Warum Verzicht so schwer fällt - Und warum weniger mehr sein kann
Description
Verzich klingt nach Entsagung und Verlust. Wem die Überzeugung fehlt, dass sich Nein-Sagen lohnen kann, tut sich schwer. Deshalb finden Aufrufe zu nachhaltigeren, sparsamen Lebensstilen so wenig Resonanz. Von Justina Schreiber
Credits
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprach: Katja Amberger
Technik: Christiane Gerhäuser-Kamp
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Dr. Dr. Ingo Balderjahn, Betriebswirtschaftswissenschaftler + Konsumforscher,
Angela Mauss-Hanke, Psychoanalytikerin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Kann ich ohne Schlaf überleben? Wie überwinde ich meine Höhenangst? Und wie viel Nazi steckt in mir? Spannende Fragen, aber wer hat schon Lust, all das selbst auszuprobieren? – Kein Problem, denn Reporterin Daniela Schmidt stellt sich alle zwei Wochen einer neuen Herausforderung und nimmt euch mit, wenn Wissenschaft ihr Leben zum Abenteuer macht!
Literatur:
Ingo Balderjahn: Lust auf Verzicht, gekom Verlag 2024
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Nur eine Mahlzeit am Tag, und die darf kein Fleisch, keine Milchprodukte und keine Eier enthalten. Ganz schön karg! Doch die Mönche des Mittelalters kannten ihre Tricks, um die strengen Fastengebote vor Ostern zu umgehen. Sie ließen sich Fische, Biber, Truthähne und anderes Geflügel umso reichlicher schmecken. Mit der Begründung: laut Schöpfungsbericht hätte Gott die Fische und Vögel nicht am selben Tag erschaffen wie „die Tiere auf dem Lande“, die klassischen Bratenlieferanten Schwein oder Rind, die ja wohl mit dem Begriff „Fleisch“ gemeint waren. Man kann die listigen Klosterbrüder schon verstehen. Verzichten „zu müssen“ fällt dem Menschen einfach schwer, sagt der Konsumforscher Ingo Balderjahn.
O-TON 01: (Balderjahn)
„Der Mensch verzichtet nicht gerne. Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften von 2002, das ist der Daniel Kahneman, der hat das sehr gut herausgearbeitet. Seine Theorie heißt „prospect Theory“, dass das Wesen des Menschen schon ist, dass der Mensch eine Verlustaversion hat. Das stellt sich in Studien sehr stark da. Also Verluste sollen vermieden werden, auf die Zukunft hingeschoben werden, Verluste schmerzen und führen zu emotionaler Betroffenheit.“
MUSIK Opposing forces M00537747 101 0.47
SPRECHERIN:
Abzuspecken und etwas Wohlstand aufzugeben, wird logischerweise als Einschränkung empfunden. Man stellt sein Konsumverhalten deshalb auch nicht ständig in Frage. Schließlich trinken andere Leute ebenfalls Alkohol, obwohl er als ungesund gilt, oder machen Kreuzfahrten, obwohl man sie aus Umweltgründen vielleicht besser sein lassen sollte. So tickt der Mensch. Er vergleicht und hat insgeheim Angst, meint Ingo Balderjahn. Angst, etwas her- oder aufgeben zu müssen. Zu kurz zu kommen, drauf zu zahlen.
O-TON 02: (Balderjahn)
„Man möchte auf Deubel-komm-heraus den Wohlstand und den jetzigen Status, oftmals sind ja auch andere Dinge damit verbunden, Macht und Ansehen. Oder das Schlimmste ist ja, was Menschen sich vorstellen können, sozial abzusteigen.
O-TON 02: (Balderjahn)
Sie müssen, was weiß ich, ihren Ferrari da vor der Tür wieder verkaufen oder so was, das geht ganz emotional an die Substanz.“
SPRECHERIN:
Auch wenn es „nur“ um materielle Dinge geht. Aber was heißt „nur“? Für die mittelalterlichen Mönche waren die strengen Fastengebote oft eine weitere Zumutung im harten Kampf ums Überleben, wenn Ernten ausfielen oder Krieg herrschte. Die Angst vor dem leeren Teller, die Angst vor dem Nichts hat schlicht biologische Ursachen. Nur so lässt sich der fast schon reflexhafte Widerstand erklären, etwa wenn einem von der Politik „jetzt auch noch“ die freie Fahrt auf Autobahnen genommen werden soll. Bloß nicht darben, bloß nicht verzichten müssen. Der Kampf gegen aufgezwungene Askese geht bereits mit der Geburt los, sagt die Psychoanalytikerin Angela (Anschela) Mauss-Hanke:
MUSIK Unfolding feelings Z9356382 032 0.32
O-TON 03: (Mauss-Hanke)
„Im Mutterleib geht ja alles von selber. Es gibt auch noch keine Bedürfnisse nach irgendetwas, weil das Atmen, das Essen ist einfach ein Ineinander, was von selber funktioniert. So, und dann flutschen wir da durch und kommen auf die Welt. Und warum finden wir es normal, dass jedes Baby schreit, wenn es auf die Welt kommt? Weil: es ist zum Schreien. Nix ist mehr von selber.
MUSIK Frames of motion Z93582 002 0.37
O-TON 03: (Mauss-Hanke)
Ne, es muss plötzlich aktiv atmen. Das Essen ist nicht immer von selber da, und von Anfang an ist eigentlich das Leben eine Übung im Verzicht darauf, dass Bedürfnisse sofort und unmittelbar befriedigt werden. Und das ist ein ganz langwieriger Lernprozess.“
SPRECHERIN:
Erwachsen zu werden, bedeutet aus psychoanalytischer Sicht: das innere Lustprinzip, das alle Wünsche erfüllt haben will, und zwar flott, mit dem äußeren Realitätsprinzip in Einklang zu bringen. Denn die totale Bedürfnisbefriedigung ist auf Erden leider unmöglich. Man kann selbstverständlich trotzdem Größenfantasien und Anspruchsdenken pflegen - nach dem Motto: „Es muss für mich Kaffee aus dem Vollautomaten sein. Sonst ist die Laune im Eimer.“ Aber wir kommen als mehr oder weniger soziale Wesen nicht umhin, laufend ureigene Triebe, Wünsche und Ziele aufzuschieben, umzulenken oder zu ignorieren. Sonst gäbe es nur noch Hauen und Stechen und das Wehklagen wäre groß. Je nach Erziehung, Persönlichkeit und Einflüssen gelingt die notwendige Selbstregulation mal besser, mal schlechter.
MUSIK Unfolding feelings Z9356382 032 0.18
O-TON 04: (Mauss-Hanke)
„Gehen wir noch mal ganz zurück. Das Baby hat Hunger und schreit, das weiß noch nicht, ich werde nicht sterben, wenn ich jetzt eine Minute warte oder 5 Minuten. Das muss es wirklich durch Erfahrung lernen und je befriedigender oder je unproblematischer, unkomplizierter die Erfahrungen sind, desto leichter lässt sich das auch lernen. Je mehr ich mich darauf verlassen kann, naja, ich muss ein bisschen Geduld haben. Und dann kommt das schon. Dann kann ich auch besser Geduld haben. Wenn es aber unsicher ist, wenn ich nicht weiß: oh, kriege ich jetzt was, kriege ich nix. Wie lange muss ich warten? In so einer unsicheren Bindung, dann wird es auch schwer zu verzichten.“ (oben)
MUSIK Sunnylands Z8034859 109 0.33
SPRECHERIN:
Der amerikanische Psychologe Walter Mischel (Betonung auf der zweiten Silbe) führte von 1968 bis 74 an der Stanford University ein Experiment durch, das unter dem Namen Marshmallow-Test berühmt und seither vielfach (auch mit Tieren) wiederholt wurde. Vierjährige Kinder wurden damals vor die Wahl gestellt: sie könnten sofort ein Marshmallow essen. Wenn sie es jedoch schafften, eine Weile zu warten, bekämen sie ein weiteres süßes Schaumstück dazu.
O-TON 05: The Marshmallow Test (youtube.com) bei 0:26
Kurz frei, dann drunter:
MUSIK Sunnylands Z8034859 109 0.44
SPRECHERIN:
Videoaufnahmen, die auch im Internet zu finden sind, zeigen, wie die Jungen und Mädchen mit sich ringen und zum Teil den Kampf um ihre Selbstbeherrschung verlieren. Über Jahre hinweg überprüfte Walter Mischel, wie sich die Kinder, die Standhaften und die Verführbaren, jeweils kognitiv und sozial weiterentwickelten. Sein Ergebnis: Kinder, die warten konnten beziehungsweise darauf vertrauten, dass sie die versprochene Belohnung erhalten werden, zeigten später auch beim Lernen oder in anderen Stresssituation mehr Frustrationstoleranz als die, die fast schon reflexhaft nach dem Marshmallow griffen. Das wirkt einleuchtend. Doch Wünsche aufzuschieben ist letztlich leichter als sie komplett aufzugeben. Was zum Beispiel beim Thema Umweltschutz eigentlich viel öfter angezeigt wäre, meint der Konsumforscher Ingo Balderjahn. Etwa ein konsequentes Nein zum neuesten Elektronikteil. Denn:
O-TON 06: (Balderjahn)
„Ob ich mir jetzt nun ein Smartphone kaufe oder in einer Woche, ist dem Klima höchstwahrscheinlich egal.“
SPRECHERIN:
Aber wirklich ganz darauf verzichten ohne irgendeine Belohnung? Schwierig. Religionen vertrösten ihre Gläubigen ja gern auf ein Paradies im Jenseits, in das sie eintreten werden, wenn sie sich an alle Regeln halten. Aber nehmen wir einmal an, jemand entscheidet sich, aus Umweltgründen auf den Flug nach Thailand oder die Autofahrt in die Provence zu verzichten, und reist stattdessen mit der Bahn ans andere Ende Deutschlands. In überfüllten, verspäteten Zügen unterwegs zu sein, ist kein Vergnügen. Wie sieht hier – bitte schön - die Gratifikation aus?
O-TON 07: (Balderjahn)
„Das Gute, was man tun kann, um den Klimawandel zu verhindern, kommt ja auch später, in zehn, 20, 30 Jahren.“
SPRECHERIN:
Aber wer weiß das schon so genau! Prognosen sind keine Versprechen.
MUSIK Jolly Stroll Z8036179 120 0.44
SPRECHERIN:
Der Begriff des Verzichts stammt aus der mittelalterlichen Rechtssprache. Wer einen Rechtsa