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Revolution des Chorgesangs: Clytus Gottwald zum 100. Geburtstag

Revolution des Chorgesangs: Clytus Gottwald zum 100. Geburtstag

Update: 2025-11-20
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Erschwerte Anfänge durch Krieg


Clytus Gottwald (1925–2023) steht für die Revolution der Chormusik im 20. Jahrhundert. Er war ein Visionär, der der Chorszene ein völlig neues Repertoire geschenkt hat.
Der Weg dahin war allerdings alles andere als vorgezeichnet. 1925 wird Gottwald in Schlesien geboren und will eigentlich Geiger werden. Doch der Zweite Weltkrieg beendet diesen Plan.
Nach Flucht, Einberufung, Gefangenschaft in Frankreich und zwei Jahren Zwangsarbeit auf amerikanischen Zuckerrohrfeldern steht er 1946 vor dem Nichts: Die Eltern auf der Flucht verschollen, die Heimat verloren, die Geige weg. Der 20-Jährige Musiker strandet in einem Gefangenenlager im bayrischen Bad Aibling. 

Ein Neubeginn beim Rundfunkchor Stuttgart


Zwei amerikanische Offiziere warben im Gefangenenlager für das neu gegründete Radio Stuttgart. Gottwald wird einer der ersten Sänger im neu gegründeten Rundfunkchor des damaligen Süddeutschen Rundfunks. Beim SDR gastierte der französische Dirigent Marcel Couraud.
Für Clytus Gottwald wird das zur Offenbarung. Er kennt vor allem die neobarocke Tradition im Nachkriegsdeutschland und hört jetzt zum ersten Mal zeitgenössische Chormusik in Perfektion: „Dieses Ensemble sang hier von Olivier Messiaen die Cinq Rechants und das war für mich wirklich ein Damaskus-Erlebnis.“

Von der Wissenschaft zur Praxis


Clytus Gottwald wird Assistent von Marcel Couraud in Paris. Neben seiner Tätigkeit als Sänger und Kantor studierte Gottwald Musikwissenschaft, Theologie und Soziologie. Seine Promotion 1961 markierte den Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn.
Über Jahrzehnte katalogisierte er mittelalterliche Musikhandschriften und entdeckte dabei, dass die Polyphonie des 15. Jahrhunderts radikaler war, als man bis dahin dachte. Für Gottwald ist das kein trockener Tonsatz, sondern ein völlig neues Klangerlebnis, ganz ähnlich der Moderne.

Alte Musik trifft Avantgarde


Genau diese beiden Welten führt Gottwald in der Praxis zusammen: das solistische Klangerlebnis der Alten Musik und die Klangfarben der Avantgarde. 1960 gründete er die Schola Cantorum Stuttgart, ein Ensemble aus 16 bis 18 professionellen Solisten.
Gottwalds Mission: das Unmögliche wagen. Komponisten wie Kagel oder Boulez schreiben für die Schola. Den größten Meilenstein aber initiiert Gottwald selbst, als er György Ligeti trifft und ihn für die Komposition von „Lux Aeterna“ anregt.
Damit ist der Beweis erbracht: Die menschliche Stimme kann wie ein Orchester behandelt werden, kann dichte Klangflächen erzeugen. Gottwald sucht nach einem Weg, diese instrumentale Dichte allein mit Stimmen zu erzeugen, um die verborgenen Linien zwischen den Epochen hörbar zu machen.

Transkriptionen für A-cappella-Chöre


Inspiriert von einer Orchesterprobe mit Pierre Boulez begann Gottwald, Orchesterlieder von Komponisten wie Gustav Mahler und Richard Wagner für A-cappella-Chöre zu bearbeiten.
Dabei nutzte er die Klangflächen-Techniken der Avantgarde und übertrug die orchestrale Dichte auf Stimmen. Werke wie Mahlers „Im Abendrot“ klingen in seinen Bearbeitungen wie ein Vokalorchester.

Ein Vermächtnis für die Chormusik


Ein Forscher, Redakteur und Visionär, der die Chormusik gleich doppelt revolutioniert hat: Zuerst gab er der Avantgarde eine Stimme. Und dann schenkte er der Romantik durch seine Transkriptionen ein völlig neues Repertoire.
Bis ins hohe Alter blieb er ein unermüdlicher Arbeiter und kritischer Geist. Clytus Gottwald starb 2023 mit 97 Jahren. Seine Vision aber lebt weiter, in jedem Chor, der heute wagt, wie ein Orchester zu klingen.
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