WACHSTUM UND PLEITE - Eine Idee kommt nach Europa
Description
Wirtschaftswachstum - da ist erstmal nur eine Zahl. Aber was für eine! Geht die Zahl nach oben, dann steigt die Stimmung. Und umgekehrt genauso. Denn unsere Wirtschaft soll wachsen, da sind sich die meisten einig. Dabei ist diese Idee historisch betrachtet relativ neu. Sie hat mit dem Kalten Krieg zu tun. Von Maike Brzoska (BR 2024)
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Podcast-Tipp:
mdr & detektor.fm (2024): Deutschland - ein halbes Leben. 35 Jahre Mauerfall
https://1.ard.de/dhl?cp=br
Credits
Autorin: Maike Brzoska
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Dorothea Anzinger, Frank Manhold
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview: Matthias Schmelzer, Robert Groß
Besonderer Linktipps der Redaktion:
mdr & detektor.fm (2024): Deutschland – ein halbes Leben. 35 Jahre Mauerfall
In diesem Herbst feiern die Deutschen den 35. Jahrestag der Friedlichen Revolution. Nach Plauen am 7. Oktober, Leipzig am 9. Oktober und dann dem Höhepunkt am 9. November 1989 in Berlin, ist der Weg zu einem wiedervereinten Deutschland im Herbst 89 frei. In dem sechsteiligen Storytelling-Podcast trifft der ostdeutsche Journalist Christian Bollert drei Menschen, die zufälligerweise an diesem historischen Tag geboren worden sind und die er bereits seit ihrem 18. Geburtstag begleitet. Mit ihnen blickt er auf ihr Leben, Deutschland und die Zukunft. ZUM PODCAST
Linktipps:
Bundeszentrale für politische Bildung (1980): Die Bedeutung des Marshall-Plans für die Nachkriegsentwicklung in Westdeutschland
Das „European Recovery Program" (ERP) - auch nach seinem Urheber, dem US-Außenminister Georg C. Marshall, als Marshall-Plan bezeichnet - hat die europäische und vor allem die deutsche Nachkriegsentwicklung in einem solch starken Maße beeinflusst, wie kaum ein anderes Ereignis dieser Zeit. Aber was bedeutete das Programm für die wachsenden wirtschaftlichen Probleme damals? Und was wirft er für ein Licht auf die amerikanische Nachkriegspolitik? JETZT LESEN
ARD alpha (2022): Arbeit und Mehrwert – Kommunismus
Was würde Karl Marx (1818 - 1883) tun, wenn er noch einmal auf diese Welt käme? Er würde in ein Einkaufszentrum gehen und staunen, wie sich Wirtschaft und Gesellschaft seit seiner Zeit entwickelt haben. Das wird ihn aber nicht davon abhalten, seine Theorie des Kommunismus unter die Leute zu bringen. Die Ware, die Arbeitskraft, das Tauschproblem, die Arbeitszeit und den Mehrwert: Marx findet auch in einem modernen Einkaufszentrum genügend Beispiele, die seine Theorien belegen. Denn für ihn liegt der Kommunismus nicht etwa in der Vergangenheit, sondern noch in (weiter) Zukunft. JETZT ANSEHEN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK
SPRECHERIN
Kaum zu glauben: Da stehen die beiden mächtigsten Männer der Welt – und streiten über Haushaltsgeräte. So geschehen auf einer Weltausstellung in Moskau 1959, mitten im Kalten Krieg. Der Sowjet-Chef Nikita Chruschtschow und US-Vizepräsident Richard Nixon machten einen Rundgang durch die Ausstellung und stoppten in einer amerikanischen Musterküche, die dort gezeigt wurde. Zwischen Waschmaschine und Backmischung kippte dann plötzlich die Stimmung. Chruschtschow bezeichnete die Neuerungen der Musterküche als nutzlose Spielereien und warnte vor dem Blendwerk des Kapitalismus. Nixon hingegen pries die Überlegenheit von US-Konsumgütern wie dem Farbfernseher. Als kitchen debate, Küchendebatte, ging der Schlagabtausch in die Geschichte ein, sagt der Wirtschaftshistoriker Matthias Schmelzer. Er vertritt die Professur für sozial-ökologische Transformationsforschung an der Universität Flensburg.
01 O-TON (Schmelzer)
Diese Debatte steht eben symbolisch für diesen hegemonialen Streit über unterschiedliche Wachstums- und Entwicklungsmodelle, die damals sehr virulent waren.
SPRECHERIN
Begonnen hatte dieser Streit bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Vieles war nach dem Krieg zerstört, den Menschen fehlte es praktisch an allem: Nahrungsmitteln, Kleidung, Kohlen zum Heizen. Die Situation schien aussichtslos.
MUSIK
SPRECHERIN
Abhilfe schaffen sollte ein US-amerikanisches Hilfsprogramm: Der Marshall-Plan, benannt nach dem damaligen US-Außenminister George Marshall.
02 O-TON (Groß)
Der Marshallplan war im Prinzip das Wiederaufbauprogramm der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Es erstreckte sich von 1948 bis 1952 und umfasste Hilfen im Wert von ungefähr 13 Milliarden US-Dollar, was heute einem Wert von ungefähr 135 Milliarden Dollar entspricht.
SPRECHERIN
Sagt der Umwelthistoriker Robert Groß. Er forscht am Institut für Soziale Ökologie der Universität Wien. Begleitet wurde der Marshall-Plan durch eine breit angelegte Informations-Kampagne, die der Bevölkerung den Marshall-Plan erklären sollte.
SPRECHERIN
Ein Beitrag aus der Wochenschau zeigt das deutlich. Anlass für den Bericht war der Europa-Zug, der in München startete.
03 TON (Wochenschau)
Feierliche Eröffnung des Europa-Zuges auf dem Münchner Hauptbahnhof. Als Erstes besichtigten hohe amerikanische und deutsche Politiker diese fahrende ERP-Ausstellung. Sie steht unter dem Motto: Zusammenarbeit der freien Völker.
SPRECHERIN
Am ERP, also am europäischen Wiederaufbau-Programm, nahmen allerdings nur westeuropäische Staaten teil.
MUSIK
SPRECHERIN
Die Staaten im sowjetischen Einflussbereich verzichteten auf die US-Hilfe.
ZITATOR
Wir brauchen keinen Marshall-Plan, wir kurbeln selbst die Wirtschaft an!
SPRECHERIN
Hieß es auf Plakaten in der sowjetischen Besatzungszone. Die Ablehnung hatte ihren Grund, denn der Marshall-Plan entsprang nicht der reinen Menschenliebe. Sondern war auch ein politisches Projekt. Ein Ziel war, sozialistische Ideen einzudämmen – denn die breiteten sich in Europa immer weiter aus.
04 O-TON (Groß)
Ganz konkret ging es da um die Kommunisten, die in Frankreich, in Deutschland, in Österreich und auch in Italien - also fast über ganz Westeuropa - Protestaktionen organisierten, was den Amerikanern ein Riesendorn im Auge war und auch als destabilisierender Faktor wahrgenommen wurde. Und das ist sozusagen ein ganz zentrales Motiv im Marshallplan drinnen, nämlich die Arbeits-, die Lebensbedingungen zu verbessern, mehr Menschen in die Beschäftigung zu bringen, den Menschen Einkommen zur ermöglichen, Nahrungsmittel bereitzustellen, um sie eben vor dieser Radikalisierung durch kommunistische Gruppierungen zu schützen.
SPRECHERIN
Neben solchen kurzfristigen Hilfen gab es auch längerfristige Projekte. So wurden mithilfe der Gelder aus dem Marshall-Plan Industrie und Infrastruktur in den europäischen Ländern wiederauf- und teilweise auch umgebaut. Davon sollte auch die US-Wirtschaft profitieren – jedenfalls erhoffte sich die US-Administration das. Daneben gründeten die Regierungen internationale Organisationen. Man wollte Handelsschranken wie Zölle abbauen und den Freihandel etablieren.
05 O-TON (Groß)
Es ging darum, die nationalen Industriepolitiken aufeinander abzustimmen, um so eben gute Bedingungen für das Wirtschaftswachstum in den Nachkriegsjahren herzustellen.
SPRECHERIN
Zentral dafür war die Gründung der OEEC, der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit, 1948. 16 Staaten waren Mitglied. Die USA gehörten nicht dazu, dennoch waren sie allgegenwärtig.
06 O-TON (Schmelzer)
Nicht als Mitglied dieser Organisation, aber eben als der dominante Geldgeber und auch als ein sehr entscheidender Akteur in den Politiken, die durch die OEEC eben verfolgt worden sind, die auf eine spezifische, sehr marktorientierte liberale Wirtschaftsordnung abzielten und dann eben zunehmend Wachstum als Ziel in den Vordergrund stellten.
MUSIK
SPRECHERIN
Die Idee: Eine expandierende, sprich: wachsende Wirtschaft sollte die Menschen wieder in Lohn und Brot bringen und mehr Wohlstand schaffen. Heute ist uns dieser Gedanke vertraut, historisch betrachtet war diese Idee a