Der GITA-Plan für Gaza: Technokratische Stabilisierung oder demütigende Entmündigung?
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Die jüngsten Vorschläge für eine Nachkriegsordnung im Gazastreifen – allen voran der von Tony Blair mitentwickelte „Gaza International Transitional Authority“ (GITA) Plan – sorgen für kontroverse Debatten. Offiziell präsentiert sich der Blair-Plan als technokratisches Stabilisierungskonzept für die vom Krieg verheerte Küstenenklave. Doch viele Palästinenser und Beobachter sehen darin den Versuch, die palästinensische Souveränität auszuhöhlen. Von Detlef Koch.
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Seit dem Kriegsausbruch im Oktober 2023 pochen die palästinensischen Vertreter unisono auf ihre grundlegenden Rechte: ein Ende von Besatzung und Blockade, echte Selbstbestimmung und die Verwirklichung eines unabhängigen Palästinenserstaates mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. Diese Forderungen stehen im scharfen Kontrast zu einem Übergangsregime wie GITA, das von außen gelenkt wird. Struktur und Machtlogik des Blair-Plans übergehen in kolonialer Arroganz die palästinensischen Friedensforderungen und der Plan ist bestenfalls als „technokratische“ Übergangslösung ohne Überzeugungskraft zu werten. Koloniale Denkfiguren dominieren elementare Prinzipien des Völkerrechts – insbesondere das Selbstbestimmungsrecht der Völker.
GITA: Struktur & Machtlogik eines Übergangsregimes
Der GITA-Plan sieht vor, dass der Wiederaufbau und die Verwaltung Gazas weitgehend von internationalen Akteuren kontrolliert werden – palästinensische Vertreter hätten nur nachgeordnete Rollen.
Der Plan schlägt einen internationalen Übergangsverwaltungsrat mit weitreichenden Befugnissen vor und würde zunächst von 7 bis 10 Mitgliedern außerhalb Gazas (in al-Arisch, Ägypten) geleitet und durch den UN-Sicherheitsrat autorisiert operieren. Lediglich ein Mitglied soll ein Palästinenser sein – „aus dem Geschäfts- oder Sicherheitssektor“ –, während die übrigen Plätze mit internationalen Persönlichkeiten mit politischer oder ökonomischer Erfahrung besetzt würden. Mit demütigender Machtasymmetrie wird hier regionale Legitimität vorgetäuscht.
Der geleakte Entwurf nennt prominente externe Kandidaten wie den ägyptischen Milliardär Naguib Sawiris, den US-Investor Marc Rowan und Aryeh Lightstone (einen früheren Trump-Berater) – alle außerhalb Gazas und wohl kaum die wünschenswerten Repräsentanten. Der mutmaßliche Kriegsverbrecher Tony Blair höchstselbst wird als möglicher Vorsitzender mit „übergreifender Autorität“ über zentrale politische, rechtliche und Sicherheitsfragen genannt. Er gestaltet dann die „politische und strategische Richtung“ der Gaza-Verwaltung, erlässt wichtige Gesetze und ernennt Personen in hohe Ämter. Auch in Verhandlungen mit externen Akteuren (Israel, Ägypten, USA) tritt er als höchster Vertreter Gazas auf – bemerkenswerterweise ohne Nennung der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in diesem diplomatischen Kontext. Ein unglaublicher Vorgang.
Ein solches Konstrukt käme einer faktischen Entmachtung der lokalen palästinensischen Bevölkerung gleich. Gesetzgebung und Exekutive in Gaza lägen für die Übergangszeit vollständig in den Händen des internationalen Rates: Laut Entwurf kann GITA bindende Entscheidungen erlassen, Gesetze verabschieden und Spitzenposten besetzen – womit ausländische Funktionäre Mehrheitsentscheidungen für Gaza treffen würden. Palästinenser wären auf ausführende Rollen beschränkt und somit Objekte fremder Herrschaft und Beschlüsse.
Der GITA-Vorstand würde seinerseits gegenüber dem UN-Sicherheitsrat berichten, nicht etwa an die Bevölkerung Gazas. Diese Konstruktion erinnert an historische Mandats- oder Treuhandverwaltungen und ist laut Berichten explizit an frühere UN-Übergangsmissionen (Osttimor, Kosovo u.a.) angelehnt. Allerdings fehlt im GITA-Plan ein zentrales Element solcher Missionen: ein klar terminiertes Ende mit Übergang zur vollen Souveränität. Zwar versprechen die Planer, GITA solle die Verwaltung „nach und nach“ an eine reformierte Palästinenserbehörde übergeben. Doch konkrete Fristen sucht man vergebens. Der Zeithorizont wird vage mit bis zu fünf Jahren angegeben – manche Diplomaten spekulieren sogar, GITA könnte schon nach zwei Jahren enden, während andere eine Verlängerung nicht ausschließen.
Gerade diese fehlende Verbindlichkeit wird von arabischen Staaten kritisch gesehen, bietet sie doch keinerlei Garantie, wann die Palästinenser ihre volle Regierungsgewalt tatsächlich zurückerlangen. Für den israelischen Premier Benjamin Netanjahu hingegen ist die Offenheit des Zeitplans ein Vorteil, da sie Israels Einfluss wahrt.
Strukturell läuft GITA darauf hinaus, Gaza institutionell von der Westbank abzukoppeln. Der Entwurf würde Gaza als separates Verwaltungsgebiet neu definieren, mit einer eigenen (von Ausländern dominierten) Gouvernance, losgelöst von der in Ramallah sitzenden PA-Regierung. Palästinensische Kritiker warnen, dies schaffe eine parallele Jurisdiktion in Gaza, die Palästina als einheitliches politisches Subjekt spalte. Xavier Abu Eid, ehemaliges Mitglied des PLO-Verhandlungsteams, betont, das Oslo-Abkommen habe Gaza und Westjordanland als integrale Einheit anerkannt – der GITA-Plan jedoch „trennt Gaza rechtlich vom Westjordanland“ und lasse völlig offen, wie die Gebiete je wieder vereint werden sollen[1]. Selbst offizielle Vertreter, die an den Gesprächen beteiligt waren, räumen ein, dass Palästinenser im GITA-Gerüst höchstens Juniorpartner wären. So fasst es die Washington Post mit den Worten eines palästinensischen Offiziellen zusammen: „Man hätte einen Rat mit ausländischer Mehrheit, der für die Palästinenser in Gaza Gesetze erlässt.“ Genau dieses Szenario – Fremdherrschaft per Dekret in Gaza – weckt bei vielen Palästinensern tiefes Misstrauen.
- Palästinensische Friedensforderungen vs. GITA-Plan
Im Zentrum der palästinensischen Position steht das völkerrechtlich verbürgte Recht auf nationale Selbstbestimmung: die Schaffung eines unabhängigen, souveränen Palästinenserstaates auf den 1967 besetzten Gebieten mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. „Oberste Priorität“ haben laut PLO-Exekutivkomitee zudem das unveräußerliche Rückkehrrecht der Flüchtlinge, der vollständige Abzug der Besatzungsmacht Israel und die umfassende Souveränität über das eigene Territorium. Präsident Mahmud Abbas bekräftigte vor der UN-Generalversammlung im September 2025 ausdrücklich, dass ausschließlich die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) – als Kern eines künftigen Staates Palästina – legitimiert sei, „die volle Verantwortung für Verwaltung und Sicherheit in Gaza zu übernehmen“. Dies solle durch ein eigenes palästinensisches Übergangskomitee unter PA-Anbindung und mit arabischer/internationaler Unterstützung geschehen. Abbas’ Botschaft lautete unmissverständlich: Hamas hat in einem Nachkriegs-Gaza politisch nichts zu suchen, aber der palästinensische Souverän muss die Oberhand behalten. Innerpalästinensisch wird auf Neuwahlen und institutionelle Reformen hingearbeitet, um nach dem Krieg eine demokratisch legitimierte Selbstregierung sicherzustellen. Entscheidend ist dabei der Grundsatz, dass jegliche internationale Hilfe oder Aufsicht zeitlich befristet und an klaren Fortschritten Richtung Eigenstaatlichkeit gekoppelt sein muss.
Demgegenüber bleibt der GITA-Plan auffallend schweigsam zu staatlicher Souveränität und anderen palästinensischen Kernanliegen. Zwar behaupten US-Offizielle inzwischen, der 21-Punkte-Plan öffne eine „glaubwürdige Tür“ zu einem künftigen Palästinenserstaat. Konkret heißt es, nach erfolgreicher Entwaffnung Gazas und dem Wiederaufbau solle ein Pfad zu einer unabhängigen palästinensischen Staatlichkeit entstehen. Allerdings wird dieser Pfad ausdrücklich von Bedingungen abhängig gemacht: Die palästinensische Seite müsse erst ein umfangreiches Reformprogramm absolvieren und “Gaza’s Entwicklung voranschreiten”, bevor ein eigener Staat Realität werden könne. Mit anderen Worten: Das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser – an sich ein unverbrüchliches Prinzip des Völkerrechts – würde unter einen Reformvorbehalt gestellt, oder „Die Wilden müssen zuerst zivilisiert werden“.
In einem aktuellen IGH-Gutachten bekräftigte der Weltgerichtshof, das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung sei „unveräußerlich und dürfe keinen Bedingungen unterworfen werden“. Der GITA-Plan hingegen knüpft die politische Zukunft Gazas an die wohlwollende Bewertung durch internationale Akteure (USA, Geber, IFIs), die z.B. die „Reife“ der PA-Institutionen beurteilen. Historisch erinnert dies fatal an koloniale Praktiken, vor denen die UN bereits 1960 mit Nachdruck warnte: „Mangelnde politische, wirtschaftliche, soziale oder erzieherische ‚Reife‘ darf niemals als Vorwand dienen, die Unabhängigkeit zu verzögern.“ Genau das würde aber passieren, wenn GITA solange fortbesteht, bis externe Mächte Palästinenser als „bereit für Staatlichkeit“ erachten.
Eine zentrale palästinensische Bedingung ist die vollständige Beendigung der israelischen Besatzung und Blockade. Hier bietet GITA lediglich einen indirekten Ansatz: Vorgesehen ist zwar eine schrittweise Übergabe von Teilen Gazas an ein arabisch geführtes internationales Friedenskontingent, was einen Abzug der israelischen Armee aus diesen Zonen ermöglichen soll. Israels Führung betont jedoch offen, man werde „die Sicherheitskontrolle über Gaza behalten – unabhängig von künftigen Plänen“. Der GITA-Plan schafft also keine Garantie, dass Gaza wirklich frei von externer Militärherrschaft wäre. Im Gegenteil: Die Gefahr besteht, dass anstelle einer israelischen Blockade ein international überwachtes „Sicherheitsregime“<