Coolness war gestern - Der Charme der Unsicherheit
Description
Schüchterne, Verzagte, Zweifler: Sie alle sind nicht besonders angesehen in einer Welt, in der oft nur der Lauteste gehört wird. Doch in der Unsicherheit liegt eine unterschätzte Qualität, wie etwa Einfühlsamkeit und Verständnis. Von Karin Lamsfuß
Credits:
Autorin: Karin Lamsfuß
Es sprachen: Berenike Beschle, Thomas Birnstiel
Technik: Daniela Röder
Regie: Irene Schuck
Redaktion: Bernhard Kastner
Interviews:
- Prof. Borwin Bandelow, Neurologe und Psychiater; Prof. Wolfgang Fiegenbaum
- Psychologe und Angstexperte;
- Dr. Herbert Mück, Facharzt für psychosomatische Medizin;
- Anne Otto, Psychologin;
- Lars, Tanja und Janine schildern ihre Ängste
Linktipps:
Wie wir ticken – Euer Psychologie Podcast
Jeder Mensch 'tickt' anders - doch warum? Psychologie hilft, unsere Wahrnehmung zu schärfen und sich und andere besser zu verstehen. Ihr wollt erfahren, weshalb Dankbarkeit befreiend wirken kann, Neid uns einengt, was unsere Partnerwahl über uns aussagt, und wieso wir dazu neigen, unangenehme Dinge aufzuschieben? Das und viel mehr beantwortet unser Psychologie Podcast "Wie wir ticken" vom BR und SWR jede Woche mit einer neuen Folge. Immer mittwochs in der ARD Audiothek und am Freitag auf allen anderen Plattformen. Ihr habt Fragen, Anmerkungen oder Themenwünsche? Schreibt uns gerne eine Nachricht über wiewirticken@ard.de!
Links:
Deutsche Angsthilfe – Portal für Selbsthilfe
https://www.angstselbsthilfe.de/
Gesellschaft für Angstforschung
https://www.angstforschung.org/
Literatur:
· Anne Otto: Die Kraft der Unsicherheit, Beltz, 2024
· Borwin Bandelow Das Buch für Schüchterne: Wege aus der Selbstblockade, Rororo, 2008
· Achim Peters: Unsicherheit – das Gefühl unserer Zeit, Bertelsmann, 2018
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 Zsp. Unsicherheit Tanja:
Ich hab mich früher als Jugendliche nie getraut, jemanden anzusprechen und um Hilfe zu fragen…
02 Zsp. Unsicherheit Anne Otto:
Also so dieser Satz „Was denken wohl die anderen?“ Oder „Mögen die mich?“
03 Zsp. Unsicherheit Tanja:
Das sind so Gespenster in meinem Kopf und innere Richter, eine innere Jury, die mich benotet, obwohl das ja gar nicht so ist!
04 Zsp. Unsicherheit Anne Otto:
Man ist immer in der Bewertung, in der Selbstbewertung, in der Abwertung…
05 Zsp. Unsicherheit Borwin Bandelow:
Weil ja auch jeder Mensch – und das gehört ja auch zum Menschen dazu – eine kleine soziale Angst hat.
Sprecher:
Die kleine soziale Angst. Die nagende Unsicherheit.
Sprecherin:
Hilfe! Ich kenne niemanden auf der Party!
Mögen mich die anderen?
Nicht, dass irgendwer merkt, dass ich bei vielem gar nicht mitreden kann!
Oh Gott, die lachen sich bestimmt tot, sobald ich den Mund aufmache!
Und überhaupt: mein Outfit! Wetten, dass mich mal wieder alle anstarren?
06 Zsp. Unsicherheit Borwin Bandelow:
Es gibt zwei Seelen in der Brust: Die eine sagt „Du siehst völlig normal aus, keiner muss sich über dich lustig machen und du kannst gut reden, es gibt gar keinen Grund, sich zu verstecken; auf der anderen Seite gibt’s dann so eine Stelle im Gehirn, die genau das Gegenteil erzählt: „Wenn du nur den Mund aufmachst, kommt Müll raus und alle finden dich hässlich!“
Sprecher:
Prof. Borwin Bandelow, Psychiater und Neurologe und Experte für Angststörungen.
07 Zsp. Unsicherheit Borwin Bandelow:
Und diese beiden streiten im Gehirn und meistens gewinnt bei den Schüchternen dieses Gebiet im Gehirn, das ich nenne „Das Ministerium für absurde Angst“, das will einem die absurde Angst einreden, dass man sich vor anderen verstecken muss, und dass die einen immer nur negativ beurteilen und kritisch ansehen.
Musik 2
"Will's Story II" Album: Free the Mind (Original Soundtrack) - Komponist: Jóhann Jóhannsson - Länge: 0'5
Sprecher: Stellen Sie sich folgende Szene vor:
Musik 3
"La Nuit" - Künstler: Anouar Brahem, Dave Holland, Jack DeJohnette & Django Bates - Komponist: Anouar Brahem - Album: Blue Maqams - Länge: 1'00
Sprecherin:
An einem lauen Freitagabend sitzen zehn Freunde und Bekannte um einen alten Holztisch in einem kleinen Garten in der Stadt. Eine Mischung aus Berufstätigen, Kreativen, Sinnsuchenden. Sie trinken Wein, essen Oliven, Brot, Käse. Die Stimmung ist wie so oft: witzig, ein bisschen laut, locker. Alle sind „cool“ auf ihre Weise – ironisch, reflektiert, einfach lässig. Aber irgendetwas ist anders an diesem Abend. Paul sitzt eher still da an diesem Abend und schaut in die Runde. Irgendwann legt er das Messer hin und sagt: „Ich hab irgendwie keine Lust mehr, so zu tun, als ob alles immer okay ist. Ich fühl mich oft wie ein kompletter Versager. Als ob ich nicht genug bin – nicht kreativ genug, nicht erfolgreich genug, nicht mal interessant genug. Und manchmal hab ich so eine Scham in mir. Eine Angst, dass mich irgendwann alle durchschauen.“
Stille.
Sprecher:
Das Angst-Outing. Nur eine fiktive Szene.
Doch die kleine soziale Angst gehört zum Menschsein einfach dazu, so Borwin Bandelow. Mal zeigt sie sich offen: durch Schüchternheit, Stottern, Erröten, schwitzige Hände. Mal kommt sie im Tarnanzug daher: als Arroganz, Coolness, als allzu forsches Auftreten.
Unter jeder Unsicherheit liegen kleinere oder größere Ängste: die Angst zu versagen, abgelehnt zu werden, den eigenen Ansprüchen nicht zu genügen, die Angst zu scheitern, die Angst, eine schlechte Figur zu machen… die Liste ist lang.
08 Zsp. Unsicherheit Tanja:
Mein Lieblingsfach in der Schule war Französisch, allerdings hab ich mich sehr schwer damit getan, französisch zu sprechen. Weil ich immer dachte, ich werde beurteilt bzw. verurteilt, und ich brauchte tatsächlich drei Urlaube, um mich zu trauen, frei Schnauze zu reden, egal, wie sich das anhört, weil ich trotzdem immer noch im Kopf Lehrer sitzen hatte, die mich dafür schlecht bewerten könnten, und ich hab mich nicht getraut, weil ich gedacht habe, ich werde ausgelacht, und als ich dann festgestellt habe, dass das Gegenteil der Fall war, hat es mir sogar richtig Spaß gemacht!
Sprecher:
Evolutionsbiologisch, so Borwin Bandelow, macht soziale Angst durchaus Sinn.
09 Zsp. Unsicherheit Borwin Bandelow:
Wenn wir das nicht hätten, dann könnten wir als Menschen ja gar nicht miteinander leben, dann würden wir uns ja gegenseitig noch mehr die Köppe einschlagen und würden uns nicht respektieren, Menschen sind soziale Wesen, so dass soziale Angst von Vornerein erst mal nicht krankhaft ist, sondern dem Überleben der Menschheit dient!
Musik 4
"La Nuit" - Künstler: Anouar Brahem, Dave Holland, Jack DeJohnette & Django Bates - Komponist: Anouar Brahem - Album: Blue Maqams - Länge: 0'30
Sprecherin:
Niemand lacht nach Pauls mutigem Geständnis beim gemeinsamen Abendessen. Keine klugen Kommentare. Dann fasst sich Alina ein Herz. „„Ich… kenn das. Ich hab panische Angst, verlassen zu werden. Deshalb bleibe ich oft in Beziehungen, die mir gar nicht guttun. Und dann tu ich so, als wär das alles ganz frei und modern. Ist es aber nicht.“
Sprecher:
Die Psychologin Anne Otto hat sich mit dem Thema Angst und Unsicherheit auseinandergesetzt. „Die Kraft der Unsicherheit“ heißt ihr Buch. Ihre zentrale These: Werden die Ängste übermächtig, ist es sinnvoll, sich Hilfe zu suchen. Doch mit den kleinen, alltäglichen Ängsten könne man sich sogar anfreunden:
10 Zsp. Unsicherheit Anne Otto:
Wie kann ich es denn schaffen, so eine Unsicherheit anzunehmen? Wie kann ich das denn schaffen, die mitzunehmen in all die Situationen, die mir vielleicht ein bisschen unangenehm sind?
Sprecher:
Die Psychologin begann zu recherchieren. Zwei Prozent der Menschen leiden unter schweren sozialen Phobien, aber ganze 40 Prozent bezeichnen sich als schüchtern und gehemmt. Das ist fast jeder Zweite! Situativ unsicher sind noch viel mehr. Sie machte sich auf die Suche: Was macht Menschen unsicher?
11 Zsp. Unsicherheit Anne Otto:
Dann merkt man: Wenn es ums freie Reden geht oder auf der Geburtstagsfeier der Freundin was zu sagen, ein paar Worte, dass das dann so Momente sind, wo schon 80 oder 90 Prozent der Leute sagen: Ich vermeide das!
Sprecher:
Anne Otto wünscht sich mehr Wertschätzung eines Zustandes, der absolut normal und alltäglich ist. Aber meistens totgeschwiegen wird.
12 Zsp. Unsicherheit Anne Otto:
Man sagt auf jeden Fall, dass diese sozialen Medien, der ewige Vergleich, also so ne Ranking-Gesellschaft, auch eine Gesellschaft mit Optimierungs-Versprechen, dass die dazu einladen, seine eigenen Ansprüche unheimlich hochzustellen, sich dauernd mit anderen zu vergleichen, und das ist ein hoher Druck, man ist