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Harte Hühnerbrüste und kalte Menschenherzen

Harte Hühnerbrüste und kalte Menschenherzen

Update: 2025-09-04
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Description

Schauplatz dieses Romans ist ein aufstrebender Geflügelbetrieb im Emsland, wie es ihn wirklich gibt: Auf der Homepage eines mittelständischen Unternehmens am Rande der kleinen nordwestdeutschen Stadt Haren wird jedenfalls stolz verkündet, die Firma „Emsland Frischgeflügel“ sei 2007 um eine „zweite Schlacht- und Zerlegelinie erweitert“ worden:
Wir fertigen hier Hähnchenteile vom Flügel bis zum Filet für den Lebensmitteleinzelhandel und die industrielle Weiterverarbeitung in jeder gewünschten Gewichts- und Verpackungseinheit. Emsland Frischgeflügel beschäftigt rund 2.500 sozialversicherungspflichtige Mitarbeiter im Vollschichtsystem.
Auf den Fotos der echten, aber gleichsam unwirklichen Firmen-Homepage lächeln die Mitarbeiter fröhlich in die Kamera, während sie die Hühnerbrüste auf dem Fließband kontrollieren. Im Roman der deutsch-iranischen Schriftstellerin Nava Ebrahimi werden nun die Schattenseiten der eintönigen Arbeit beschrieben. Der Betrieb im Buch gehört der fiktiven Unternehmerfamilie Möllring, auch den Romanort hat Ebrahimi in Lasseren umbenannt.

Verholzte Hühnerbrüste, Verhärtungen im Brustbereich auch beim Menschen


Hier wohnt und schuftet die alleinerziehende Mutter Sonia, die jeden Morgen mit „Hennen im Kopf“ aufwacht. Widerwillig schleppt sie sich zur Arbeit, die darin besteht, die heranrollenden Hühnerbrüste zu prüfen, ob sie vom sogenannten „Wooden Breast“-Syndrom betroffen und damit ungenießbar sind.
Die Verholzung des eigentlich weichen Filetstücks tritt vor allem in der Massentierhaltung auf, und auch die Schichtarbeiterin Sonia meint, nach all den Jahren bei Möllring an Verhärtungen im Brustbereich zu leiden.
Sie möchte jedenfalls nicht länger am Band stehen und denkt sich ständig neue und immer groteskere Formulierungen für ein mögliches Bewerbungsgespräch aus – um endlich einen Job in der Lohnbuchhaltung zu bekommen.

Guten Tag, mein Name ist Sonia Bose, ich bin ein pflichtbewusster Mensch, eine loyale Mitarbeiterin, ich fühle mich Möllring verbunden und gebe jeden Tag mein Bestes, an Gott glaube ich außerdem, und ich würde beiden, Möllring und Gott, wirklich gerne weiter dienen, aber (…) bitte geben Sie mir den Job in der Verwaltung, Amen, verdammt!

Quelle: Nava Ebrahimi – Und Federn überall



Zerrupfte Gesellschaft


Der Roman „Und Federn überall“ beginnt mit Witz, Tempo und Drama. Die erschöpfte und dementsprechend dünnhäutige Sonia sperrt die nervende Tochter in der Wohnung ein, aber statt den Fehler umgehend zu korrigieren, lässt sie den Teenager zurück und zieht sie ihren Arbeitstag mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen durch.
Nun wiederholen sich die Erzählsituationen, eine Figurenentwicklung findet kaum statt. Das fällt zunächst nicht auf, weil Ebrahimi die Perspektive wechselt, wenn es interessant werden könnte.
Neben Sonia tritt in der zerrupften Möllring-Gesellschaft ein dicklicher Manager namens Merkhausen auf. Der ehrgeizige und etwas einsame Mann will nicht nur die Hühnerbrustproduktion weiter steigern, er kümmert sich – auch während der Arbeitszeit – zunehmend um Justyna, eine Frau mit offenbar großem Busen, die ihm in einem deutsch-polnischen Online-Forum auffällt.

Er schätzte Brüste, schon, ja, aber sie mussten ihn nicht gleich auf dem ersten Profilbild anspringen wie ungestüme Hunde.

Quelle: Nava Ebrahimi – Und Federn überall



Leidige Brüste-Busen-Kalauer


Schon auf den ersten Seiten wird Merkhausen zur mitteilungssüchtigen Witzfigur gemacht, was seine durchaus interessante und später als endlose Sprachnachricht nachgereichte Familiengeschichte beschädigt. Die leidigen Brüste-Busen-Kalauer ziehen sich auch durch andere Figurenmonologe.
Die Automatisierungsspezialistin Anna muss sich auf Möllrings Vorstandsetage sexistische Kommentare über ihre angeblich zu geringe Oberweite anhören. Anstatt sich über die anmaßenden Lästereien zu beschweren, versucht sich Anna zunächst mit einem autosuggestiven Klassendünkel sowie einem Arbeitsethos aus der Klischeekiste zu helfen.

Anna, reiß dich zusammen, niemand hat gesagt, dass es leicht werden wird, Kindergärtnerinnen oder Bürokauffrauen haben es leicht.

Quelle: Nava Ebrahimi – Und Federn überall



Satirische Überdeutlichkeit und Charaktere im Figurenkäfig


Wenige Seiten später lautet ihre Losung: „Vorwärts, Anna, vorwärts und Fokus!“ Nava Ebrahimi setzt – anders als in ihren vorangegangenen Romanen – auf satirische Überdeutlichkeit. Die Autorin sperrt ihre Charaktere in einen Figurenkäfig, aus dem sie sich nicht befreien können. Das ist angesichts des Schlachthof-Settings so naheliegend wie ermüdend.
Zeitweise wirkt der Text wie eine aufgeblähte Hühnerbrust, die beim Braten zusammenschrumpelt und reichlich hormongesättigte Flüssigkeit verliert.
Viel passiert jedenfalls nicht im drögen Emsland. An einer Stelle heißt es: „Die Zeit verflog, bis irgendwann das Telefon klingelte.“ Weil die Handlungsansätze in die Länge gezogen werden und die schablonenhaften Figuren kaum Raum zur Narration bieten, wird der Roman mit recherchiertem Material über die grässliche Geflügelproduktion und herablassende Figurenrede über die falschen Vorstellungen der doofen Kundschaft angereichert.

Hier stellten sich die Konsumenten vermutlich am liebsten vor, die Hühner wurden von einem Bauern in Karohemd, mit von der harten Arbeit schwieligen, aber zärtlichen Händen totgestreichelt, jedes Huhn einzeln, ohne dass dabei eine einzige Felder flog. Na ja, eine vielleicht.

Quelle: Nava Ebrahimi – Und Federn überall



Keine Ahnung, wer sich diesen Unsinn ernsthaft so vorstellt, aber in Ebrahimis Figurenkabinett des Grauens gibt es auch die wirklich guten, die klugen und hellsichtigen Menschen mit ganz viel Herz. Im Emsland ist auch der afghanische Dichter Nassim gestrandet, der nach der Flucht vor den Taliban in der deutschen Provinz um die Anerkennung als Flüchtling wartet.

Der sehbehinderte Flüchtling als hellsichtiger Dichter


Aufgrund einer Krankheit in Kindertagen ist seine Sehfähigkeit stark eingeschränkt, doch er scheint mehr zu erkennen als die meisten Menschen, denen er in Deutschland begegnet. Seine eher wankelmütige Freundin Justyna, die auch mal bei Möllring gearbeitet hat und die sich aus zweifelhaften Gründen auf ein Treffen mit dem aufdringlichen Merkhausen einlässt, ist nahezu geblendet von Nassims Charakterstärke.

Wie gelang es ihm, trotz allem, was er erlebt hatte, so gütig zu bleiben?

Quelle: Nava Ebrahimi – Und Federn überall



Selbst wenn Nassim inzwischen fließend Deutsch spricht, kontaktiert er die hilfsbereite deutsch-iranische Schriftstellerin Roshanak Rastgoo kurz Roshi, um sich beim Übersetzen seiner Verse helfen zu lassen. Den deutschen Behörden möchte Nassim mit dem bestmöglichen Werkstück zeigen, dass er ein ernstzunehmender Dichter sei. Leider kommt ihm ein verstörender Unfall dazwischen.
Ein „rücksichtsloser Zeitgenosse“ fährt den Blindenstock des Mannes kaputt und begeht Fahrerflucht. Das spricht sich schnell rum in der Provinz: Ein Lokalsender berichtet über den Vorfall, und die Reklameleute bei Möllring wittern neue Möglichkeiten der Vermarktung. Dem Flüchtling soll öffentlichkeitswirksam ein Scheck überreicht werden!  

Das passt gerade sehr günstig in unsere Marketingstrategie, die muslimische Zielgruppe stärker ins Visier zu nehmen.

Quelle: Nava Ebrahimi – Und Federn überall



Einfühlsame Helferin mit Neigung zum schrägen Vergleich


Schließlich versammeln sich alle zum gemeinsamen Presse-Foto bei Möllring. Doch bei Nassim will keine Freude aufkommen. Natürlich merkt er, wie sein Schicksal instrumentalisiert wird, aber als Asylbewerber, dem Abschiebung droht, kann er sich schlecht gegen die Vereinnahmung wehren.
Außerdem trifft Nassim zur Scheckübergabe die plötzlich distanzierte Justyna an der Seite eines kleinen und dicken Mannes wieder, der mit pumpen Gesten Besitzansprüche anzeigt. Der ideale Moment für Schriftstellerin und Ich-Erzählerin Roshi, sich endlich als einfühlsame Helferin mit Neigung zum schrägen Vergleich inszenieren.

Nassim liebt diese Frau, und sie liebt ihn, ihre Blicke offenbaren das für einen Moment, doch im nächsten Moment schon offenbart der Blick der Nachbarin, dass das nicht sein darf. Ihre Schultern streben aufeinander zu wie ein Burgtor, das sich schließt. Der fließende Stoff ihrer Bluse verbirgt nicht, wie massiv ihre Schultern sind, sie vermögen gut, sie zu schützen, im Zusammenspiel mit ihrem Brustkorb ihr Herz zu verschließen. (…) Ich muss Nassim in dieser Gesellschaft zur Seite stehen oder Rückendeckung geben, am besten beides, also stelle ich mich halb seitlich neben ihn.

Quelle: Nava Ebrahimi – Und Federn überall



Thematisch überfrachtet, sprachlich redundant


Nava Ebrahimis dritter Roman wartet mit einer Fülle von Themen auf. Es geht in „Und Federn überall“ um Massentierhaltung und Klassenwidersprüche, Arbeitsethik und Leistungswahn, Mutterschaft und abwesende Väter, männliches Dominanzverhalten und weibliche Selbstbehauptung, Flucht und Migration. Auch der Holocaust und die revisionistische Hoffnung auf eine andere Erinnerungskultur in Deutschland werden in dem Buch angesprochen.
Doch die thematische Überfrachtung führt zu einer inhaltlichen Oberflächlichkeit, die sich auch in der Sprache zeigt: Hühnermetaphern und Federnsymbolik überzeugen nicht in der ständigen Wiederholung; die Figuren und Erzählstränge wirken so schematisch angeordnet wie ein Geflügelbetrieb im Emsland.
Die Sprache schwankt zwischen drastischer Parodie in den Schilderungen der Arbeitsverhältnisse und einem unfreiwillig komischen Kitsch, wenn Beziehungskomplikationen beschrieben werden.
„Ich lächle noch immer, obwohl ich nicht weiß, weshalb“, denkt sich Roshi, als das Gruppenbild im Kasten ist, „niemand hat hier einen guten Witz gemacht
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