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Frauen in der Steinzeit -  Geschlechterverhältnisse in grauer Vorzeit

Frauen in der Steinzeit - Geschlechterverhältnisse in grauer Vorzeit

Update: 2025-01-09
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Description

Dass Frauen in der Steinzeit nicht in einer Kinderschar ums Feuer saßen und auf den Familienernährer warteten, ist inzwischen weitgehend bekannt. Doch wie lebten Frauen dann? Welche Beweise gibt es, welche Thesen, welche Schwierigkeiten? Von Silke Wolfrum

Credits
Autorin dieser Folge: Silke Wolfrum
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Christoph Jablonka, Julia Fischer
Technik: Lorenz Kersten
Redaktion: Thomas Morawetz


Im Interview:
Prof. Dr. Brigitte Röder (Fachbereich Ur- und Frühgeschichtliche und Provinzialrömische Archäologie Uni Basel),
Claudine Cohen, Directrice d'études de l'EHESS (renommierte Uni für Sozialwissenschaften), Philosophin und Wissenschaftshistorikerin



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Literatur:
Claudine Cohen, „Femmes de la Préhistoire “: Eine umfassende Darstellung der Bedeutung der Frau v.a. in der Altsteinzeit, leider nicht auf Deutsch erhältlich
Brigitte Röder (Hrsg.), „Ich Mann, du Frau. Feste Rollen seit Urzeiten?“, mit einem Vorwort von Brigitte Röder und zahlreichen konkreten Fallbeispielen



Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.


Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:


ZUSPIELUNG 01 a: Brigitte Röder 



Einer der größten Irrtümer ist, dass man von den Frauen in der Steinzeit spricht. Denn genauso wie heute die Lebensverhältnisse von Frauen sehr, sehr verschieden sein können, war das auch in der Vergangenheit der Fall.


SPRECHER:


Sagt Brigitte Röder, Professorin für Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie an der Uni Basel.


ZUSPIELUNG 01 b: Brigitte Röder


Und das andere ist, dass man sich klarmachen muss, dass die Steinzeit 2,8 Millionen Jahre umfasst. Also das ist ein ungeheuer langer Zeitraum, in dem sehr viele Veränderungen stattgefunden haben. Und von daher muss man schon davon ausgehen, dass sich auch die Lebensverhältnisse für die Geschlechter in diesem langen Zeitraum verändert haben.


MUSIK: „The mist“ (0:43


SPRECHER:


Aussagen über Geschlechterrollen in der Steinzeit zu treffen ist nicht leicht. Nicht nur aufgrund des immensen Zeitraums, auch weil es sich um eine Zeit vor der Schrift handelt, ihre Überreste also ausschließlich aus Knochen, Steinen, Siedlungsresten, aus Kunstobjekten, evtl. auch aus Stoff- oder Nahrungsresten bestehen. Ein nicht minder großes Problem stellt zudem der häufig subjektiv gefärbte Blick dar, mit dem die Steinzeit betrachtet wird, so die Philosophin und Wissenschaftshistorikerin Claudine Cohen (gespr: Clodin Co-en, Betonung immer auf 2. Silbe) von der l'EHESS (gespr.: eu-hacheu-èssèss), einer Universität für Sozialwissenschaften in Paris.


ZUSPIELUNG 02: Claudine Cohen - OVERVOICE


Il se trouve bien que... les cadres bourgeois de nos sociétés


Man hat sich in der Geschichte lange Zeit nicht wirklich mit Frauen beschäftigen wollen, man hat sehr lange die Rolle der Frauen praktisch ausgelassen, unsichtbar gemacht. Es gab schon eine Reihe von Darstellungen, aber es waren extrem, sagen wir mal, banale Darstellungen, die die Konzepte der Gesellschaft des 19. oder 20. Jahrhunderts aufgriffen, um sie auf diese sehr, sehr weit entfernte Vergangenheit zu projizierten, die natürlich nichts mit den bürgerlichen Konzepten unserer Gesellschaften zu tun hat. 


SPRECHER:


So wurde und wird z.T. immer noch in populärwissenschaftlicher Ratgeberliteratur wie in wissenschaftlichen Abhandlungen behauptet, Männer hätten in der Steinzeit die Rolle des Ernährers eingenommen, Frauen die der Kinderbetreuung und des Haushalts. Von dieser vermeintlich ursprünglichen und natürlichen Rollenaufteilung wird gern auf entsprechende angeblich geschlechtsspezifische Charakterzüge von Frauen und Männern geschlussfolgert. Hier der mutige Mann, der sich bestens orientieren kann, dort die fürsorgliche und eher vorsichtige Frau mit den besseren Kommunikationsfähigkeiten. Und so dient DIE Steinzeit, die es ja so - wie gerade gehört - gar nicht gibt, zur Projektionsfläche für Geschlechterfragen unserer Zeit, in der reichlich Verunsicherung herrscht. Stichwort Me too, Gendersternchen und „Krise der Männlichkeit“.


ZUSPIELUNG 03: Brigitte Röder


In solchen Situationen kommt es eigentlich regelmäßig vor, dass man nach Orientierung in der Vergangenheit sucht und dann häufig in der Urgeschichte landet, weil die Urgeschichte bei uns als eine Art Ur- und Naturzustand gilt, also als ob man quasi da noch mal auf das eigentliche Wesen des Menschen von Frauen und Männern gucken könnte, ohne die ganzen zivilisatorischen Prozesse, die dieses Wesen vielleicht verändert haben. Also man merkt schon dahinter steht ein essentialistisches Menschenbild, also die Vorstellung, dass es so etwas wie das Wesen des Menschen oder das Wesen der Frau, des Mannes gäbe. Dass man dieses Wesen dann in der Urgeschichte sucht und dann meint, man könne von dort quasi eine Antwort erhalten, wie Frauen und Männer eigentlich von Natur aus seit Urzeiten sind. 


SPRECHER:


Neuere Ansätze gehen einen anderen Weg, stellen andere Fragen und können auf eine Vielfalt auch neuer wissenschaftlicher Methoden zurückgreifen. Wer heute seriös über die Rolle der Frau in der Vorgeschichte forscht, ist interdisziplinär, bedient sich der Paläontologie, die sich mit Fossilien befasst oder der Anthropologie, die Knochen untersucht, genauso wie der prähistorischen Archäologie, die sich mit behauenen Knochen oder Steinen beschäftigt oder der so genannten Trassologie, die Auskunft gibt über die Herstellung und Verwendung von Werkzeugen und den Spuren, die sie hinterlassen. Auch moderne DNA-Analysen bringen neue Erkenntnisse oder ethnografische Studien, die sich mit noch heute lebenden traditionellen Gesellschaften befassen und teilweise Rückschlüsse auf Bedingungen prähistorisches Lebens erlauben. Die Methoden ergänzen sich gegenseitig.


ZUSPIELUNG 04: Brigitte Röder


Da gibt es eine Untersuchung, die zeigt, dass es bei männlichen und weiblichen Skeletten aus der Altsteinzeit keine Unterschiede bei den Verletzungen gibt. Das heißt, dass man davon ausgehen muss, dass Männer und Frauen in der Altsteinzeit denselben Gefahren ausgesetzt waren, also haben sie offensichtlich ähnliche Tätigkeiten ausgeübt. Also das wäre jetzt ein indirekter Hinweis darauf, dass Frauen auch gejagt haben. Dann kann man sich mit ethnografisch überlieferten Gesellschaften beschäftigen. Eine Kollegin aus der Archäologie, Linda Owen, eine andere Kollegin, die aus der Ethnologie und der Archäologie kommen, Sibylle Kästner, haben beide dazu gearbeitet und haben aus der ethnografischen Literatur Beispiele zusammengestellt von Gesellschaften, in denen Frauen jagen, teilweise alleine, teilweise sogar mit Baby auf dem Rücken auf die Jagd gehen, teilweise in Treibjagden und in Gruppenjagden involviert sind.


MUSIK: „Someone love us“ (0:41


SPRECHER:


Bei den Inuit sind es v.a. Männer, die Eisbären, Karibus oder Wale jagen. Doch gibt es zu wenig männliche Nachkommen, fällt den Frauen diese Aufgabe zu. Die Arbeitsteilung ist unter gewissen Bedingungen also flexibel.


Generell spielte die Großwild-Jagd in der Urgeschichte wohl nicht die entscheidende Rolle, die ihr oft zugeschrieben wurde. Ein Großteil der Nahrung setzte sich aus Kleinwild wie z.B. Hasen und pflanzlicher Nahrung zusammen. Frauen leisteten einen großen Anteil bei der Nahrungsbeschaffung, so Claudine Cohen:


ZUSPIELUNG 05: Claudine Cohen OVERVOICE


Pendant longtemps, on a cru … et même qu'elles chassaient.


Lange Zeit glaubte man, dass Frauen zu Hause blieben, nichts taten, darauf warteten, dass man ihnen etwas zu essen brachte, und sich um eine reiche Nachkommenschaft kümmerten. Da denkt man heute wirklich ganz anders. Man glaubt, dass sie extrem mobil waren, dass sie nach draußen gingen, entweder Pflanzen sammelten, Wild sammelten, Eier und Muscheln sammelten und sogar jagten. 


MUSIK: „Fun is over“ (0:36


SPRECHER:


Frauen schafften nicht nur Nahrung ran, sie spielten auch eine Rolle im Bereich der Kunst. Untersuchungen des amerikanischen Archäologen Dean Snow ergaben, dass Handnegative, die auf verschiedenen Höhlenmalereien neben den Tierzeichnungen zu sehen sind, zu Dreivierteln von Frauen stammen. Frauen legten also ihre Hand auf die Felswand, dann wurden mit einem Röhrchen Farbpigmente darauf geblasen und der Handumriss blieb erhalten.


ZUSPIELUNG 07 Claudine Cohen O

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Silke Wolfrum