Erkenntnisreich und voller Überraschungen – Der Band „Rilke zeichnet“
Update: 2025-09-12
Description
Mäuse, Häuser und Soldaten – die frühen Kinderzeichnungen Rilkes
Das ist die erste Überraschung: gleich auf mehreren Tischen ausgebreitet, liegen etliche Kinderzeichnungen Rilkes. Ein Bild zeigt eine Maus auf hohen Stelzenbeinen, ein Haus im Hintergrund und an der Seite eine Art Brunnen. Darunter ein Kommentar, den Rilkes Mutter, Phia Rilke, vermerkt hat und den die Literaturwissenschaftlerin und Mitautorin Gunilla Eschenbach vom Deutschen Literaturarchiv Marbach so entziffert:
„Also hier schreibt die Mutter selbst: 'gezeichnet von meinem theuersten Renetschi mit 4Jahren – 1879.`Und sie schreibt sogar noch `Dezember', um zu betonen, dass er da knapp gerade erst vier Jahre alt geworden war und schon zeichnen konnte.“
Eine freundliche Kindergärtnerin hilft mit
Für vier Jahre – ein Alter, in dem Kinder in der Regel erst an Kopffüßlern herumkrakeln - eine höchst bemerkenswerte Leistung. Noch erstaunlicher eine Zeichnung, die ein halbes Jahr später entstanden ist: Sie zeigt einen marschierenden Tambourmajor von der Seite mit einem Stab in der Hand.
Der hohe Hut, die Knöpfe der Uniform, die Haare – alles sehr detailliert gezeichnet. Daneben – auffällig anders – ein eher gekritzelter Baum.
„Das ist jetzt auch eine Neuentdeckung von uns. Dank der Erinnerungen der Mutter, dass Rilke eine Kindergärtnerin hatte. Das schreibt die Mutter tatsächlich. Der Name Kindergärtnerin fällt. Also eine lustige Kindergärtnerin ist gekommen mehrfach die Woche und hat sich mit Rilke beschäftigt, hat offenbar – das vermuten wir stark – mit ihm zusammen gezeichnet.
Denn in all diesen Zeichnungen aus der frühen Kindheit sieht man, da wird von mehreren Seiten bemalt. Rilke malt irgendeine Form vor, jemand anders macht aus dieser Form etwas. Nämlich hier eine Figur. Oder Rilke will Pferde zeichnen, das scheint ihn früh interessiert zu haben. Und eine Person leitet an und malt den Kopf und Rudimente des Körpers zur Vervollständigung durch das Kind.“
Die Überlieferung der Bilder war nicht vorgesehen
Dass diese frühen Kinderzeichnungen überhaupt erhalten sind, ist der Familie, vor allem seiner Mutter Phia zu verdanken, die damit indirekt auch ihren Anteil an der frühkindlichen, künstlerischen Förderung des Sohnes dokumentiert wissen wollte.
Die Überlieferung des gesamten Bildmaterials ist alles andere als selbstverständlich, betont denn auch Sandra Richter, Leiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, die ebenfalls an dem Band „Rilke zeichnet“ mitgearbeitet hat:
„Eigentlich war das nicht vorgesehen. Rilke ging davon aus, dass seine Zeichnungen verloren sein sollten. Er wollte ausschließlich in der Erinnerung von einzelnen Persönlichkeiten – Freunden, Bekannten – erhalten sein. Auch optisch. Aber von Bildern war eigentlich gar keine Rede.“
Ein Wortkünstler mit Talent zum Zeichnen
Auch Rilkes Verleger Anton Kippenberg interessierte sich ausschließlich für den Wortkünstler. Der Zeichner Rilke taucht in den im Insel Verlag ab 1955 veröffentlichten Werken nicht auf. Für das „Unfertige, das Misslungene, das Private“ und damit eben auch für die Bilder war kein Platz, heißt es in dem Band „Rilke zeichnet“, der diese eher unbekannte Seite Rilkes in seiner ganzen Vielfalt erstmals öffentlich macht.
Und das ist eine weitere Überraschung: Der junge Rilke war ein durchaus talentierter Zeichner wie ein Selbstporträt zeigt, das er mit 12 Jahren angefertigt hat.
„...das wirklich beeindruckend aussieht. Zum einen sind die Umrisse des eigenen Gesichts ganz klar gezeichnet. Womöglich sogar etwas ästhetisiert – man sehe nur die sehr hohe Stirn. Klar konturiert. Wunderschön der entstehende Bart gezeichnet. Schon mit 12 – ganz beeindruckend. Die Schattierung ist nahezu professionell mit Strichen, die nicht mehr einfach so schraffiert wirken, sondern ganz klar gesetzt. Die Haare sind bloß angedeutet, die Augenbrauen stark.
Also das ist eigentlich ein junger Mann, der eher 18 Jahre alt ist vielleicht. Ein junger Mann, der imponiert und ganz gewiss kein Jugendlicher mehr. Und ein Mann, von dem die Frauen vielleicht nicht gesagt hätten, wie sie es reihenweise getan haben: er war hässlich. Sondern im Gegenteil: René Rilke war ein junger Beau.“
Rilke als Beobachter
Mag Rilke an dieser Stelle seiner Wunschvorstellung etwas nachgeholfen haben, so zeigt er sich an anderer Stelle als penibler Beobachter seiner Umgebung. Er zeichnet Soldaten seiner Heimatstadt Prag, Militärkapellen, die Menschen in der Oper.
Daneben eine ganze Reihe mit Rittern und Drachen, schließlich eine Serie bunter Aquarellbilder: Husaren im Feld, in der Schlacht, mit Pferd, den sterbenden Husaren. Dass die asiatische Kunstwelt im Europa des 19. Jahrhunderts angekommen ist, spiegelt sich in einigen Aquarellen Rilkes wider.
Eines zeigt eine Geisha - in Goldfarbe mit nur wenigen gekonnten Pinselstrichen auf einen Briefumschlag gebannt. Rilke malt auf allem, was sich bemalen lässt. Auf einem Stück Holz oder auch auf den Deckel einer Tabakschachtel. Und mit Blick auf mehrere Landschaftsporträts, meint Sandra Richter:
„Wenn wir diese anschauen, dann sehen wir, dass er keinen eigenen Stil entwickeln wollte im Malen – weder im Aquarellieren noch im Zeichnen - , sondern dass er vielmehr nachgeahmt hat und dass es schön sein sollte im ganz klassischen, einfachen Sinne. Und das hieß eben: Palais malen, das Wasser blau, der Himmel blau.
Also nichts Kritisches oder Dergleichen, sondern im Gegenteil die Affirmation, die Bestätigung dessen, was er vorzufinden hoffte. Und das zieht sich durch viele seiner Zeichnungen hindurch, dass er eben offenbar sah, dass das nichts Neues ist, nichts Eigens ist, was er da macht, sondern etwas, was auch ihm zum Ausdruck verhilft. Aber eben nur unter anderem.“
Auch Rilke konnte Comics
Kein eigener Stil, doch der junge Rilke entwickelt eine bemerkenswerte Kunstfertigkeit. Besonders erstaunlich und sehr unterhaltsam: seine pointierten Karikaturen von der feinen Gesellschaft bis zum Hausierer. Und noch eine Überraschung: Rilke konnte auch Comics.
In einer kleinen, sehr humorvollen Bildgeschichte des Dichters muss ein ergrauter Herr feststellen, dass sich nur noch Damen im fortgeschrittenen Schwiegermutteralter für sein Werben interessieren. Rilke, der Dichter hoher Töne, konnte als Zeichner ganz schön hemdsärmelig sein. Gunilla Eschenbach erzählt:
„Man sieht hier einen also tatsächlich etwas älteren Herrn, der sich für eine Landpartie mit Stock und Botanisiertrommel ausgestattet hat. Und hier muss sich jetzt eine Gedankenblase wie in einem Comic denken, denn die Bildunterschrift lautet: Da man mir nur die Schals und Mantels derer zu tragen gibt, die schon Schwiegermütter, kann ich schon auf Eroberungen verzichten.
Und hier reicht ihm eine ganz bärbeißige und mindestens ebenso alte Dame mit Warze und Dutt und Korpulenz die Hand, um von ihm galant durch die Berge geleitet zu werden. Und wiederum sieht man hier in seinem Kopf: Die muss gerade die einzige sein Punkt Punkt Punkt Punkt , die er jetzt noch abkriegt.“
Ein rundum gelungener Hingucker
„Rilke zeichnet“ – der aufwendig gestaltete Band ist in jeder Beziehung ein grandioser Hingucker. Im Mittelpunkt stehen natürlich die über 150 dokumentierten Bilder Rilkes. Doch die Autorinnen – neben Gunilla Eschenbach und Sandra Richter ist auch unbedingt Mirko Nottscheid ebenfalls vom Deutschen Literaturarchiv Marbach zu nennen - sie leisten viel mehr.
Es gibt eine sorgfältige biografische Einordnung, die durch ergänzende Fotos, Briefe und Zitate abgerundet wird. Die Beziehung zwischen Zeichenkunst und Lyrik beleuchtet ein besonders ausführliches Kapitel über Rilkes Dinggedichte. Sein Verhältnis zur Malerei verändert sich im Laufe der Jahre, bekommt eine andere Bedeutung und dient mehr dazu, sich an bestimmte Eindrücke und Dinge zu erinnern.
So hält er in seinen Notizbüchern fest, was später Eingang in seine Lyrik findet: Im Pariser Atelier Rodins skizziert er in schnellen Strichen eine Panter-Skulptur des Bildhauers, im Jardin des Plantes studiert er den Flamingo und er notiert Kostüme, die er auf einem Gemälde sieht und die später für seinen Roman „Malte Laurids Brigge“ eine Rolle spielen.
Rilke konnte zeichnen, aber er hat zugleich erkannt, dass andere es besser konnten, meint Sandra Richter und stellt zugleich fest:
„Wenn man nun die Funde ernst nimmt, die wir hier sehen anhand dieses Notizbuches, muss man sagen zu den Neuen Gedichten ganz speziell, aber auch zu anderen Texten gehören diese Zeichnungen integral. Sie sind Teil des Werkprozesses, Teil des Schreibens. Und inwiefern sie genau das sind, das ist erst noch zu vermessen und zu überlegen. Welche Rolle spielen diese Zeichnungen gerade für einen Autor wie Rilke, der nicht umsonst immer wieder diesen einen Satz schreibt: ich lerne sehen.“
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