DiscoverRadiowissenGestylte Nägel: Vom Luxussymbol zur Mainstream-Mode
Gestylte Nägel: Vom Luxussymbol zur Mainstream-Mode

Gestylte Nägel: Vom Luxussymbol zur Mainstream-Mode

Update: 2025-08-271
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Description

In Europa und den USA nimmt seit 2000 die Zahl der Nagelstudios zu, in denen vor allem Immigrant:innen aus Asien arbeiten. Künstliche, bunte Fingerspitzen werden im Alltag immer sichtbarer und salonfähiger. (BR 2025)

Credits
Autor/in dieser Folge: Susanne Brandl
Regie: Christiane Klenz
Es sprachenHeiko Ruprecht, Julia Fischer, Rahel Comtesse 
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Susanne Poelchau


Im Interview:


-       Suzanne Shapiro, Modehistorikerin, Susanne Becker, Soziologin, Atmo & Töne Nagelstudio





Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:



Hör-Tipps:


Nailart und Feminismus: Sind lange Fingernägel mehr als nur Popkultur? | Zündfunk | Bayern 2 | Radio | BR.de


 


Alles daran ist schön: Irritiert vom Gelnägel-Hype? - Kulturleben | BR Podcast


 


Literatur:


-      Suzanne Shapiro: “Nails. The Story of Modern Manicure”


-      Jovana Reisinger: “Pleasure”



Linktipps:


https://www.susannebecker.org/fingernail-talk




Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.


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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.


Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:



SPRECHER:


Wer lange bunte Nägel trägt, fällt auf. Die einen feiern sie, die anderen finden sie abstoßend,




O-TON 1 BECKER:


„billig und vulgär. Wenn die so sehr lang sind, die Nägel, dann wird auch gesagt, das ist fast animalisch, also da steckt schon auch ne Abwertung drin.“


 


MUSIK 3 (Kayleigh Huelin: Leaves Underfoot)


 


SPRECHER:


So die Soziologin Susanne Becker. Sie lehrt an der Internationalen Hochschule München zu sozialen Ungleichheiten und beobachtet: Es gibt kaum Forschungsliteratur zur Geschichte und Soziologie von gestylten Nägeln. Ihre Vermutung: Maniküre gilt als nicht forschungswürdig.


Dabei sind gestylte Nägel eine jahrtausendealte Form von Schönheit. In vielen Kulturen der Welt waren sie so etwas wie ein gesellschaftlicher Code. Bemalte oder lange Nägel trug nur, wer es sich leisten konnte, nicht hart arbeiten zu müssen. Da hätten lange Fingernägel nur gestört, so die US-amerikanische Modehistorikerin Suzanne Shapiro (sprich: Süsänn Schapiro, englische Aussprache)


 


O-TON 2 SHAPIRO:


OV weiblich


„Über den längsten Teil der Geschichte waren verzierte Nägel mit Status verknüpft. Es gab viele Kulturen, die ihre Nägel dekorativ gestalteten und sie mit Bedeutung aufluden.  Da gab es zum Beispiel mit Henna gefärbte Nägel als Teil von Körperkunsttraditionen in Nordafrika, auf der arabischen Halbinsel, in Zentral- und Südasien. Auch in Ostasien färbte man sich mit Pflanzen die Nägel rot, so zum Beispiel in Korea, wo mit Balsam gefärbt wurde. Wenn wir noch weiter zurück gehen, dann finden wir vergoldete Nägel im alten Ägypten. Das belegen Mumien. Man weiß leider nicht, ob es damals eine ägyptische Mode war oder ob es zum Bestattungsritual gehörte, die Nägel der Mumien zu vergolden. Aber dennoch ist es interessant, dass dieser sehr kleine Körperteil so viel Aufmerksamkeit bekam.“


 


SPRECHER


Wann und wo der erste Nagel gefeilt, bemalt oder gepflegt wurde, lässt sich heute nicht mehr bestimmen. Fest steht: Die Ästhetik reicht mindestens bis in die Antike zurück und wurde vor allem in Afrika und Asien über Jahrhunderte hinweg praktiziert.


 


MUSIK 4 (Xingjie si he)


 


In China färbten sich Adelige die Nägel, als das mongolische Kaiserhaus dort im 13. Jahrhundert seine Herrschaft errichtete.


 


O-TON 3 SHAPIRO:


OV weiblich


„wo sich vornehme Männer und Frauen seit der Yuan Dynastie die Nägel lang wachsen ließen und mit Nagelschmuck aus wertvollen Metallen, Steinen und Lacken verzierten.“


 


SPRECHER:


Was sich in Sachen Nagelkunst zeitgleich in Europa tat, darüber lässt sich mangels Forschung nur mutmaßen. Während die etablierten Künste gediehen, waren kosmetische Fertigkeiten den Kirchenvätern des Mittelalters höchst suspekt. Wie konnte man es wagen, an Gottes formvollendeter Schöpfung herumzupfuschen? 


 


MUSIK 5 (John Doan: Wayfarer - On the path to Holy Cross Abbey)


 


Suzanne Shapiro ist trotzdem fündig geworden. In der irischen Mythologie des neunten Jahrhunderts gibt es die Liebesgeschichte: „Das Exil der Söhne des Uislius“. Sie endet tragisch: Die Heldin Deirdre (sprich: Dierdra) verliert ihren Liebsten. Sie ist am Boden zerstört und stimmt ein Klagelied an. Darin findet sich ein Vers, der aufhorchen lässt:


 


ZITATORIN:


Ich kann nicht schlafen


Ich werde meine Nägel nie mehr mit Purpur schmücken


Ich werde keine Freude mehr empfinden.


 


O-TON 4 SHAPIRO:


OV weiblich


„Ich werde meine Nägel nie wieder purpurrot färben? Was soll das bedeuten? Das könnte auf sowas wie kleine Schmuckkästchen hinweisen, die extra für die Verschönerung der Nägel da waren.“


 


SPRECHER:


Ansonsten scheinen Maniküren oder gar farbige Nägel bis zum 19. Jahrhundert eher selten gewesen zu sein. Den Porträts von Frauen seit der Frührenaissance nach zu urteilen, waren kurze, natürliche Nägel der Standard.


Erst um 1870 tat sich etwas in Europa und in den USA: Maniküre-Studios öffneten ihre Türen.


 


O-TON 5 SHAPIRO:


OV weiblich


„Das erste wurde 1878 in New York gegründet, von einer Unternehmerin namens Mary Cobb. Und Maniküre wurde zu einer professionellen Dienstleistung. Es war ein Luxus ebenso wie eine hygienische Anwendung. Immer mehr Frauen gingen damals aus, wurden sichtbarer Teil der Gesellschaft. Wer sich herausputzte, galt als kultiviert. Es war moralisch nicht mehr verwerflich, sich der eigenen Schönheit zu widmen. Und das ist noch wichtig zu erwähnen: Männer gingen damals genauso zur Maniküre wie Frauen.“


 


MUSIK 6 (Miff Mole’s Molers: Hot Time In The Old Town)


 


SPRECHER:


Auf einem Werbeplakat von Mary Cobbs heißt es:


 


ZITATORIN:


 „Die brillianteste Nägelpolitur der Welt. Händewaschen trübt den Glanz nicht. Mary Cobb’s Pan-Za Cream heilt Niednägel, (…) Mary Cobb’s Cherri Lip färbt Fingernägel, blasse Lippen und Wangen. (…) Die einzigen verlässlichen Maniküre-Artikel.“


 


O-TON 6 SHAPIRO


OV weiblich


„Manche dieser ersten kommerziellen Nagelprodukte wie Puder und Salben wurden über die Nageloberfläche gerieben, um ihnen ein bisschen Glanz zu verleihen. Das war die früheste Pflegemethode. Und manch mutige Kundin zauberte sich einen Doppel-Glanz auf die Nägel. Im späten 19. Jahrhundert gab es dann schon Magazine, die das kommentierten, indem sie zum Beispiel schrieben: ‚Ladies, macht mal halblang. Wir sehen, dass ihr den Doppel-Glanz auftragt. Das sieht vulgär aus.‘ Oder zum Thema lange Nägel hieß es: ‚selbst in den besten Gesellschaften trägt man sowas nicht.‘“


 


SPRECHER:


Es gab schon die ersten Do-it-yourself-Nailstylistinnen, die gerne ein bisschen über die gewöhnlichen Standards hinaus gingen. Und es waren nicht unbedingt die vornehmen Damen der Oberschicht, die es gewagt hätten, die Schönheitstabus zu brechen. Im Gegenteil:


 


O-TON 7 SHAPIRO:


OV weiblich


„Historisch gesehen waren es eher die arbeitenden Frauen und Performerinnen und sogar Leute wie zum Beispiel Sexarbeiterinnen, die Tabus für neue Moden und Gewohnheiten herausforderten. És war also schon sehr früh eine radikale Geste.  Und ich war sehr angetan, als ich herausfand, dass es Leute waren wie Josephine Baker und sogar Eleanor Roosevelt und Frida Kahlo und so weiter, die wirklich verrückt nach lackierten Nägeln waren.“


 


MUSIK 7 (Bix Beiderbecke: Riverboat Shuffle)


 


SPRECHER:


Nagelstylisten und -stylistinnen ließen sich um 1920 von der Automobilindustrie inspirieren. Der Autolack deckte gut ab und seine Pigmente eigneten sich auch für die Produktion von Nagellack. Suzanne Shapiro beschreibt in ihrem Buch „The story of modern manicure“, die Maniküre der Goldenen Zwanziger als radikale, feministische Handlung. Lackierte Nägel waren zum Identitätsmerkmal geworden. Wer sich die Nägel anmalte, galt als kreativ, kosmopolitisch, fortschrittlich. Rauchen war in Mode gekommen und so bekamen die Nägel eine Bühne: als funkelnde Fingerspitzen an der Zigarette.


 


O-TON 8 SHAPIRO:

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Gestylte Nägel: Vom Luxussymbol zur Mainstream-Mode

Gestylte Nägel: Vom Luxussymbol zur Mainstream-Mode

Brandl, Susanne