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Zeitzeugen - Wertvolle Erinnerungen mit Tücken

Zeitzeugen - Wertvolle Erinnerungen mit Tücken

Update: 2025-08-29
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Zeitzeugen machen Geschichte hautnah erfahrbar. Ihre Erlebnisse machen Opfer - etwa der NS-Diktatur - zur unangreifbaren moralischen Autorität. Doch das vorgeblich so authentischen Erinnern durch Zeitzeugen hat durchaus Tücken. Von Lukas Grasberger (BR 2024)


Credits
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Benedigt Schregle
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Nicole Ruchlak


Im Interview:
Prof. Dorothee Wierling, Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg;
Prof. Martin Sabrow, Senior Fellow Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam;
Prof. Bernd Schnettler, Lehrstuhl für Kultur und Religionssoziologie, Uni Bayreuth;
Prof. Anja Ballis, Projekt LediZ – Lernen mit digitalen Zuegnissen, LMU München

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.


Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:


O-Ton 1 Ceija Stojka, Endrücke von der Ankunft im KZ Auschwitz



„Es ist finster. Man spürt den Gatsch, die Nässe unter den Füßen. Man spürt den Geruch der Verwesung, der im Lager herrscht. Man spürt die Kälte, die Feuchtigkeit. Noch sieht man nichts…. man hört nur die Schritte der Menge, die schleichend dahinschleicht. Und die Hunde. Und das Gejaule….und die SS, die immer brüllt: „Weitergehen, Marsch! Marsch! In Bewegung setzen.“ 


MUSIK:  Dark operation 0‘42


Erzählerin


Eindrücklich erzählt Ceija Stojka in einem Fernsehinterview von ihrer Ankunft im Konzentrationslager Auschwitz. Die Schilderungen der Romni, die als Kind ins Lager kam, machen das Grauen des KZ für jeden hautnah erlebbar. Abzurufen ist das Interview mit Ceija Stojka über das Zeitzeugenportal im Internet. Es ist eines von zahlreichen Projekten, die die Erinnerungen der letzten Überlebenden des Holocaust für die Nachgeborenen bewahren möchten. 


Musiktrenner


Geschichte bekommt dank Zeitzeugen ein Gesicht – und eine Stimme. Der Zeitzeuge nicht nur als Augenzeuge, sondern als Mensch, als personalisierte Geschichte, die berührt. Die unmittelbare Erfahrung von Menschen, die „dabeigewesen sind“ und davon erzählen, machen es leichter, historische Zusammenhänge zu verstehen – und soweit wie möglich nachzuvollziehen. Schilderungen wie die der KZ-Überlebenden Stojka zählen dabei zu den eindrücklichsten. Doch Zeitzeugen decken mittlerweile ein breites Spektrum ab. Wenn ein Fluchthelfer davon berichtet, wie er DDR-Bürger in waghalsigen Manövern über die innerdeutsche Grenze bringt; wenn ein HIV-Infizierter davon erzählt, wie ihn die Aids-Epidemie der 1980er-Jahre nach und nach aller Freunde beraubt hat: Dann sind diese Personen - die über die Zeitgeschichte, also die "Epoche der Mitlebenden“, Auskunft geben - der Definition nach Zeitzeugen. 


MUSIK: Nocturnal research 0‘41


Erzählerin


Dass Zeitzeugen in großer Zahl öffentlich auftreten – und damit die Wahrnehmung von Geschichte prägen: Das ist der Berliner Historikerin Dorothee Wierling zufolge ein recht neues Phänomen. Es begann damit, dass die professionelle Geschichtswissenschaft ab den 1930er-Jahren den sogenannten „einfachen Menschen“ breiten Raum einräumte. Mit der oral history - übersetzt, der „mündlichen Geschichte“ -, die solche Zeitzeugen einfach sprechen lässt: möglichst unbeeinflusst vom interviewenden Profi-Historiker.


O-Ton 1 Prof. Dorothee Wierling, Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg


„Wir sitzen mit dem am Küchentisch, und lassen uns die ganze Lebensgeschichte erzählen. (…) Wir als oral historian sitzen gegenüber und nehmen alles mit Interesse und Respekt auf. Das heißt, es entsteht eine Atmosphäre des Vertrauens und der Offenheit, wo wir mehr Zeit haben - und mehr Raum lassen. 


Erzählerin


Die oral history will mit Hilfe von Zeitzeugen die „ganze Geschichte“ erzählen. Menschen aus den unterschiedlichsten Schichten und Milieus sollten ihre Erlebnisse, Sichtweisen und Lebenswelten darstellen können – und taten dies auch. So gaben in den USA der 1930er-Jahre die letzten Zeugen von Sklaverei und Bürgerkrieg ausführlich in Interviews Auskunft; im Ruhrgebiet erzählten Bergleute Forschern im O-Ton ihre Lebens-und Arbeits-Geschichte; und für ein Oral-History-Filmprojekt in der Schweiz schilderten 80 Zeitzeugen ihrer Erfahrungen aus erster Hand in der Entwicklungshilfe. Das Zusammentragen von Zeitzeugen-Berichten sollte der „offiziellen Geschichte“ eine Art „Geschichtsschreibung von unten“ entgegenstellen.


MUSIK: Still waiting 0‘35


Erzählerin


Zeitzeugen, sagt der Potsdamer Historiker Professor Martin Sabrow, brachten so schließlich auch eine andere Perspektive in die damalige Wahrnehmung des Nationalsozialismus in Deutschland - in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Bewältigung der zurückliegenden NS-Zeit vor allem darin bestand, die Deutschen als Opfer von Hitler und seiner Vebrecher-Elite zu sehen: Nicht „die Deutschen als Opfer“, sondern die „Opfer der Deutschen“ rückten fortan in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses.


O-Ton 2 Prof. Martin Sabrow, Senior Fellow Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam


„Für diese Gegenerzählung war der Zeitzeuge dann die entscheidende Figur: Er berichtete nicht von hohen Haupt- und Staatsaktionen und er berichtete auch nicht aus der Sicht der Mitläufer der Täter, der der deutschen, der dreißiger, vierziger Jahre - sondern ihrer Opfer.“


Erzählerin


In Deutschland lernte so eine breite Öffentlichkeit den „Zeitzeugen“ in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kennen, erklärt die Berliner Geschichtsprofessorin Dorothee Wierling.  


O-Ton 3 Wierling


„Als Massenphänomen, denke ich, verdankt sich der Zeitzeuge tatsächlich den schrecklichen Kriegen des Zwanzigsten Jahrhunderts in Europa und hier vor allem auch dem Zweiten Weltkrieg und den Erfahrungen von Tod und Völkermord.“


MUSIK: Secret proofs 0‘51


Erzählerin


Spektakulär in Erscheinung trat dieser spezielle Zeitzeuge erstmals 1961: Beim Prozess gegen einen den Hauptorganisatoren des Holocaust, Adolf Eichmann.  Im Jerusalemer Gericht ließ Generalstaatsanwalt Gideon Hausner über einhundert Zeugen auftreten. Die große Zahl der Zeuginnen und Zeugen diente weniger dazu, Eichmann Völkermord-Verbrechen einzeln nachzuweisen – dafür gab es bereits ausreichend stichhaltige Belege. Nein, diese Zeitzeugen dienten vielmehr dazu, das Unfassbare begreifbar zu machen: Gleichsam als Personifizierung des Grauens. Staatsanwalt Hausner sah darin den einzigen Weg, „die Katastrophe überhaupt zu konkretisieren“. Dadurch, so viele überlebende Zeugen aufzurufen, wie es der Gerichts-Prozess überhaupt zuließ - und jeden zu bitten, ein winziges Bruchstück dessen zu erzählen, was er gesehen und erlebt hatte. 


O-Ton 4 Sabrow


„So entstand im Jerusalem Gerichtssaal ein dichtes Bild von im Schrecken dieser Vierziger-Jahre der deutschen Konzentrationslager - und damit war Gideon Hausner sozusagen der Erstproduzent dieser Zeitzeugenbewegung, wie wir sie bis heute noch kennen.“


Erzählerin


Die besondere deutsche Geschichte von Nazi-Diktatur, Krieg und Völkermord brachte Martin Sabrow zufolge eine spezielle Form des Zeitzeugens hervor. Er unterscheidet sich demnach vom Tatzeugen, vom Augenzeugen - oder von historischen Fachexperten, die lediglich über Fakten Auskunft geben. Dieser Zeitzeuge ist laut dem Professor Martin Sabrow eine Figur, mit deren Hilfe man der Vergangenheit unmittelbar als Person begegnet. Sabrow erinnert sich an die ersten Gespräche von Schülern mit solchen Zeitzeugen. Damals, Anfang der 1980er-Jahre, war der Geschichtsprofessor noch Studienrat an einer Berliner Schule. Der junge Lehrer Sabrow hatte Isaak Behar, einen Zeitzeugen der Judenverfolgung in Berlin, in sein Klassenzimmer eingeladen.


O-Ton 5 Sabrow


„Es war noch nicht eingeübt, und schon gar keine Routine...Und plötzlich stand ein älterer Mann mit freundlichem Lächeln, aber auch etwas melancholischen Gesichtszügen vor der Klasse, die vielleicht auch erst mal gar nicht wusste: Was will der hier eigentlich? (...)  Und dann erzählte Herr Behar, wie er dort von der Schule kam, den Savignyplatz entlang ging und in dann in die Grolmannstraße da einbog

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