DiscoverScience on Player FMGanz schön zwanghaft: Von Ticks, Spleens und echten Zwängen - radioWissen
Ganz schön zwanghaft: Von Ticks, Spleens und echten Zwängen - radioWissen

Ganz schön zwanghaft: Von Ticks, Spleens und echten Zwängen - radioWissen

Update: 2024-09-20
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Description

Pflastersteine zählen, die Bettdecke richtig ausrichten, den Herd mehrfach prüfen. Harmlose Eigenarten oder bedenkliche Zwänge? Fast jeder Mensch hat Spleens, Ticks oder Marotten. Manche sind den Betroffenen nicht mal bewusst. Wie bedenklich sind solche Spleens, und inwiefern lassen sie sich von Zwangsstörungen abgrenzen, die man behandeln sollte? Überraschend ist: Bis zu einem gewissen Grad kann Zwangshaftigkeit sogar positive Effekte haben. Von Susanne Brandl

Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Brandl
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Andreas Neumann, Peter Veit
Technik: Lorenz Kersten
Redaktion: Susanne Poelchau


Im Interview:
Fanny Jimenez, Psychologin und Journalistin,
Michael Kellner, Psychiater und Psychotherapeut, Universitätsklinikum Rechts der Isar,
Katharina Bey, Psychologin und Psychotherapeutin, Universitätsklinikum Bonn;

Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:


WDR5 Innenwelt - das psychologische Radio HIER ENTDECKEN
Psychologie fasziniert mit Einblick in unsere Innenwelt. Was passiert in unserem Kopf, welche Phänomene begleiten den Alltag? Und was, wenn etwas verkehrt läuft? Bei psychiatrischen Krankheiten ist Hinschauen ein erster wichtiger Schritt.


oder
Zeit für Bayern: Zwänge: Wie es sich anfühlt, mit Zwangsstörungen zu leben - Bayern2 Radio


Literatur:
Ich und mein Spleen. Was wir tun, wenn wir alleine sind. Die Autorin Fanny Jimenez erklärt psychologisch fundiert, dass kleien Zwänge, Spleens oder Marotten uns keine Sorgen machen müssen, im GegenteiL: sie sind gesund, weil sie dabei helfen dabei, uns zu regulieren.
Zwangsstörungen: Die Autorin Katharina Bey geht hier auf theoretische Grundlagen zu Erscheinungsformen, Diagnostik, Entstehung und Aufrechterhaltung der Zwangsstörung ein und stellt Psychotherapiemaßnahmen vor.



Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.


Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:


SPRECHER:



Es beginnt schon früh morgens, noch vor dem Aufstehen. 


O-TON A


Ich stelle mir den Wecker oft ein, zwei Stunden früher als ich tatsächlich aufstehen muss. Einfach weil ich das Gefühl liebe, noch nicht aufstehen zu müssen. Dieser Moment, zu sehen, ah du kannst noch weiterschlafen, das genieße ich total. 


ATMO Teller + Besteck


SPRECHER:


Und wenn es dann so weit ist und der Tag beginnt, dann steht erst mal das Frühstück an. 


O-TON B


„Beim Essen muss der letzte Bissen der beste Bissen vom ganzen Essen sein und dann esse ich drum herum, um möglichst sicher zu stellen, dass ich nicht mit einem unzufriedenen Gefühl aus dem Essen rausgehe.“


Atmo Geschirr in die Spülmaschine sortieren


SPRECHER:


Dann folgt das Tischabräumen. 


O-TON C


„Die Geschirrspülmaschine muss immer ordentlich eingeräumt sein. Links die Messer, rechts das gebogene Besteck.“


ATMO Schranktür


SPRECHER:


Daraufhin steh ich vor dem Kleiderschrank und überlege. Oder auch nicht. Denn eigentlich ist klar:


O-TON D


„dass ich nur weiße Socken trag.“


Atmo Zähneputzen


SPRECHER:


Schnell noch Zähneputzen! 


O-TON E


„Ich putz immer in der gleichen Reihenfolge, in dem gleichen Tempo Zähne. Genau nach dem gleichen Prinzip, sonst fühlt sich das nicht richtig an.“


ATMO Schritte


SPRECHER:


Und auf dem Weg in die Arbeit sind da diese Pflastersteine:


O-TON F


 „Ich trete nicht auf die Linien von den Steinen auf den Boden, wenn es so große Steine sind, nicht auf die Linien. Warum nicht? Dann hat man irgendwie was zu tun.“


Musik aus


SPRECHER:


Manchmal sind wir seltsam. Wir folgen pedantisch ungeschriebenen Regeln oder Mustern. Wir kontrollieren Herd und Haustür oft mehrfach hintereinander. Wir zählen Autos, Straßenpfeiler oder Fenster. Kleine Zwänge, die uns komische Dinge machen lassen: 


O-TON 1 JIMENEZ:


Viele Menschen sind sich ihres Spleens gar nicht bewusst bis es ihnen jemand sagt. Weil die eben so automatisch kommen. Unser Gehirn stellt das sozusagen einfach so zur Verfügung und oft erscheint uns das überhaupt nicht so irrational oder überflüssig wie es anderen erscheint. Und solange uns das keiner sagt, ist es meistens auch nicht peinlich.“


SPRECHER:


Fanny Jimenez, Psychologin und Journalistin. In einer Kolumne befasste sie sich mit Marotten, Schrullen und Fimmeln, die man unter dem Begriff „Spleen“ zusammenfassen kann. Sie analysierte eigenartige Verhaltensmuster, trug Forschungserkenntnisse zusammen und veröffentlichte ihr Wissen in dem Buch. „Ich und mein Spleen.“ Darin bekräftigt sie: Kleine Zwänge müssen uns zunächst mal keine Sorgen machen. Im Gegenteil:


O-TON 2 JIMENEZ:


„Die helfen uns nämlich, unsere Ängste auszuhalten, sie helfen uns dabei, uns ein Gefühl von Kontrolle zu geben, vor allem wenn wir uns überfordert fühlen oder ohnmächtig. Und sie machen die unüberschaubare, unvorhersehbare Welt ein bisschen überschaubarer. Das ist zwar ne Illusion, aber unser Gehirn hat den Eindruck, dass alles ein bisschen sortierter und planbarer und vorhersehbarer funktioniert. Das heißt: Spleens und Marotten beruhigen und trösten uns und nehmen uns Angst und Unsicherheit. 


Musik 2: Goldberg-Variationen (Bach) – 35 Sek


SPRECHER:


Woher diese eigenartigen Bewältigungsstrategien kommen, das ist nicht so leicht zu entschlüsseln. Zunächst einmal zur Wortbedeutung: Der Begriff Spleen kommt aus dem Englischen und heißt übersetzt: Milz - ein Organ, das in der Bauchhöhle in der Nähe unseres Magens liegt. Die Milz galt bis ins 19. Jahrhundert als verantwortlich für schwermütige Gefühlslagen, für hypochondrische Verstimmungen und alles, was an komischen Marotten so vorlag. Heute versteht man unter einem Spleen ein harmloses zwanghaftes Verhalten und verortet das vor allem im Gehirn.


O-TON 3 JIMENEZ:


„Das ist ja unsere große Problemlösemaschine - jetzt mal aus evolutionärer Sicht gesprochen - und das Gehirn weiß um bestimmte Phänomene, die uns helfen, die wir manchmal gar nicht wissen. Einfaches Beispiel: Putzen beruhigt enorm.“


SPRECHER:


Das bestätigt eine Studie von der Universität Connecticut aus dem Jahr 2015. In Zeiten hohen Stresses greifen Menschen zu sich wiederholenden Verhaltensweisen wie Putzen, weil sie dadurch ein Gefühl der Kontrolle und Ruhe haben. 


O-TON 4 JIMENEZ:


Das heißt, unser Gehirn weiß, was uns hilft, wenn wir überfordert sind oder ängstlich und nutzt diese verschiedenen Wege je nach Persönlichkeit. Mal ist es Putzen, mal ist es irgendwie was essen. Also über Spleens, um uns zu helfen und uns zu unterstützen.


SPRECHER:


Umgangssprachlich sprechen wir auch gerne von Ticks, und meinen damit schrullige, leicht zwanghafte Attitüden, die wir als unbedenklich einstufen. 


In der Medizin hingegen steht der Tick für ein neuro-psychiatrisches Krankheitsbild, so der Psychiater und Psychotherapeut Michael Kellner. Er leitet die Spezialambulanz Angst und Zwang an der Münchner Klinik rechts der Isar.


O-TON 5 KELLNER


„Aus medizinischer Sicht ist ein Tick eine motorische oder verbale kurzfristige Entäußerung, zum Beispiel, dass man kurz ne Grimasse macht oder das Augenlid zuckt etcetera. Es gibt aber auch komplexere Ticks wie zum Beispiel Grunzen oder Schimpfwörter rausschreien und die Verknüpfung zur Zwangsstörung: es gibt eine seltene Erkrankung, das „Gilles de la Tourette's syndrome“, bei dem neben Ticks auch sehr häufig Zwangsphänomene zustande kommen. Mutmaßlich Funktionsstörungen an sogenannten Basalganglien, ein tieferes Hirngebiet, wo auch Koordination von Bewegungen mitvermittelt wird und das wäre ne Brücke zwischen Tick und Zwangsstörung.“


SPRECHER:


Zwangsstörungen sind von unproblematischen Zwängen klar zu unterscheiden. Was aber bedeutet unproblematisch? 


O-TON 6 KELLNER:


„Es gibt keine klare Trennung zwischen Zwangsphänomenen und wirklicher Zwangsstörung, das ist ein Kontinuum. D.h. man muss da mindestens eine Stunde jeden Tag mit Zwangsphänomenen sich beschäftigen. Und vor allem eine Erkrankung wird bei uns erst eine Erkrankung, wenn das psychosoziale Leistungsvermögen in verschiedenen Rollen bis in den Beruf, Partnerschaft, Familie durch den Zwang beeinträchtigt wird.“


Musik 3: Twelve Month  – 50 Sek


SPRECHER:


Herd und Haustür sind die wohl meist kontrollierten Gegenstände auf Erden. Fast jeder kennt das Innehalten und das Zweifeln. Manch einer kehrt noch einmal um. Zwangsneurotiker aber müssen mehrfach kontrollieren und glauben trotzdem noch nicht, dass der Herd aus ist und die Tür verschlossen. Dann sind sie gefangen in Gedanken- und Handlungsschleifen. Diese Art der Erkrankung betrifft circa zwei Prozent der Bevölkerung. Die Wahrscheinlichkeit, eine Zwangsstörung zu bekommen steigt, wenn in der eigenen Kernfamilie schon eine solche Erkrankung vorliegt. Wenn beispielsweise Vater oder Mutter betroffen sind, ist das Risiko für d

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