer Ferns