Vorhof zur Hölle - das französische Internierungslager Gurs
Update: 2025-09-10
Description
Einige Zuschauer wandten den Blick ab, andere applaudierten
Es muss ein großer Schock gewesen sein, als Polizei und Gestapo am Morgen des 22. Oktober 1940 in Mannheim an die Tür der jüdischen Familie Siesel hämmerten.
„Da kamen zwei oder drei Männer zu uns und haben gesagt, dass wir in einer Stunde fertig sein sollen“, erinnerte sich Charlotte Siesel in einem Zeitzeugen-Interview Ende der 90er Jahre. „Man würde uns abholen kommen. Wir sollten 20 Kilo Gepäck einpacken und Proviant für den Weg mitnehmen, wir wäre ein paar Tage unterwegs.“
Charlotte Siesel konnte nie vergessen, wie die Menschen auf der Straße vor dem Haus auf die Festnahme und den Abtransport der Jüdinnen und Juden reagierten: „Einige wollten den Blick nicht auf uns wenden, und andere haben applaudiert. Die haben sich gefreut, dass man endlich die Juden wegschickt. Und andere haben sich geschämt.“
Durch hygienische Missstände erkrankten und starben viele
Nach drei, vier Tagen Zugfahrt: Endstation Gurs. Ein Dorf nördlich der Pyrenäen, im unbesetzten Teil Frankreichs. In der Nähe des Dorfes: Ein notdürftig eingerichtetes Internierungslager. Auf Schwarz-Weiß-Fotografien ist in der Ausstellung zu sehen, unter welch erbärmlichen Umständen die Inhaftierten dort leben mussten.
„Im Herbst schon, als der Regen eingesetzt hat, war es immer nass, immer matschig, es war teilweise so, dass die Inhaftierten bis zu den Knien im Schlamm gestanden waren“, erzählt Marco Brenneisen vom Mannheimer Marchivum. Durch die hygienischen Missstände habe es Ratten und Infektionskrankheiten gegeben, an denen schon in den ersten Monaten im Winter 40/41 sehr viele Menschen erkrankt und auch gestorben waren.
Bunte Zeichnungen einer 19-Jährigen zeigen den Lageralltag von Gurs
Auf einer Schautafel sind bunte Zeichnungen über den Lageralltag in Gurs zu sehen, von der damals 19-jährigen Eva Liebhold aus Mannheim. Sie zeigen Frauen vor dunklen Holzbarracken beim Wäscheaufhängen, beim Graben einer Latrine, bei der notdürftigen Körperhygiene im Waschraum.
Eine der Zeichnungen weist den vermeintlichen Weg in die Freiheit: Ein Auto steht vor einem Schlagbaum, der langsam aufgeht. Darunter der Schriftzug: „Unsere Sehnsucht - der Schlagbaum öffnet sich, hinaus in die Freiheit!“. „Das Ganze ist besonders tragisch, wenn man weiß, dass ‚hinaus in die Freiheit‘ nicht stattgefunden hat, sagt Marco Brenneisen. Denn Eva Liebhold wurde 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Etwa 70 Prozent der inhaftierten Kinder und Jugendlichen wurden gerettet
Viele Menschen, die dort interniert waren, nannten das Lager Gurs den„Vorhof zur Hölle“ oder auch „Wartesaal des Todes“. Denn wem die Flucht von dort nicht gelang und wer kein Visum erhielt, landete am Ende im Todeslager Auschwitz.
Dennoch: Etwa 70 Prozent der 1940/41 in Gurs inhaftierten Kinder und Jugendlichen wurden gerettet - dank der Hilfe mehrerer Franzosen und Schweizer, sowie Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz. Dadurch entging auch Charlotte Siesel ihrem wohl sicheren Tod.
Durch Trennung von den Eltern entging Charlotte Siesel dem Tod
„Wir standen da drin im Waggon, dann kamen Schwestern des Roten Kreuzes“ erzählte sie. „Und sie sagten: ‚Kinder, die hierbleiben wollen, können bleiben und nicht mit den Eltern fahren.‘ Dann hat meine Mutter mich ganz an sich genommen und gesagt: ‚Du bleibst mit uns.‘
Und mein Vater hat gesagt: ‚Raus! Du sollst ein gutes Leben haben und wo wir hinfahren ist wahrscheinlich keine Schule und wahrscheinlich wird man uns kein gutes Essen geben. Du musst bleiben!‘“
Charlotte Siesels Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Sie selbst wurde vom Roten Kreuz in die Schweiz gebracht. Nach dem Krieg wanderte sie nach Israel aus und änderte ihren Namen in Amira Gezow. Sie starb 2020. Im Marchivum sind ihre Erinnerungen in der Dauerausstellung zur NS-Zeit zu sehen und zu hören - und bilden so eine gute Ergänzung zur Wanderausstellung über das Internierungslager Gurs 1940.
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