Flechten, Meister der Extreme
Description
Flechten sind faszinierende Mischwesen aus Pilz und Alge. Die etwa 18.000 Arten können bis zu 1.500 Jahre den schwierigsten Lebensbedingungen trotzen, doch auf die menschengemachte Luftverschmutzung reagieren sie sehr empfindlich. Viele Flechten produzieren wirksame Inhaltsstoffe, die auch für die Medizin interessant sind. Bernhard Kastner im Gespräch mit dem Biologen Thassilo Franke.
Credits
Autor dieser Folge: Bernhard Kastner
Es sprachen: Bernhard Kastner im Gespräch mit Dr. Thassilo Franke
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Dr. Thassilo Franke, Biologe am BIOTOPIA Lab in München
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Thassilo Franke:
Flechten sind wahre Fundgruben für neue Arzneimittel.
Thassilo Franke:
Einerseits kommen Flechten mit den widrigsten Umweltbedingungen zurecht, andererseits zählen sie zu den Lebewesen, die am empfindlichsten auf Luftverschmutzung reagieren.
Thassilo Franke:
Flechten sind Lebensgemeinschaften aus Pilzen und Algen.
Bernhard Kastner:
Alles Natur
Thassilo Franke:
Flechten - Meister Extreme
Musik hoch
Bernhard Kastner:
Der Biologe Thassilo Franke vom BIOTOPIA LAB in München und ich, wir sind hier auf einem Feldweg bei Oberschleißheim in der Nähe von München. Wir stehen an einem Gebüsch-Hein, überall um uns herum sind Felder, Wiesen und Äcker. Und hier, in diesen Büschen an den Ästen, da sind wir auf der Suche nach den heutigen Protagonisten unseres Gesprächs.
Thassilo Franke:
Wir befinden uns hier an einem Feld-Hein und die ganzen Gehölze, die wir hier zu unserer Rechten sehen, die haben vollkommen gelb überkrustete Zweige und diese gelbe Kruste, das ist genau das, worum es in unserem heutigen Beitrag geht. Das sind nämlich Flechten.
Bernhard Kastner:
Also wenn ich die mir jetzt so anschaue, die haben so eine ganz satte curry-gelbe Farbe, die sind wie so Inseln, die sich um die Äste oder um die kleinen Stämme wickeln. Schaut ein bisschen trocken, schuppig aus …
Thassilo Franke:
Ja, genau, und was man hier sieht und auch auf den ganzen Sträuchern hier in der Umgebung, was hier alles so gelb einkrustet, das ist die Gemeine Gelbflechte. Und sie gehört zu einer riesigen Verwandtschaft von Lebewesen, von denen man bisher ungefähr 18.000 Arten kennt und die auf der ganzen Welt verbreitet sind, die schon seit über einer halben Milliarde Jahre auf unserer Erde zu Hause sind. Und es gibt ganz winzige Flechtenarten, die im Inneren vom Gestein leben, die auf der Oberfläche von Blättern leben. Und auf der anderen Seite gibt es auch Riesen-Flechten, die wie Girlanden meterlang von den Bäumen herunterhängen. Und überhaupt ist diese Gruppe dafür bekannt, dass sie die Meister der Extreme sind. Also sie kommen wirklich in den Kältewüsten der Antarktis vor, sie kommen auf entlegenen atlantischen, ozeanischen Inseln vor, wo es sonst kaum andere Lebewesen gibt. Sie kommen in Hochgebirgen vor bis über 7.000 Meter, und man findet sie auch in den Tieflagen des Amazonas-Regenwaldes.
Bernhard Kastner: 2.25
Sie haben jetzt gerade gesagt ‚eine Gruppe von Lebewesen‘, wir wollen es natürlich genauer wissen: welche Gruppe? Sind es Pflanzen, sind es Pilze, sind es Tiere, sind es Moose?
Thassilo Franke:
Flechten sind keine Moose, also das können wir schon mal ausschließen. Was die anderen Gruppen, die Sie erwähnt haben, betrifft, nämlich die Pilze und die Algen, da wird die Sache schon komplizierter. Also, wenn wir die Flechten jetzt rein taxonomisch betrachten, dann würde ich sie folgendermaßen definieren: wir haben es hier mit Pilzen zu tun, und zwar genau genommen mit ‚Schlauchpilzen‘, die mit Algen in einer Lebensgemeinschaft leben. Und wenn man aber das Ganze ökologisch sieht, weil nämlich diese Lebensgemeinschaft von wirklich essenzieller Bedeutung ist, da kann man dann von ‚Mischwesen‘ sprechen oder von ‚Doppellebewesen‘, weil nämlich das zwei Partner sind, die auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind und auch ganz neue Formen hervorgebracht haben, die es ohne diese Lebensgemeinschaft so gar nicht gegeben hätte.
Bernhard Kastner: 3.22
Ich schaue mir jetzt aber gerade diese gelben Flechten hier in den Ästen an: Wo genau ist der Pilz? Und wo ist die Alge? Algen sind grün. Ich sehe hier nur eine gelbe Oberschicht. Wo ist Pilz und Alge?
Thassilo Franke: 3.04
Das, was Sie auf den ersten Blick sehen, ist immer der Pilz. Und der Pilz trägt eigentlich auch den Namen, der für die ganze Flechte gebräuchlich ist. In dem Fall ist es die Gemeine Gelbflechte. Und da ist der Name des Pilzes oder der wissenschaftliche Name der Flechte Xanthoria Parietina. Und diese Flechte beherbergt in ihrem Inneren Algen und diese Algen, das sind winzig kleine, kugelförmige, mikroskopisch kleine Grünalgen, Und man sieht von den eigenen natürlich erst mal auf den ersten Blick nichts, weil die sind, wie gesagt, mikroskopisch klein im Inneren der Flechte. Aber wenn man mal schaut, also, wenn Sie sehen, ich habe hier am Boden so einen nassen Ast gefunden. Wenn man ihn danebenhält, dann ist er doch ganz grün?!
Bernhard Kastner:
Ja total – und zwar giftgrün… also richtig grün!
Thassilo Franke: 3.04
Und das liegt einfach nur daran, dass hier die ganzen Hohlräume in der Flechte von Feuchtigkeit vollgesogen sind und auf die Art und Weise dieses pilzliche Fadengeflecht durchsichtig erscheint. Und dadurch sieht man eben, dass da was Grünes drin ist, und das Grüne sind die Algen.
Bernhard Kastner:
Also kann ich mir das so vorstellen, dass der Pilz die Hülle, den Deckel und die Umrandung, von der Alge bildet?!
Thassilo Franke:
Das Gehäuse dieser Alge! Also die Algen wohnen im Inneren dieser Flechte. Und das ist eigentlich auch das, was diese diesen Flechten-Pilz für die Alge so wertvoll macht, weil er ihr praktisch Logis bietet. Das heißt, die Alge haust im Inneren der Flechte. Und dann fragt man sich natürlich, woher kommt die Kost, wenn die Logis vom Flechten-Pilz für die Alge kommt, die Kost für beide? Die liefert die Alge, weil die Alge ist imstande, Photosynthese zu betreiben, Zucker zu produzieren. Einen Teil des Zuckers, den behält sie für sich selbst und einen weiteren Teil des Zuckers kann sie an ihren Vermieter praktisch, an den Pilz abgeben. Und dadurch ist es eben eine hervorragende Lebensgemeinschaft.
Bernhard Kastner: 5.26
Also der Pilz profitiert, weil er sich die Nährstoffe von der Alge zieht. Die Alge ernährt den Pilz. Aber was hat die Alge davon?
Thassilo Franke:
Die Alge profitiert in vielerlei Hinsicht davon. Auf der einen Seite ist natürlich dieses Pilzliche, man spricht da von einem Myzel, von Farben-Geflecht oder bei den Flechten, weil das so kompakt ist, nennt man dieses pilzliche, ganz dichte Fadengeflecht auch ‚Lager‘, also dieses Pilzlager ist wie eine schützende Hülle. Das heißt, es schirmt die Algen in ihrem Inneren vor UV-Strahlung ab, vor extremen Temperaturunterschieden, auch vor Fressfeinden und Krankheitserregern.
Bernhard Kastner:
Und dieses System, das Sie so beschrieben haben, also, dass der Pilz die Hülle bildet, dass der Pilz die Alge schützt, umhüllt … diese Symbiose der beiden, dieses wechselseitige Geben und Nehmen, das betrifft nicht nur diese flachen Flechten, sondern alle Flechten? Es gibt ja wohl mehrere Arten von Flechten. Ich kann mich erinnern, wenn wir beim Bergwandern früher waren oder auch beim Skifahren, da sieht man ja diese Flechten, die so ganz wie so lange graue Haare von den Bäumen hängen. Ist da das gleiche System, dass eine Hülle der Pilz und innen eine Alge ist?
Thassilo Franke: 6.35
Ja genau! Was Sie da ansprechen, was Sie da beim Skifahren beobachtet haben, das sind sogenannte ‚Bartflechten‘. Die heißen auch auf Englisch ‚Methusalems Bart‘, also die hängen wie Bärte von den Ästen runter. Und der Grund, warum sie so wachsen, ist, dass sie eine Oberflächenvergrößerung haben, auf der einen Seite und dann eben auch als Nebelkämmer. Sie kommen also in sehr feuchten Tälern vor normalerweise diese Bartflechten, als Nebelkämmer, den Nebel, deren diesen Tälern aufsteigt, regelrecht auskämmen können und auf die Art und Weise das gesamte System mit Feuchtigkeit versorgen können. Also das sind Bartflechten, die gehören mit den Strauchflechten in eine Gruppe. Es gibt aber auch noch andere Formen, Sie haben die beim Skif