Kapitel 16 - Jetlag
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Li CiWen, Deutschland, Februar 2004
Das Treffen mit John Chow verlief so, wie sie es geplant hatten. Keine unangenehmen Überraschungen, keine Nachverhandlungen. Alles so, wie es sein sollte. John Chow erwies sich als eine Ausnahmeerscheinung. Überdurchschnittlich intelligent, sorgten sein tapsiges Äußeres und seine hohe freundliche Stimme dafür, dass man ihn, ohne es verhindern zu können, sträflich unterschätzte. Ein gemütlicher Panda. Dass John Chow bis fast in die höchste Triadenebene aufgestiegen war, hätte selbst ein gewiefter Ermittler wie Li CiWen nicht glauben mögen. Und doch war es so. Auf der anderen Seite war er eben doch nicht der brutale Mafiaboss, den man in dieser Stellung erwarten müsste. John Chow war ein Menschenfreund, den das Schicksal in diese Position gespült hatte. Lim und Li wussten nach wenigen Worten, die sie mit dem Paar gewechselt hatten, dass Chow und seine Freundin ihr gesamtes Wissen ausbreiten würden. Sie hatten endgültig mit ihrem bisherigen Leben abgeschlossen und waren grimmig entschlossen, die dargebotene Chance zu nutzen. Auch auf die Gefahr hin, dass dies das Letzte war, was sie taten. Li CiWen spürte eine Verantwortung den beiden gegenüber. Wie erwartet hatte das Paar alle nötigen Vorbereitungen für die Flucht getroffen. Keine Zeit dafür war günstiger als um das Neujahrsfest herum. Lim und Li hatten ihre Hausaufgaben gemacht. Zwei Tage später konnte die Flucht über die Bühne gehen. Ein einfacher Grenzübertritt mit dem Auto erschien ihnen zu riskant. Die Drei Harmonien hatten ausgezeichnete Sniper, was sie auf diesem Weg schon öfter unter Beweis gestellt hatten. Diese Leute benötigten keine Vorwarnzeit. Ein Anruf und sie legten aus ihrem Fenster an. Triadische Grenzsicherung nannte Lim Tok das. Angeblich waren alle Straßen nach draußen auf diese Weise gesichert. Noch stand John Chow nicht auf der Abschussliste, aber niemand mochte warten, bis es so weit war.
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<figcaption>Macau Skyline</figcaption></figure>Das Paar fuhr am übernächsten Tag zur Chung-Kong-Road, um, wie öfter in den letzten Wochen, einen Trip nach Macau zu machen. Ein bisschen spielen. Ein Sky-Shuttle würde sie nach Macau fliegen. Doch sie stiegen nicht in Macao aus. Zwei Flugbegleiter – ein großer Mann und eine Frau, verließen in der Kleidung der beiden den Helikopter. Dann wurde ein gefakter Krankentransport zugeladen. Der Helikopter hob wieder ab und brachte Chow und Freundin zum Zuhai-Airport-Hospital. Vor den Blicken Dritter geschützt, verschwanden sie als Krankenpersonal verkleidet im Hospital und begaben sich in die Hände der chinesischen Sicherheitskräfte. Wo es dann mit ihnen hinging, konnte Li CiWen nicht sagen. Er hatte in Xiamen auch schon Triaden-Überläufer aus Fujian versteckt. Die nächsten Tage und Wochen würden für die beiden nicht einfach werden. Tagelange Verhöre mit ewig gleichen oder nur leicht variierten Fragen würden auf sie einprasseln. Jedes einzelne Wort würde von einem Expertenstab auf Plausibilität geprüft werden und wenn nur die kleinste Ungereimtheit auftauchte, fing der ganze Zirkus von vorne an. Es würde noch gründlicher, noch tiefer gebohrt. Sie waren zwar offiziell keine Gefangenen, theoretisch gab es sie nicht einmal auf chinesischem Boden, aber praktisch waren sie es dennoch. Sie würden sich beide über die Zeit kaum sehen. Und wenn, würde jede Kommunikation zwischen Ihnen überwacht. Li und Lim hatten ihnen die Prozedur in dem Abbruchhaus genau geschildert und hoffentlich die Illusion genommen, dass sie sich mit Zurückhaltungen oder Lügen durchmogeln könnten. Konnte man nicht. Hatten sie es endlich überstanden, würden sich plastische Chirurgen der beiden annehmen. Wenn die Wunden abgeheilt waren, bekamen sie neue Papiere mit aktuellen Bildern. Je nachdem, wo sie ein neues Leben anfangen wollten, ob in Australien, den USA oder Großbritannien, die Pässe wären echt und ihre Legenden absolut wasserdicht. An ihnen hatten Spezialisten mehrere Wochen gearbeitet. Inklusive der Verlegung von Spuren in Melderegistern, in Schulen, bei Ärzten und wo Menschen im Laufe ihres Lebens Spuren zu hinterlassen pflegen. Ja, sie würden in ihrer neuen Umgebung sogar Besuch von langjährigen Freunden bekommen, die sie noch nie gesehen hatten. Und auf dem Grillfest anlässlich ihres Einzugs ins neue Haus, würden sie mit diesen Freunden Geschichten vor den neuen Nachbarn zum Besten geben, die nie stattgefunden hatten. An alles war gedacht. Und doch gab es ein Restrisiko. Von nun an waren sie ihr restliches Leben auf der Flucht. Falls sie Verwandte oder Freunde hatten, würden sie die niemals mehr wiedersehen. Es war ein hoher Preis. John Chow hätte die Treppchen in den Triaden weiter nach oben klettern, und sich irgendwann auf einer der Inseln auf sein Altenteil zurückziehen können. Er hätte im Geld schwimmen und sich jeden Wunsch erfüllen können und hätte nur mit dem Finger schnippen müssen, um etwas zu regeln. Doch er und seine Gefährtin hatten eine Entscheidung getroffen. Li Ciwen wünschte ihnen in Gedanken viel Glück.
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</figure>Li CiWens Arbeit in Hong Kong war getan. Erkenntnisse, die ihren Fall betrafen, flossen dank John Chow direkt nach Xiamen. Er konnte in der Stadt nicht mehr viel ausrichten. Lim Tok hatte beschlossen, für eine Weile mit Pipi zu verschwinden. Sie waren ja mobil. Er glaubte zwar nicht, dass ihnen direkt eine Gefahr drohte. Mal von der Bildfläche zu verschwinden, war für einen erfolgreichen Privatdetektiv nie schlecht. Umso mehr würde seine Wiederauferstehung gefeiert. Ihre erste Station sollte Thailand sein, dann Singapur und dann vielleicht Australien. Sie würden sich treiben lassen. Mal sehen, was die Zeit brachte.
Pipi, Lim und Li CiWen saßen an Deck. Der Abend war lau, aber der Wind hatte zugelegt. Die Dünung ließ das Boot leicht dümpeln. Auf dem Tisch stand eine große Schüssel frisch zubereiteter Krabben. Li CiWen tunkte ein Krabbenbein in die Soße und knackte es krachend mit seinen Zähnen. Genüsslich zutschelte er das weiße Fleisch heraus. Auf dem Tisch stapelten sich die Überreste. Dazu gesellten sich etliche leere Bierflaschen. Die schwankende Laterne über dem Tisch tauchte das Inferno in unruhiges Licht.
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<figcaption>Ruins of St. Paul’s, façade originally of The Cathedral of St. Paul built in 1602.</figcaption></figure>Lim Tok fing an zu sprechen: „Wir wissen jetzt eine ganze Menge mehr, als im Jahr des Schafes. Die Thomas‘ aus Kent, haben den Boshanlu identifiziert und die Drei Harmonien informiert. Es ist ihnen gelungen, den Hintergrund des Stückes in der Zeit zurückzuverfolgen. Zu unserem Glück haben sie diese Information nicht sofort übermittelt. Für die Triaden sind die beiden abgetaucht. Vermutlich sind die nicht glücklich darüber. Einer ihrer Soldaten hat die Witterung der Thomas‘ aufgenommen und ist ihnen gefolgt. Nach dessen Auskunft sind sie jetzt alle drei in Deutschland. Wir wissen nicht, ob die Thomas‘ ihr eigenes Ding durchziehen wollten oder ob sie nur das Inkognito wahrten. Denn wir wissen, dass auch Dienste der Briten an denen dran sind. Es muss nicht unbedingt ein unfreundlicher Akt der Thomas’ gegenüber den Triaden gewesen sein. Ich kann mir das kaum vorstellen. Die Thomas‘ hätten viel zu verlieren und nur wenig zu gewinnen. Wie auch immer, sie sind unseren Leuten deutlich nähergekommen. Ob sie die richtigen Schlüsse ziehen werden, wissen wir nicht. Die Weichen werden jetzt in Deutschland gestellt. Ich hoffe, du bekommst das Baby geschaukelt.“
„Ja“, sagte Li CiWen, „ich bin gerne da drüben. Allerdings lieber, um Urlaub zu machen. Mein Flieger geht morgen nach Frankfurt. Wenn ich mich recht erinnere, dann ist es um die Zeit richtig kalt in Deutschland. Ich weiß nicht, ob mir das gefällt. Lasst von euch hören, wenn ihr euer neues Ziel erreicht habt.“
Sie stießen an und machten sich wieder über die Krabben her.
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<figcaption>Macau City Centre</figcaption></figure>Frankfurt empfing ihn, wie erwartet. Das Wetter war deutsch. Grau, diesig und unanständig kalt. Er hatte keine entsprechende Kleidung dabei. Vor seiner Abreise hatte er seiner Kontaktperson in Deutschland übermittelt, dass er wie ein Sommereisender ausgestattet war. Neben seiner Uniform, weißes Hemd, helles Jackett, schwarze Hose und schwarze Halbschuhe hatte er sich einen Trenchcoat gewünscht. Die Idee entsprang einer plötzlichen und, wie er zugeben musste, albernen Anwandlung. Die passende Driving Cap hatte im Lim Tok gegeben. Mütze und Trenchcoat erschienen ihm erst etwas exzentrisch, aber nun war er froh über die Eingebung. Jeder dritte Mann lief auf dem Flughafen mit einem Trenchcoat umher. Die Hutform streute zwar, doch der Mantel war eine Konstante. Genau wie die schwarzen Schuhe und die passende Hose. Dass er nie eine Krawatte trug, riss ihn etwas raus. Deutschland war schon merkwürdig, dachte er. Dank des First Class Tickets konnte er die Maschine schnell verlassen und brachte die Pass- und Zollkontrolle vor den meisten seiner Mitflieger hinter sich. Nach nicht mal einer halben Stunde hatte er alles erledigt, stand am Ausgang und hielt nach seiner Abholung Ausschau. Es waren nicht nur viele Chinesen an Bord der Hong Konger Maschine, auch die, die warteten, waren



