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Kaleb Erdmann – Die Ausweichschule

Kaleb Erdmann – Die Ausweichschule

Update: 2025-08-31
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Zwei Schulen standen in der Kindheit des Schriftstellers Kaleb Erdmann für ein schreckliches Ereignis. Am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt gehörte er als elfjähriger Schüler zu einer Klasse, deren Lehrerin nach Abschluss der Stunde von dem Amokläufer Robert Steinhäuser erschossen wurde.
Nach der Tat wurden die Schüler des Gymnasiums für mehrere Jahre in einem anderen Gebäude unterrichtet. Das war „Die Ausweichschule", von der Kaleb Erdmanns Roman über die aufsehenerregende Untat seinen Titel hat.  

Roman über ein Erzählprojekt 


Es hat gedauert, bis der Erzähler begriff, dass das Gemetzel, von dem er damals unmittelbar kaum etwas mitbekam, tiefe Spuren in ihm hinterlassen hat. Und es musste Zeit vergehen, bis Erdmann beschloss, sich die aufwühlende Erfahrung mit über dreißig von der Seele zu schreiben. Im ersten Kapitel erklärt er: 

Ich denke sehr gründlich über einen noch nicht existierenden Roman nach, einen Roman über den Erfurter Amoklauf und mein elfjähriges Ich, das ihn erlebt, einen Text über eine kollektiv traumatisierte Schule, über das Gutenberg-Gymnasium in den Jahren nach dem Amoklauf, über Gewalt und Verarbeitung. 

Quelle: Kaleb Erdmann – Die Ausweichschule



Nun ist dieses Buch fertig und auf dem Umschlag steht tatsächlich die Gattungsbezeichnung Roman, obwohl es sich genau genommen um den Roman eines Romans handelt. Denn Erdmann schreibt hier Metafiktion, also darüber, wie er bei der Arbeit an diesem Erzählprojekt vorgegangen ist, mit welchen Hemmnissen er zu kämpfen hatte und wie es ihm bei alldem ergangen ist. Das ist konsequent und im Übrigen ganz hervorragend gemacht.  

Die Suchbewegungen der Recherche 


Schließlich wirft die Annäherung an das traumatisch besetzte Thema viele Fragen auf. Eine davon lautet:  

Gibt es überhaupt einen guten Grund, eine Katastrophe in Kunst zu verwandeln?

Quelle: Kaleb Erdmann – Die Ausweichschule



Die Katastrophe: das waren sechzehn ermordete Menschen in maximal zwanzig Minuten, eine tödliche Raserei, die sich mit rationalen Erklärungen kaum fassen lässt. Dass Erdmann daraus kein illusionistisches Erzählkino macht, gehört zu den Qualitäten seines Buches.
Stattdessen beschreibt er die Suchbewegungen der Recherche und trägt damit mehr zur Charakterisierung des Unfassbaren bei als eine vermeintlich allwissende Erzählung, die ohne thesenhafte Behauptungen nicht auskäme. Wie im New Journalism der Amerikaner und inspiriert von dem Franzosen Emmanuel Carrère rückt der Autor seine Überlegungen und Empfindungen als Berichterstatter in den Mittelpunkt.  

Gegen die geläufigen Debatten 


Durch die pointierte Schilderung banaler Alltagsverrichtungen entsteht dabei immer wieder die Fallhöhe für beklemmende Komik. Vor allem aber verweigert sich Erdmann den geläufigen Debatten in der Öffentlichkeit konsequent, eher hält er ihnen kritisch den Spiegel vor.
Ein Manifest, ein Bekennerschreiben als „Gebrauchsanweisung" zur Tat hat es, so betont er, im Fall dieses Amokläufers nicht gegeben. Daran schließt er eine Frage an, auf die jede allzu griffige Antwort verfehlt wäre: 

Wie geht man mit dieser Sinnlosigkeit um, diesem irren Nihilismus, den Steinhäuser gehabt hat?

Quelle: Kaleb Erdmann – Die Ausweichschule



Obwohl Kaleb Erdmann seine Darstellung nicht als Kunst konstruiert und damit im Ästhetischen befriedet hat, ist ihm dennoch etwas sehr Kunstvolles gelungen. Nämlich ein fesselnder Reportageroman, der Widersprüche und Rätsel nicht einebnet, sondern vielschichtig bewahrt, empfindsam und nüchtern, erhellend und ohne falschen Trost.
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