„Hals über Kopf“
Description
<figcaption class="copyright" style="display: none;">© Frank Wiesen</figcaption></figure>Haben Sie auch schon mal versucht, am Kölner Hauptbahnhof in allerletzter Minute einen Zug zu erwischen? Mit dem schweren Koffer in der Hand stürzen Sie dem Eingang Domseite entgegen, die sperrige Schwingtür haut Sie fast aus den Latschen. Doch dann sind Sie drin im Bahnhof. Und denken schon, Sie hätten es gerad noch so eben geschafft. Aber mitnichten. Jetzt wird die Sache erst richtig spannend!
Denn Ihre Schuhe haben Ledersohlen. Und für die sind die Fliesen in der Kölner Bahnhofshalle so dermaßen glatt, dass Ihre Füße beim Laufen durchdrehen wie Sommerreifen im glitschigen Schnee. Und bis Gleis 9 ist es noch weit! Seeehr weit!
Sie kennen das ja alle aus Ihren Albträumen: Sie sind auf der Flucht. Sie müssen das rettende Haus erreichen. Ihr Atem geht stoßweise. Und die Wölfe und Löwen, die Hyänen und Finanzbeamten sind Ihnen dicht auf den Fersen.
Das Geheule und Zähnefletschen rückt immer näher. Sie geben alles. Doch je schneller Sie rennen, desto langsamer kommen Sie vorwärts. Und mit jeder Faser Ihres nassgeschwitzten Körpers spüren Sie: Jetzt haben Sie nur noch eine einzige, winzige Chance: Aufwachen! Und zwar möglichst schnell!
Doch dieses Mal ist das Erwachen böse. Denn Sie sind in der Kölner Bahnhofshalle. Und die spiegelglatten Fliesen sind echt! Willkommen in der glitschigen Wirklichkeit. Und je mehr Sie sich anstrengen, desto weniger Boden machen Sie gut.
Vielleicht tröstet es Sie ja in dieser misslichen Lage ein wenig, dass es nicht nur Ihnen so ergeht. Nein, die ganze Welt funktioniert ja inzwischen so: Je schneller wir fahren, desto eher stehn wir im Stau.
Urlaub? – Verbringen wir auf hektischen Flughäfen, in verspäteten Charterfliegern, Freizeit-animierten Hotelburgen und an überfüllten Stränden.
Familienleben? – Ist bei uns ein Boxenstop. Wie im Formel-1-Rennen: Mann, Frau und Kind rauschen alle kurz heran. Statt Reifenwechsel gibt‘s Tiefkühlpizza. Knappe Zustandsberichte in Stichworten. Dann rauschen alle wieder ab. Das Kind in den Ballett-Unterricht, die Frau in die Einkaufspassage und der Mann ins Fitness-Studio. Oder umgekehrt.
Ja: Wer schneller lebt, ist eher fertig. Das ist unser Motto. Wir sind doch heutzutage alle so atemlos hektisch unterwegs, dass kein Mensch mehr danach fragt, wo wir eigentlich alle hinwollen.
Wo wollen Sie denn eigentlich gerade hin? Ach ja, natürlich. Sie sind ja gerade auf den glatten Fliesen unterwegs zu Gleis 9. Im Kölner Hauptbahnhof.
Aber ich sag Ihnen was: Geben Sie‘s auf! Den Zug erwischen Sie sowieso nicht mehr. Denn die Rolltreppe zu Gleis 9 ist mit Sicherheit auch wieder kaputt. Also bleiben Sie doch einfach mal stehen, still und stumm. Und lassen Sie die anderen rennen.
Alle in Eile. Alle mit vollen Terminkalendern in vollen Zügen unterwegs von irgendwo nach nirgendwo. Alle, bis auf einen. Denn nur Sie stehen da, wie ein gelassener Fels in der Brandung, an dem dieses aufgewühlte Meer von Menschen vorbeiwogt.
Der Song zum Impuls
Autor: Martin Buchholz
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