STEINZEIT UND DANACH - Das Rätsel der „Glockenbecherleute“
Description
Vor rund 4500 Jahren scheint sich in Europa eine Religion zu entwickeln: Die Steinzeitleute begannen, ihre Toten anders zu bestatten und ihnen glockenförmige Keramikbecher ins Grab legten. Wer waren diese Leute, die man als Glockenbecherkultur zusammenfasst? Von Matthias Hennies (BR 2024)
Credits
Autor: Matthias Hennies
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Constanze Fennel
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Elisabeth Reuter, Prof. Philipp Stockhammer, Dr. Wolfgang Haak, Dr. Guido Brandt, Prof. Harald Meller
Linktipps:
Deutschlandfunk (2023): Trauer der Frühmenschen – Kein Totenbett aus Blüten
Nur Menschen begraben ihre Toten, doch wann haben sie damit angefangen? Anfangs wollten die Steinzeitmenschen vielleicht Aasjäger fernhalten, später den Weg ins Jenseits bereiten. JETZT ANHÖREN
SWR (2024): Migration in der Steinzeit – Warum wir fast alle anatolische Wurzeln haben
Egal, für wie "deutsch" wir uns halten; im Erbgut der meisten Europäer stecken Spuren von drei frühen Einwanderungswellen - aus Afrika, aus Anatolien und aus der russisch-ukrainischen Steppe. Diesen Migranten verdanken wir Landwirtschaft und Viehhaltung - und die indoeuropäische Sprache. JETZT ANHÖREN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
JETZT ENTDECKEN
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO (Werkstatt)
Sprecher
Elisabeth Reuter, Töpferin, sitzt in ihrer Werkstatt an einem alten Tisch und knetet eine Rolle Ton. Trennt ein Stück ab und formt ein Gefäß.
1. O-Ton Reuter 13:20
(Geräusche) Ich drehe es auf der Unterlage immer und bearbeite es auf der einen Seite mit den Daumen und auf der anderen Seite mit den restlichen Fingern, also mit beiden Händen gleichzeitig -
Sprecher
Sie töpfert einen Becher, der in der Jungsteinzeit, im 3. Jahrtausend vor Christus, in ganz Europa verbreitet war. Damals kannten die Menschen die Töpferscheibe noch nicht, auf der sich Tongeschirr viel schneller produzieren lässt. Die Töpferin aus Friedland in Hessen ist Spezialistin für Gefäße aus frühen Jahrtausenden. Im Handumdrehen formt sie ein rundes Schälchen, Basis für einen „Glockenbecher“, der mit jeder neuen Rolle Ton, die sie auf den Rand aufsetzt, größer wird.
2. O-Ton Reuter 17:45
Und damit das Gefäß breiter wird, setze ich das nicht in die Mitte, sondern eher zum Rand hin und drücke es auch noch nach außen. Wir brauchen die Glockenform.
MUSIK
Sprecher
Der „Glockenbecher“ ist ein gutes, gründlich erforschtes Beispiel für eine große Frage der Geschichtswissenschaften: Wie haben sich in der Vergangenheit neue Ideen verbreitet? In einer Epoche, als es noch keine Schrift gab, als die Menschen nicht in großen, gut organisierten Staaten, nicht in dicht bevölkerten Städten lebten: Haben Einwanderer in jenen Zeiten neues Gedankengut eingeführt? Oder verbreitete es sich von Mund zu Mund, durch Reisende oder Händler, als Ideen-Transfer?
ATMO (Schaben)
3. O-Ton Reuter 45:59
Ich bearbeite es noch mal nach, um es zu glätten und oben auseinanderzuziehen-
Sprecher
Das Gefäß erinnert an eine Glocke, die auf dem Kopf steht: Ein voluminöser Bauch, dann ein schmaler Hals, der sich wieder zu einer weiten Mündung öffnet. Es war mit regelmäßigen Linien und Mustern verziert. Die Töpferin demonstriert, wie man sie herstellt: Sie legt behutsam eine Schnur um das weiche, ungebrannte Gefäß.
4. O-Ton Reuter 53:08
Das sind so Kordeln, gedrehte, die kann ich in den Ton eindrücken, muss ich mit gutem Augenmaß arbeiten, ich habe jetzt eine Linie rund um mein Gefäß eingedrückt, das sieht man als leichte schräge Spuren in dieser Linie.
MUSIK
Sprecher
Linie wird unter Linie gesetzt, danach ist der Becher fertig zum Brennen. Etwa acht Stunden später kommt ein fein verziertes, stabiles Gefäß aus dem Feuer. Wozu mag man es im dritten Jahrtausend vor Christus verwendet haben?
4 ½. O-Ton Stockhammer 2’20 neu
Wir wüssten natürlich sehr gern, was es mit denen auf sich hat, gerade mit dieser einheitlichen Form: Es gibt Nahrungsrückstands-Analysen an einigen wenigen dieser Becher, in denen man „Mädesüß“ gefunden hat. Ein mir vorher auch unbekanntes Kraut, aus dem man eine alkoholische Substanz ziehen konnte, vielleicht war der Glockenbecher einfach ein spezifisches Gefäß zum Konsum alkoholischer Getränke, so wie wir in Bayern einen Maßkrug haben.
Sprecher
Für die Archäologie ist etwas Anderes wichtiger, stellt Philipp Stockhammer klar, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München: Dass Glockenbecher gegen Ende der Jungsteinzeit massenhaft als repräsentative Grabbeigaben dienten. Unzählige Exemplare haben sich bis heute erhalten, quer durch Europa, und die Gräber hatten – mit kleinen Abweichungen – immer dieselbe Ausstattung, immer dieselben Beigaben.
5. O-Ton Stockhammer 1‘37
In Mitteleuropa würde das Glockenbechergrab eine Körperbestattung sein, mit angezogenen Beinen, es ist eine so genannte Hockerbestattung, wobei alle Skelette Nord/Süd orientiert waren und die typischen Beigaben waren bei den Männern neben einem Keramikbecher oft ein Kupferdolch und eine so genannte Armschutzplatte, das ist etwas, was man am Arm trägt, damit die Sehne des Bogens, wenn man schießt, nicht den Unterarm verletzt.
MUSIK
Sprecher
Viel weiß man nicht über die Gemeinschaften, die diese Bestattungssitte praktizierten. Die Krieger kämpften offensichtlich mit Pfeil und Bogen, sie nutzten vermutlich schon Pferde als Reittiere. Lebensgrundlage war die Landwirtschaft, die Menschen bearbeiteten Äcker und züchteten Vieh. Siedlungen sind in Mitteleuropa bisher nur selten zu Tage gekommen. Die auf dem gesamten Kontinent verbreiteten, einheitlichen Gräber deuten aber auf ein weit gespanntes Kommunikationsnetzwerk hin, das Bevölkerungsgruppen über große Entfernungen verband. Zugleich lassen sie auf eine ziemlich egalitäre Sozialstruktur schließen, doch mancherorts gab es auch eine wohlhabendere Schicht.
5 ½. O-Ton Stockhammer 4:55 neu
Es gibt Gräber auch in Süddeutschland, mit Gold, mit Bernstein – und wir haben auch ein Grab in Süddeutschland, das mit spanischem Silber ausgestattet ist, also Objekte, die klar zeigen, ja, es gab Menschen, die in diesem Netzwerk offensichtlich eine herausragende Position innehatten und denen es möglich war, über dieses Netzwerk aus fremden Regionen Objekte und natürlich auch Wissen zu beziehen.
Sprecher
Entscheidend für die Entwicklung der „Glockenbecher-Kulturen“ war der Einfluss von Steppenhirten, die aus Osteuropa kamen.
6. O-Ton Stockhammer 6:01
Im frühen dritten Jahrtausend wanderten aus der heutigen Ukraine, kann man vielleicht sagen, Steppenhirten nach Mitteleuropa ein, ja, sie kamen bis nach Spanien und wir sehen genetisch bei diesen Einwanderern, dass es vor allem Männer waren. Es ist sehr spannend – wir sehen es am Y-Chromosom, das wird ja auf der männlichen Linie weitergegeben – dass sich das in ganz Europa ausbreitet und auch quasi durchsetzt. Wir wissen nicht, wie friedlich das abgelaufen ist, vor allem, weil zur selben Zeit die männlichen lokalen Linien alle enden.
MUSIK
Sprecher
Friedlich kann es wohl kaum abgegangen sein. Archäologische Belege dafür sind allerdings noch nicht zutage gekommen. Am Erbgut von Skeletten aus Glockenbecher-Gräbern lässt sich nur nachweisen, dass die Steppenhirten einheimische Frauen nahmen und sich mit der mitteleuropäischen Bauernbevölkerung vermischten.
MUSIK aus
7. O-Ton Stockhammer 7:22
Und aus dieser Vermischung ist eben nicht nur genetisch was passiert, sondern auch kulturell was passiert: Und dieses Glockenbecher-Phänomen ist quasi eine kulturelle Bewältigung dieser Einwanderer aus dem Osten.
Sprecher
Mit der Expansion der Männer aus der Steppe verbreiteten sich die Glockenbecher-Kulturen rasant, quasi parallel zum Weg der Einwanderer. Quer durch Europa, von Osten nach Westen zunehmend, gaben die neuen Gemeinschaften ihren Toten die unverwechselbaren Tongefäße mit