Wahnsinn und Trieb
Update: 2025-09-10
Description
Schon in den ersten Zeilen, in den ersten Sätzen ist sie da: Die Stimmung, die diesen erstaunlichen Roman trägt. Der Tonfall, der in einer Mischung aus Märchenhaftigkeit und einprägsamen Bildern seine ganz eigene Welt erschafft; ein Szenario, das etwas Unheimliches entfaltet, minimal über der Wirklichkeit zu schweben scheint und trotzdem fest eingebettet ist in den historischen Kontext:
Es ist der 6. Januar 1900. Der Beginn eines von Ideologien beherrschten Jahrhunderts, das auch das Adelsgeschlecht der ungarischen Familie Lázár in den Griff nehmen und zersprengen wird. Davon, unter anderem, erzählt Nelio Biedermann über vier Generationen bis ins Jahr 1956.
Der Stammsitz der Lázárs, ein abgelegenes Schloss rund 200 Kilometer von Budapest entfernt, wird von der Weltgeschichte immer einen Tick später erfasst als die großen Zentren. Das liegt auch daran, das Baron Sándor, Lajos‘ Vater, in seinem Snobismus die Zeitungen aus der Hauptstadt kommen lässt und den Nachrichten immer einen Tag hinterherhängt. Ein kleines, sprechendes Detail, wie so viele in diesem Roman.
„Lázár“ ist ein Buch mit autobiografischem Hintergrund. Nelio Biedermann entstammt der österreich-ungarischen Adelsfamilie Biedermann von Turon. Seine Großeltern haben, wie Lajos‘ Sohn Pista und seine Frau Eva im Roman, nach dem gescheiterten Aufstand 1956 die Flucht ergriffen.
Biedermann hat für seinen Roman Zeitzeugen befragen können, wie er erzählt:
„Ich hatte das Glück, meinen Großonkel in Budapest über die Zeit, in der der Roman spielt, ausfragen zu können. Er ist selbst noch in einem Schloss aufgewachsen und hat die Enteignung am eigenen Leib miterlebt. Durch ihn konnte ich das Gefühl für diese Zeit erlangen und wusste, was die Figuren damals gegessen, wie sie sich gekleidet und gesprochen und worüber sie sich Sorgen gemacht haben.“
Diese Authentizität ist eine der großen Stärken des Romans. Die andere ist seine geschmeidige Sprache, die gesättigt ist mit Anklängen an die großen Romanciers des 20. Jahrhunderts, an Thomas Mann, an Marcel Proust oder auch an Joseph Roth, der in seinen Romanen das habsburgische Reich in aller Pracht noch einmal hat auferstehen lassen, um es dann lustvoll in den Untergang zu führen.
„Lázár“ hat nichts Anbiederndes und auch nichts Großspuriges. Biedermann ist kein Autor, der sein Können ausstellen will. Vielmehr dienen ihm die Vorbilder als produktive Elemente, um einen eigenen Stil zu entwickeln:
„Ich bewundere Proust und Thomas Mann für ihren makellosen, fließenden Ton und habe versucht, das irgendwie auch zu erreichen. Ich habe mir meine Texte, bevor ich sie abgetippt habe, - ich schreibe alles von Hand - , immer laut vorgelesen, um möglichst nahe an diesen Ton heranzukommen. Gleichzeitig war es mir aber wichtig, dass die Perspektive, aus der ich auf diese Zeit blicke, eine moderne ist. Dass also der Ton zwar klassisch sein kann, die Perspektive aber eine heutige bleibt.“
„Lázár“ ist ein Roman, der großen Spaß macht. Sauber konstruiert, den großen erzählerischen Bogen schlagend, aber im Detail voll von Szenen, die lange nachwirken. Da ist Mária, Lajos‘ unglückliche Mutter, die sich bereits früh das Leben nimmt. Da ist Sándor, das Familienoberhaupt, erstarrt in der Vergangenheit, das sich allmählich zu Tode trinkt.
Da sind vor allem aber die Zeitläufte, von denen die Familie Lázár mitgerissen wird – der Zusammenbruch der Habsburger Monarchie, der Nationalsozialismus, der Kommunismus, die Zwangsenteignung, die Demütigungen.
Mal ist man Täter, mal Opfer, oft auch beides zugleich.
Opportunismus, Dünkel, Trieb und Dekadenz ziehen sich als Leitmotive durch den Roman. Die schillerndste Figur ist Lajos‘ als verrückt geltender Onkel Imre, der im Waldschloss in einem abgeschlossenen Zimmer vor sich hinlebt.
Der Wald, die Unheimlichkeit, das Gespenstische haben Imre in sich eingesogen. Imre hat seine schauerromantischen Lektüren ernst, allzu ernst genommen und ist über die Literatur in den Wahnsinn abgeglitten:
Der wahnsinnige Imre, der nur selten auftaucht, ist im Grunde der unbestechliche und klare Beobachter des Jahrhunderts. Biedermann rückt das tobende Jahrhundert durch den Filter des vermeintlich Wahnsinnigen immer wieder dezent in ein neues Licht. Der Autor selbst sagt über Imre:
„Imre ist auch meine Lieblingsfigur, was sicher daran liegt, dass er trotz seiner Verrücktheit und seiner Sensibilität die meisten anderen Figuren überdauert und eigentlich immer das Richtige zu tun versucht und sich den Verstrickungen, in die sich die anderen Figuren begeben, entzieht und trotz seinem Wahn eine sehr starke Klarsicht erlangt.“
Ja, „Lázár“ ist ein in sich perfektes kleines Wunderwerk. Das enorm frühreife Buch eines jungen Schriftstellers, der nie eine Schreibschule besucht und stattdessen viel gelesen und viel verstanden hat.
Man wird die Uhr danach stellen können, wann die ersten Kritiken den Roman als triviale Adels-Soap-Opera abkanzeln werden. Das ist schlicht Unsinn: „Lázár“ ist eine große literarische Leistung.
Am Rand des dunklen Waldes lag noch der Schnee des verendeten Jahrhunderts, als Lajos von Lázár, das durchsichtige Kind mit den wasserblauen Augen, zum ersten Mal den Mann erblickt, den er bis über seinen Tod hinaus für seinen Vater halten wird.
Es war der Tag der drei Könige – der Wald schluckte das letzte trübblaue Licht. Das Zimmer, in dem der Junge geboren wurde, lag im Westflügel des Waldschlosses, gleich neben dem blaugestrichenen, das nie jemand betrat.Quelle: Nelio Biedermann - Lázár
Roman mit autobiografischem Hintergrund
Es ist der 6. Januar 1900. Der Beginn eines von Ideologien beherrschten Jahrhunderts, das auch das Adelsgeschlecht der ungarischen Familie Lázár in den Griff nehmen und zersprengen wird. Davon, unter anderem, erzählt Nelio Biedermann über vier Generationen bis ins Jahr 1956.
Der Stammsitz der Lázárs, ein abgelegenes Schloss rund 200 Kilometer von Budapest entfernt, wird von der Weltgeschichte immer einen Tick später erfasst als die großen Zentren. Das liegt auch daran, das Baron Sándor, Lajos‘ Vater, in seinem Snobismus die Zeitungen aus der Hauptstadt kommen lässt und den Nachrichten immer einen Tag hinterherhängt. Ein kleines, sprechendes Detail, wie so viele in diesem Roman.
„Lázár“ ist ein Buch mit autobiografischem Hintergrund. Nelio Biedermann entstammt der österreich-ungarischen Adelsfamilie Biedermann von Turon. Seine Großeltern haben, wie Lajos‘ Sohn Pista und seine Frau Eva im Roman, nach dem gescheiterten Aufstand 1956 die Flucht ergriffen.
Biedermann hat für seinen Roman Zeitzeugen befragen können, wie er erzählt:
„Ich hatte das Glück, meinen Großonkel in Budapest über die Zeit, in der der Roman spielt, ausfragen zu können. Er ist selbst noch in einem Schloss aufgewachsen und hat die Enteignung am eigenen Leib miterlebt. Durch ihn konnte ich das Gefühl für diese Zeit erlangen und wusste, was die Figuren damals gegessen, wie sie sich gekleidet und gesprochen und worüber sie sich Sorgen gemacht haben.“
Anklängen an die großen Romanciers des 20. Jahrhunderts
Diese Authentizität ist eine der großen Stärken des Romans. Die andere ist seine geschmeidige Sprache, die gesättigt ist mit Anklängen an die großen Romanciers des 20. Jahrhunderts, an Thomas Mann, an Marcel Proust oder auch an Joseph Roth, der in seinen Romanen das habsburgische Reich in aller Pracht noch einmal hat auferstehen lassen, um es dann lustvoll in den Untergang zu führen.
„Lázár“ hat nichts Anbiederndes und auch nichts Großspuriges. Biedermann ist kein Autor, der sein Können ausstellen will. Vielmehr dienen ihm die Vorbilder als produktive Elemente, um einen eigenen Stil zu entwickeln:
„Ich bewundere Proust und Thomas Mann für ihren makellosen, fließenden Ton und habe versucht, das irgendwie auch zu erreichen. Ich habe mir meine Texte, bevor ich sie abgetippt habe, - ich schreibe alles von Hand - , immer laut vorgelesen, um möglichst nahe an diesen Ton heranzukommen. Gleichzeitig war es mir aber wichtig, dass die Perspektive, aus der ich auf diese Zeit blicke, eine moderne ist. Dass also der Ton zwar klassisch sein kann, die Perspektive aber eine heutige bleibt.“
Ein Roman, der Spaß macht
„Lázár“ ist ein Roman, der großen Spaß macht. Sauber konstruiert, den großen erzählerischen Bogen schlagend, aber im Detail voll von Szenen, die lange nachwirken. Da ist Mária, Lajos‘ unglückliche Mutter, die sich bereits früh das Leben nimmt. Da ist Sándor, das Familienoberhaupt, erstarrt in der Vergangenheit, das sich allmählich zu Tode trinkt.
Da sind vor allem aber die Zeitläufte, von denen die Familie Lázár mitgerissen wird – der Zusammenbruch der Habsburger Monarchie, der Nationalsozialismus, der Kommunismus, die Zwangsenteignung, die Demütigungen.
Mal ist man Täter, mal Opfer, oft auch beides zugleich.
Imre: die Lieblingsfigur des Autors
Opportunismus, Dünkel, Trieb und Dekadenz ziehen sich als Leitmotive durch den Roman. Die schillerndste Figur ist Lajos‘ als verrückt geltender Onkel Imre, der im Waldschloss in einem abgeschlossenen Zimmer vor sich hinlebt.
Der Wald, die Unheimlichkeit, das Gespenstische haben Imre in sich eingesogen. Imre hat seine schauerromantischen Lektüren ernst, allzu ernst genommen und ist über die Literatur in den Wahnsinn abgeglitten:
Das erste Nachtstück war eine Erzählung, die den Titel Der Sandmann trug. Imre las sie im Schein der Lampe, die auf dem Tischchen neben seinem Bett stand, in einem Zug durch. Als er das Buch neben die Lampe legte, fiel ihm auf, dass seine Hand zitterte, dann, dass auch sein Arm sich unruhig hin und her bewegte, und schließlich, dass sein ganzer Körper bebte. Den Blick auf den schwarzen Einband des Buchs geheftet, wartete er darauf, dass der Anfall verebbte.Quelle: Nelio Biedermann - Lázár
Klarsicht trotz Wahnsinn
Der wahnsinnige Imre, der nur selten auftaucht, ist im Grunde der unbestechliche und klare Beobachter des Jahrhunderts. Biedermann rückt das tobende Jahrhundert durch den Filter des vermeintlich Wahnsinnigen immer wieder dezent in ein neues Licht. Der Autor selbst sagt über Imre:
„Imre ist auch meine Lieblingsfigur, was sicher daran liegt, dass er trotz seiner Verrücktheit und seiner Sensibilität die meisten anderen Figuren überdauert und eigentlich immer das Richtige zu tun versucht und sich den Verstrickungen, in die sich die anderen Figuren begeben, entzieht und trotz seinem Wahn eine sehr starke Klarsicht erlangt.“
„Lázár“ ist eine große literarische Leistung
Ja, „Lázár“ ist ein in sich perfektes kleines Wunderwerk. Das enorm frühreife Buch eines jungen Schriftstellers, der nie eine Schreibschule besucht und stattdessen viel gelesen und viel verstanden hat.
Man wird die Uhr danach stellen können, wann die ersten Kritiken den Roman als triviale Adels-Soap-Opera abkanzeln werden. Das ist schlicht Unsinn: „Lázár“ ist eine große literarische Leistung.
Comments
In Channel