Trauerkultur - Der Tod und die Digitalisierung
Description
Die Digitalisierung transformiert unser Leben - und unser Ableben. Mit unserem Tod hinterlassen wir digitale Spuren, Daten und Vermächtnisse. Zudem ist es möglich geworden, an digitalen Orten zu trauern und den Verstorbenen zu gedenken. Von Konstantin Schönfelder
Credits
Autor dieser Folge: Konstantin Schönfelder
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprach: Katja Amberger
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Lilli Berger, Bestatterin und „Death Care Gründerin“ von „VYVYT“
Matthias Meitzler, Thanatologe von der Universität Tübingen;
Lorenz Widmaier, Soziologe mit Doktorarbeit zu digitalem Erbe und Trauer
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Wir müssen alle sterben. Doch wie wir sterben, unterliegt dem Wandel, so wie das Leben auch, das sich permanent verändert. „Tritt also der Tod den Menschen an:”, heißt es in einem klassischen Text der Philosophie, in Platons Phaidon, „so stirbt, wie es scheint, das Sterbliche an ihm, / das Unsterbliche aber und Unvergängliche zieht wohlbehalten ab, / dem Tode aus dem Wege.” Fragen wir uns also, was das Sterbliche ist, und was das Unsterbliche. Und fragen wir uns, ob es Wege gibt, die Grenze zwischen beidem zu verschieben. Ob technische Fortschritte passieren, die uns vielleicht nicht unsterblich machen. Aber doch, immerhin, als Tote ganz anders anwesend unter den Lebenden als bisher. Fangen wir dafür am Anfang an, mit unserem Ende – dem Tod.
O1 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung LILLI BERGER:
Der Moment, in dem jemand stirbt, das ist immer plötzlich, auch wenn man darauf vorbereitet ist, auch wenn eine Krankheit davor war. Da steht man erstmal unter Schock. Und der Trauerprozess beginnt dann erst.
SPRECHERIN
Sagt Lilli Berger, Bestatterin. Mit 13 ist ihr bei einem Berufsinformationstag in der Schule dieser doch nicht sehr gewöhnliche Beruf vorgeschlagen worden – und als sie erwachsen war, hat sie ihn tatsächlich ergriffen.
O2 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung LILLI BERGER:
Das Familiensystem bricht in dem Moment plötzlich auf. Jeder hat ja eine Rolle in der Familie. Und wenn der Mensch dann wegfällt in der Rolle, wird das erst mal neu justiert und neu orientiert und neu zusammengesetzt und in dem Moment ist der Bestatter oder die Bestatterin da und versucht, alle Bedürfnisse miteinander zu verweben.
SPRECHERIN:
Sie findet, dass Deutschland eine lange und gute Tradition der Bestattungskultur auszeichnet.
O3 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung LILLI BERGER:
Wir haben eine ganz lebendige Erinnerungskultur. Wir schätzen alte Häuser, wir reden viel auch über den Zweiten Weltkrieg zum Beispiel. Als Gesellschaft sind wir sehr mit der Erinnerungskultur verbunden. Und das sehe ich auch in unserer Bestattungskultur. Es sind Familienbetriebe, die die Bestattungen durchführen. Wir haben keinen großen Marktanteil an Konzernen, an Bestattungskonzernen zum Beispiel, sondern wir haben wirklich kleine Familienbetriebe, die Familien teilweise auch schon über Jahre, über Generationen hinweg begleiten.
SPRECHERIN:
Doch die Bestattungsbranche sei durch ihre große Tradition relativ träge, Veränderungen seien immer langsam gekommen. Aber in den letzten Jahren hat sich vieles in der Welt verändert. Auch in ihrer Branche, und im Sprechen über den Tod.
O4 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung LILLI BERGER:
Ich habe vor zehn Jahren die Ausbildung gemacht und in diesen zehn Jahren gab es eine ganz, ganz tolle Entwicklung, ganz viele neue Initiativen, viel mehr offenes Sprechen darüber. In den Medien wird das Thema Tod und Trauer viel öfter aufgegriffen.
SPRECHERIN:
Ein Grund dafür: Die Digitalisierung unserer Lebenswelt – und der des Sterbens. In diesem Bereich, den Lilli Berger auch "death care" nennt – die nun eben auch digitale Arbeit mit dem Tod und der Trauer – ist sie eines der prägendsten Gesichter des Wandels.
MUSIK: Coldplay, 42 [Those, who are dead, are not dead, they are living in my head …] 0’27
SPRECHERIN:
Mit der Digitalisierung ist zunächst erst mal vieles, was früher physisch hinterlassen wurde, digital geworden. Einer der ersten, die das empirisch untersucht haben, ist Lorenz Widmaier – was ist ein digitales Erbe und wie konkret gehen die Hinterbliebenen mit diesem um? Erst seit kurzem sei das wirklich wichtig geworden, weil digitale Nachlässe natürlich erst in den letzten Jahren so richtig anzufallen beginnen. Zum digitalen Nachlass gehören alle Spuren, die wir zu Lebzeiten digital hinterlassen: Verträge, Passwörter, Zugänge zu bestimmten Accounts, aber auch Suchverläufe oder Aktivitäten auf Webseiten.
O5 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung - LORENZ WIDMAIER:
Zum Beispiel das, was wir auf Facebook oder in anderen sozialen Medien machen. Ganz wichtig sind dann auch Messenger, so was wie WhatsApp, wo zum Beispiel eine Beziehungsgeschichte oder die Geschichte mit seinem Kind sehr detailliert dokumentiert ist, den Alltag mit Sprachnachrichten, Fotos, Videos und sowas, was es eigentlich früher nie gab in der Detailliertheit. Zum digitalen Nachlass gehören nicht nur die Daten des Verstorbenen, sondern auch meine eigenen Daten, die ich über den Verstorbenen habe. Also gerade so was wie WhatsApp Verläufe.
Musik: Future questions 0‘25
SPRECHERIN:
Mit Hinterbliebenen hat er sich mehr als 30 dieser „digitalen Nachlässe“ angeschaut, ausgewertet und gefragt, was sie mit diesen Daten machen und was sie ihnen bedeuten. Widmaier erinnert sich an eine Mutter, die ihre Tochter verloren hat und über deren digitales Erbe zu Antworten gefunden hat.
O6 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung - LORENZ WIDMAIER:
Die hat dann Screenshots gefunden, die ihre Tochter von der Zugverbindung gemacht hat, die sie für ihren Suizid verwendet hat. Und diese Screenshots waren einige Wochen davor gemacht. Das heißt, sie wusste dann, „Okay, den Gedanken gab es schon einige Wochen. Das war keine Affekthandlung, die plötzlich passiert ist.“
SPRECHERIN:
Zu Lebzeiten ihrer Tochter war es für sie unbemerkt geblieben. Im Spiegel der zusammengesetzten Daten konnte sie posthum nachvollziehen, wie sich der Zustand ihrer Tochter verschlechtert hat.
O7 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung - LORENZ WIDMAIER:
Sie haben dann zum Beispiel Instagram-Posts angeschaut, wo es dann ganz klar Hinweise darauf gab: Man hat mehr nachdenkliche, traurige Selfies zum Beispiel gesehen. Aber auch die Hashtags haben dann auf bestimmte Musik verwiesen, wo es um Suizid ging. Auch die kurzen Kommentare haben sich so deuten lassen. Und so konnte man einfach ein bisschen Biographiearbeit machen und versuchen, so die Gefühlslage der Verstorbenen zu verstehen. Und das war dann auch so ein Weg. Wo man seinen Frieden in gewisser Weise damit finden konnte, dass man eine gewisse Erklärung hatte.
SPRECHERIN:
Nicht immer sind die Daten vorhanden oder zugänglich. Manchmal sind genau die Daten, die fehlen, das wichtigste Puzzlestück im Nachlass. So erging es einer Mutter, die ihre Tochter ebenfalls durch einen Suizid verloren hat.
O8 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung - LORENZ WIDMAIER:
Der Mutter war es dann wichtig, die privaten Nachrichten zu lesen, die ihre Tochter an Freunde usw. geschrieben hat.
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