Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (XVI) – Heute: „testen“, „unsere Lebensweise“, „verirren“ und „wertegeleitete Außenpolitik“
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Vokabelkritik ist zu Kriegszeiten das Gebot der Stunde. Ich veröffentliche in unregelmäßigen Abständen eine Sammlung teils verharmlosender, teils lügenhafter Wörter oder Formulierungen, deren Sinn und Funktion es ist, unsere Gesellschaft – uns alle – an das Undenkbare zu gewöhnen und möglichst geräuschlos in Richtung „Kriegstüchtigkeit“ umzukrempeln. Von Leo Ensel.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
tausend Soldaten pro Tag (getötet oder verwundet)
„Das klingt jetzt brutal, ich weiß: Aber nach Berechnungen der Bundeswehr werden im Kriegsfall pro Tag 1.000 Soldaten an der Front sterben oder so schwer verwundet sein, dass sie nicht mehr kämpfen können. Die müssen ersetzt werden, und zwar auch maßgeblich durch Reservistinnen und Reservisten.“ So ungeniert brutal Patrick Sensburg, Präsident des Deutschen Reservistenverbandes, am 22. Oktober 2025 in Spiegel Online. – Teenager, die 2008 und später geboren wurden – und die alles Recht der Welt haben, ihr Leben, ihre Jugend zu genießen –, sollten es sich in allem gebotenen Ernst klarmachen: Der Mann meint sie! (vgl. „brutal, ich weiß“, „Generation Waschlappen“, „schonungslos“)
testen
Wie weit man gehen kann, natürlich. Macht immer (und immer nur) Russland. Genauer: der Präsident, ähh: „zweite Hitler“! In den „Informationen am Morgen“ des DLF vom 23. September 2025 nannte man das schlicht: „Putins Spielchen“. (vgl. „schleichend destabilisieren“)
Tiere
Sind für den ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan natürlich die Russen. Aber nicht nur das: Horden, Verbrecher, Schweine und Unrat ebenfalls. Kurz: Grund genug, „für sein herausragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung“ mit dem „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ ausgezeichnet zu werden! (vgl. „Bestie“, „faul“, „keine Europäer“)
unsere Lebensweise
Gerne auch, wie Boris Pistorius unlängst formulierte – ohne auszuführen, was er damit meinte: „Unsere Art zu leben“. Seit „der Kommunismus“ als klares Schreckensgespenst abgedankt hat, inzwischen inflationär gebrauchtes Mantra – irgendwo zwischen „wehrhafter Demokratie“, „Tierärztin Dr. Mertens“, Gendersprache, „Omas gegen Rechts“ und Aldi –, von dem keiner so recht weiß, was es eigentlich bedeuten soll. (Was jedoch zugleich so bedeutend ist, dass man dafür den dritten Weltkrieg zu riskieren hat!) Auf Deutsch: „Our way of living“. Dazu NATO-Generalsekretär Mark Rutte am 9. Juni 2025: „Wir haben das Vertrauen, die Entschlossenheit und den Mut, alles zu tun, was nötig ist, um unsere Lebensweise zu schützen.“ Unsere Lebensweise also, die gilt es zu schützen! (Bezeichnenderweise ist hier noch nicht mal mehr von „Werten“ die Rede …) – Aber was wird sein, wenn „der Russe“ uns demnächst erobert hat? Kwass statt Cola? Pelmeni statt Ravioli? Russland- statt Regenbogenflagge? „Einiges Deutschland“ statt CDU / AFD / SPD / FDP / GRÜNE und Linke? Orthodoxe statt katholischer Kirche? Statt Mallorca Urlaub in Jakutien? CSD-Karneval nur noch in der Vorstadt? Nicht auszudenken! (vgl. „unser Leben, so wie wir es weiterpflegen wollen“)
unser Wohlstand
„Heute ist ein denkwürdiger Tag in der Geschichte der NATO: Wir investieren in das Fundament unserer Freiheit, unserer Sicherheit und unseres Wohlstands.“ Die heilige Trinität des Friedrich Merz. Verkündet nach dem denkwürdigen Brüsseler NATO-Gipfel vom Juni 2025. Vereinigt auf denkbar knappem Raum sämtliche Keywords des öffentlichen Verdummungsdiskurses. Denn weder verteidigen NATO und die als prospektives Mitglied immer schon mitgedachte Ukraine „unsere Freiheit“, gar „unsere Sicherheit“, und mit dem billionenschweren Verschuldungsprogramm für die Aufrüstung (von NATO und Ukraine) wird – zusammen mit dem x-ten EU-Sanktionspaket gegen Russland – stattdessen unser Wohlstand (und vielleicht auch unser aller Weiterleben) endgültig ruiniert. (vgl. „unsere Freiheit, Sicherheit & Lebensweise“)
verdruckstes und euphemistisches Sprechen
Vermeidet Peter Unfried, taz-Chefreporter seines Zeichens, ebenso penibel wie die von ihm kritisierten „semantischen Vermeidungsstrategien“. Und zieht dann, den angestrebten „Kulturwandel“ semantisch vorantreibend, das finale Wort-Kaninchen aus dem Zylinder. Es lautet natürlich: „kriegstüchtig“ – und hoppelt seither munter durch die woken Redaktionsstuben der Berliner Rudi-Dutschke-Straße 23!
verfrüht
Hielt Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther im „Interview der Woche“ des DLF vom 24. August 2025 „die Debatte über einen Bundeswehreinsatz in der Ukraine zur Absicherung eines möglichen Waffenstillstands. Er glaube, es verunsichere die Menschen eher, wenn man solch hypothetische Debatten führe. Erst wenn konkrete Entscheidungen anstünden, seien eine andere Kommunikation und Transparenz wichtig. Grundsätzlich stehe für ihn aber fest, dass Europa dem angegriffenen Land mit Sicherheitsgarantien zur Seite stehen müsse. Deutschland habe bereits auf die veränderte Lage reagiert und unter anderem die Schuldenbremse für die Unterstützung der Ukraine gelockert.“ – Auf Deutsch: „Entspannt euch noch ein bisschen, Leute, bevor es losgeht! Wir sagen euch dann rechtzeitig Bescheid.“ (vgl. „im Augenblick“, „zur Zeit“)
verirren
„Polen hat nach eigenen Angaben Drohnen über seinem Staatsgebiet abgeschossen. Nach Angaben des polnischen Militärkommandos hatten sich die Drohnen bei russischen Angriffen auf die benachbarte Ukraine in den polnischen Luftraum verirrt“, meldete der Deutschlandfunk am Morgen des 10. September 2025. Um dann kurz darauf fortzufahren: „Polen ist in erhöhter Alarmbereitschaft, seit im Jahr 2022 eine eingedrungene ukrainische Rakete in einem Dorf im Süden des Landes einschlug und zwei Menschen tötete.“ – Oh, sorry, das war eine Fake News! Eingedrungen waren die russischen und verirrt hatten sich die ukrainischen Waffen. (Wenn auch die Verirrten Menschen töteten und die Eingedrungenen nicht.) (vgl. „eindringen“)
vertraulich
Vorsicht, hier wird gekungelt!
wahres Gesicht
Dieses zeigt Wladimir Putin uns allerspätestens seit seinem „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ auf die Ukraine. Zuvor hatte er es als gewiefter Ex-KGB-Mann jahrzehntelang raffiniert vor der Weltöffentlichkeit verborgen.
wertegeleitete Außenpolitik
Selbstgerecht moralisierendes westliches Trommelfeuer als Ersatz für klare Interessenpolitik und Diplomatie. Ihre Vertreter-Doppelpunkt-innen gehen für die Menschenrechte auch schon mal über Leichen. Merken wir uns also den simplen Satz des jahrzehntelangen UN-Diplomaten Michael von der Schulenburg: „Wer von Werten spricht, will Krieg!“
Widerpart
Russischer, selbstverständlich! „US-Präsident Trump und sein russischer Widerpart Wladimir Putin haben sich in Anchorage getroffen“, so der gebührenfinanzierte Deutschlandfunk am 16. August 2025 um 19:05 Uhr. – Spezialkreation des DLF, nachdem „Machthaber“ wie auch „Kreml-Chef“ sich schon zu sehr abgenutzt hatten. War aber genau zwölf Stunden später selbst schon wieder eine Wortleiche, denn dann waren genau dort der „Diktator zu Gast bei Freunden“ und der „russische Kriegstreiber“ angesagt.
Wir
Und nochmal der Klassiker von (damals noch) Generalmajor (mittlerweile ist er schon wieder weiter) Freuding: „Wir brauchen Waffensysteme, die weit in die Tiefe des russischen Raumes reichen, die angreifen können: Depots, Führungseinrichtungen, Flugplätze, Flugzeuge.“ Fällt Ihnen etwas auf? – Ja, genau: „Wir“! – Wer genau? Offenbar nicht nur die „auch unsere Freiheit verteidigende“ tapfere Ukraine. Sondern auch alle unterstützenden Staaten. – Moment mal: Sollte unser Land, Deutschland, etwa tatsächlich schon längst dabei sein, Krieg gegen Russland zu führen …?! (vgl. „echt“, „Freiheit“)
Wir sind im Krieg mit Russland
Wer glaubt, Russland würde uns erst 2030 angreifen oder wir könnten wenigstens jetzt, 2025, noch Sönke Neitzels „letzten Friedenssommer“ genießen, irrt sich gewaltig. „Wir müssen uns über eins klar sein: Wir sind schon im Krieg mit Russland“, lautet die frohe Botschaft eines Stephan Bierling. „Es ist kein Krieg mit Panzern, aber es ist ein grauer Krieg, ein hybrider Krieg, die



